III. Chicano / Chicana-Literatur in den USA
Da die vorliegende Arbeit sich mit einer Autobiographie beschäftigt, die nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrem Inhalt viele Besonderheiten aufweist, halte ich es an dieser Stelle für notwendig, auf die Gattung der modernen Chicano/-a Literatur einzugehen.
Mit dem Begriff ‚Chicana-Literatur‘ wird „die Literatur von Frauen mexikanischer Abstammung, die inzwischen in der ersten, zweiten oder dritten Generation in den USA leben und als Chicanas bzw. Mexikoamerikanerinnen bezeichnet werden“, beschrieben (Ikas 1). Chicana Autorinnen „examine their situation within both the marriage and other social and economic circumstances. In so doing, they express an awareness of the need to change the roles of women in contemporary society” (Lomelí 104). Also kann die Chicana Literatur trotz aller Fiktion als sozialkritische Dokumentation der sogenannten Chicana-Erfahrung betrachtet werden, welche sich „in den USA [sic] von der indianischen Vergangenheit über spanische Kolonialzeit und angloamerikanische Eroberung bis hin zu den legalen und illegalen Einwanderungsströmen in diesem Jahrhundert[7]“ erstreckt. Nur wenige Chicanos können ihre Wurzeln auf eine Zeit zurückverfolgen, die vor der Eroberung der Angloamerikaner liegt; dennoch haben sie alle „ein kollektives Selbstbild […], in dem die Südweststaaten der USA einst Teil ihrer Heimat Mexiko waren und in dem ihr Mestizentum sie unmittelbar mit den ersten Bewohnern des Landes verbindet“ (Tonn 21).
Dabei stellt sich immer wieder die Frage, wie mit der Chicana-Literatur umgegangen werden sollte. So möchte ich im Folgenden einige kulturtheoretische Modelle darstellen, mit deren Hilfe man diesen Teil des US-amerikanischen Kanons betrachten könnte.
1. Interkulturalität als Aspekt zum Umgang mit Chicana-Literatur
Was ist eigentlich unter dem Begriff ‚Interkulturalität‘ zu verstehen? Schlägt man diesen Begriff im Wörterbuch nach, so findet man lediglich das Wort ‚interkulturell‘. Diese unzulängliche lexikographische Behandlung des Wortes schlägt sich bis heute auch in der Literaturkritik nieder. Sowohl „die grundsätzliche Frage, wie der Terminus ‚Interkulturalität‘ an sich zu verstehen ist, als auch wie dieses Phänomen letztlich wiederum in literarischen Texten herausgearbeitet werden kann“, ist bisher nicht umfassend wissenschaftlich reflektiert worden. Trotz aller Bemühungen gibt es bis heute verhältnismäßig wenige Studien, die sich explizit mit dem Begriff der ‚Interkulturalität‘ auseinandersetzen. So fehlt ein „adäquates terminologisches Rüstzeug, um die Dynamik des Interkulturellen“, welche eine „Differenz ohne Hierarchie“ ist, angemessen darstellen zu können (Schulte 33). So könnte Interkulturalität als „Ergebnis kultureller Überlagerung, Diffusion, [und] Konfrontation“ in einem von „‘stabiler Instabilität‘ als offenes Prinzip kultureller Praxis“ markierten Raum definiert werden. (Schulte 189) So schlägt Schulte ein methodisches Vorgehen vor, in Verknüpfung mit der Interkulturalitätsthematik, bei der „stets literarische, wissenschaftliche, in jedem Fall aber kritische Zeugnisse solcher Autoren bzw. Wissenschaftler, die selbst die angesprochene Dynamik als ein für sie lebensweltlich relevantes Phänomen, als neue Kulturform erfahren haben“ die Orientierungspunkte bleiben (Schulte 3). Dies scheint auch ein angemessener Ansatz für die Beschäftigung mit der Chicana-Literatur zu sein.
Immer mehr Autorinnen sehen ihre Literatur in einem kulturen- als auch länderübergreifenden Kommunikationsfeld und damit interkulturell angesiedelt. Jedoch scheint mir angesichts des vielschichtigen Minoritätenstatus, der nicht nur durch die ethnische Identität geprägt ist, vor deren Hintergrund die Chicana-Autorin ihre Werke verfaßt, die Bezeichnung multikulturelle Literatur im Sinne von Wotschke und Himmelsbach für zutreffender:
„Multikulturelle Literatur berücksichtigt ebenfalls die kulturelle bzw. ethnische Herkunft als ein prägendes Element der individuellen Persönlichkeit. Sie geht aber insofern einen Schritt weiter, als sie der Tatsache Rechnung trägt, dass eine moderne Gesellschaft aus Menschen besteht, die von unterschiedlichen (Kombinationen von!) kulturellen Einflüssen geprägt sind.“ (Wotschke und Himmelsbach 34)
So lässt sich Chicana – Literatur in gewisser Weise als „von interkultureller Verschränkung markierte Minoritätenliteratur definieren“. Dabei hat Anzaldúa eine ähnliche Auffassung, denn „sie sieht die Chicana aufgrund ihres vielschichtigen Erfahrungsspektrums als interkulturell positioniert und damit alternierend in einzelne Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Rasse und Sexualität differenzierbare, kulturelle Umfelder eingebunden an“ (Ikas 28).
Dabei möchte sie die Theorie ‚entakademisieren‘:
„Necesitamos teorías[8] that will rewrite history using race, class, gender and ethnicities categories of analysis, theories that cross borders, that blur boundaries – new kinds of theories with new theorizing methods. We need to de-academize theory and to connect the community to the academy.” (Anzaldúa XXVI)
Konkret zu verstehen ist diese Theorie als „paradigmatisch in den künstlerischen Produktionen der Chicanas“ selbst zutage tretend (Ikas 28). So vermischen die Chicanas fiktionale und theoretische Ansätze miteinander, wobei schon eine kritische soziokulturelle Auseinandersetzung eingebunden ist:
„In our literature, social issues such as race, class and sexual difference are intertwined with the narative and poetic elements of a text, elements in which theory is embedded” (Anzaldúa XXVI)
Ähnlich äußert sich dazu auch Lucero-Trujillo:
“Literature is a medium and a praxis whereby we can start to question our oppression, not by escapism into the mythical past in sentimental lyricism reminiscent of other literary ages, but in dealing with the everyday problems. The Chicana can question and confront the society which holds her in double jeopardy, of being a woman and a minority.” (Lucero-Trujillo 330)
2. Chicana-Literatur und Postkolonialismus
Der Postkolonialismus ist im engen linguistischen Sinne als ‚Nach-Kolonialismus‘ bzw. als ‚die Zeit nach dem Kolonialismus‘ zu betrachten. Damit werden die Lebensumstände und Charakteristika einer ehemals kolonisierten Nation beschrieben, welche nach dem Rückzug der europäischen Kolonialmacht nun um die Ausbildung und Verortung der eigenen nationalen Identität bemüht ist. So kann der Postkolonialismus als ein temporales Konzept gesehen werden, aber auch als ein „geopolitical concept of contemporary group identity“ oder als ein soziologisches Konzept „about global cultural conditions and experiences, confused about its constituency and about its relation to concepts of race, class, gender, ethnicity, and the like“ (Slemon 183). Die Suche nach einer nationalen Identität zeigt sich auch in den Werken der postkolonialen Kritiker Spivak und Bhabha (Ikas 31). Spivak propagiert einen im interkulturellen Kontext sich konstituierenden Ort, von dem aus der / die Untergebene sprechen und damit seine / ihre Subjektposition manifestieren kann (Spivak 66 ff). Bhabha betrachtet den Prozess kultureller Identitätsbildung als Artikulation von Differenzen. Dabei macht er auf die Erfordernis unterdrückter Kulturen aufmerksam, gegen die bevormundende Repräsentation ihrer selbst zu intervenieren, was in dem von ihm als „third space“ definierten imaginären Ort möglich werde (Bhaba 207f). In gewisser Weise reflektiert sich dabei die Vorstellung, dass es der Entstehung oder Kreation eines dritten bzw. zusätzlichen, zwischen den bisherigen Dualitäten von dominanter versus dominierter Kultur und Gesellschaftsgruppe situierten, Ortes bedarf, damit die unterdrückten Minderheiten sprechen und sich darstellen können, sowie darüber hinaus Neues entwickelt und artikuliert werden kann, auch in der Chicana-Literatur und ihrer Rezeption (Ikas 3).
Dennoch wird der Begriff postcolonial heute noch weiter gefasst und in einem anti-imperialistischen Sinne interpretiert (Ikas 31). So wird der Begriff postcolonial einerseits auf „all the culture affected by the imperial process from the moment of colonization to the present day“ angewandt (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2). Dabei plädieren Ashcroft, Griffiths und Tiffin für eine Rückbesinnung auf das historische Phänomen des Kolonialismus als zentrales Kriterium postkolonialer Kulturen:
„ […] post-colonial studies are based in the historical fact of European colonialism, and the diverse material effects to which this phenomenon gave rise. We need to keep this fact of colonization firmly in mind because the increasingly unfocused use of the term ‘post-colonial’ over the last ten...