Die Rückkehr des alten Wissens
Jeder Mensch trägt zwei Persönlichkeiten in sich. Die eine spricht mit der Stimme der Vernunft, die andere mit der des Gefühls. Die Vertreterin der Vernunft wird nicht müde zu erklären, dass sie nur zu glauben bereit ist, was sie selbst gesehen hat. Die Vertreterin des Gefühls ist zu größerem Risiko bereit: Sie glaubt an das, was mit ihr selbst in Einklang steht, selbst dann, wenn alles Sichtbare dagegenzusprechen scheint.
Die Vernunft hält sich selbst für die bessere Seite des Menschen, denn sie sorgt dafür, dass wir im Alltag funktionieren und nicht über das Ziel hinausschießen. Sie kann sich aber nicht nur auf das berufen, was sie selbst überprüft hat, das wäre ein zu kleines Gebiet. Deshalb vertraut sie auf die Wissenschaft, und zwar auf den Bereich, der im Augenblick unbestreitbar erscheint. So hofft sie, Fehler zu vermeiden, vor allem aber gerät sie nicht in Gefahr, zur Außenseiterin und deshalb womöglich verlacht zu werden, denn sie schwingt stets im Glauben der Mehrheit.
Ihr Gegenpol ist bereit, auch dann noch zu hoffen und zu vertrauen, wenn die Vernunft sich bereits entschieden hat. Dieser Teil der Persönlichkeit lebt in einer anderen Welt, in der nicht die Summe der Fakten, sondern die Gesamtsicht von Bedeutung ist.
Beide Persönlichkeiten haben ihren besonderen Wert. Es wäre falsch, sie gegeneinander aufzuwiegen, denn sie ergänzen sich, obwohl sie oft miteinander konkurrieren. Es ist so, als ob ein Mensch gleichzeitig in zwei Richtungen blickte: Beide existieren, also sind beide wahr. Sie drücken die Wahrheit nur auf unterschiedliche Weise aus.
In der Heilkunde werden diese beiden Aspekte durch zwei Gegenpole verkörpert, die sich in der Geschichte über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende bekämpften. Ihre Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, von den verborgenen Abläufen im Körper und in der Seele, scheinen unvereinbar, und manchmal nimmt die Auseinandersetzung den Charakter eines Glaubenskrieges an, auch wenn das die Beteiligten nicht wollen. Ihre Sprache und ihr Denken könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein.
Florian Holsboer, Neurowissenschaftler und Arzt, seit zwei Jahrzehnten Leiter des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, sucht in allen Erkrankungen, auch den seelischen, einen biologisch nachvollziehbaren Auslöser. Für die Erkundung der Seele möchte er deshalb eine »Weltformel« finden, die erlaubt, alle Störungen präzise zu messen und dann mit genau abgestimmten Medikamenten gezielt zu beeinflussen. Seine Sichtweise der seelischen Wirklichkeit ist die der Biochemie, deshalb misstraut er Vorstellungen, die in traumatischen Erlebnissen die Ursache von Erkrankungen suchen und sie auch dort heilen wollen: »Am Magengeschwür war früher die Schwiegermutter schuld oder die Kindheit. Dann fand man ein Bakterium«, sagt er. Und er kommt zu dem provokativen Schluss: »Das subjektive Erleben ist nicht grundsätzlich etwas anderes als Rheuma und Diabetes.«[1]
Maria Sabina – indianische Heilerin aus Mexiko, die vor Jahrzehnten berühmt wurde, weil der Pharmapionier und Entdecker des LSD, Albert Hofmann, in engem Kontakt mit ihr stand – sieht umgekehrt alle Erkrankungen als Folge spiritueller Geschehnisse. Sie heilt, wie die Schamanen aller Kulturen, in einem veränderten Bewusstseinszustand, den sie durch die Einnahme halluzinogener Pilze erreicht. Sie nennt sie »Ninos Santos«, die heiligen Kinder.
»Die Ninos Santos heilen offene Wunden und die Wunden des Geistes. Der Geist ist es, der krank macht. Die Ninos geben mir die Macht, alles umfassend zu sehen. Ich kann bis zum Ursprung hinabblicken, kann bis dorthin gehen, wo die Welt entspringt … Bevor ich die Sitzung eröffne, frage ich nach dem Namen des Kranken. So suche ich die Krankheit und so heile ich … Meine Worte zwingen die Krankheit herauszukommen … Ich heile mit der Sprache, mit nichts anderem …«[2]
Was die mazatekische Heilerin sagt, scheint unvereinbar mit der Vorstellungswelt des deutschen Psychiaters. Die Vernunft hält die Bilder der Schamanin für Hirngespinste, das Gefühl sieht in dem Urteil des Psychiaters den Ausdruck eines lebensfernen, technischen Weltbildes. Und so fordern beide Seiten unserer Persönlichkeit in unverhoffter Einigkeit eine Entscheidung: Wenn das eine wahr ist, muss das andere falsch sein. Entscheide dich für die eine Wahrheit.
Aber diese Forderung ist offenkundig eindimensional, sie übersieht die Möglichkeit, dass beide Sichtweisen jeweils nur einen Ausschnitt des Ganzen beleuchten könnten, dass sogar der Akt selbst, die Wirklichkeit zu beobachten, die Realität beeinflussen oder gar formen könnte. In der Quantenphysik, deren Erkenntnisse noch immer nicht ins Denken der Gegenwart Einzug genommen haben, ist diese Untrennbarkeit von Beobachter und Beobachtetem längst wissenschaftliche Tatsache: Wir sind Teil der Wirklichkeit und nicht ihr objektiver Betrachter.
Niels Bohr, einer der Pioniere dieser noch immer neuen Wissenschaft, erzählte seinen Kollegen in den Jahren der Entdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts gern folgende Geschichte: In der Nähe seines Ferienhauses wohne ein Mann, der über der Eingangstür seines Hauses ein Hufeisen angebracht habe, das nach altem Volksglauben Glück bringen soll. Ein Bekannter habe den Besitzer dieses magischen Objekts erstaunt gefragt, ob er denn tatsächlich so abergläubisch sei. »Natürlich nicht«, antwortete der Mann, »aber man sagt doch, dass es auch hilft, wenn man nicht daran glaubt.«[3]
Die Geschichte zeigt eine Haltung, die einen dritten Weg ausdrückt, den der kritischen und zugleich spielerischen Offenheit: Auch wenn die Vernunft dagegenzusprechen scheint, möchte der Mann auf die vielleicht segensreichen Wirkungen dieser magischen Handlung nicht verzichten. Er bleibt damit durchaus vernünftig, denn er gewinnt ja eine Möglichkeit hinzu, ohne etwas zu verlieren.
Dieses Buch beschreitet den gleichen Weg. Es tritt dem rationalen wie dem magischen Anteil unserer Persönlichkeit mit Wertschätzung gegenüber und gibt beiden eine Stimme. Nicht in der Rückkehr zu den Zeiten des ausschließlich magischen oder mythischen Denkens, aber auch nicht in dessen Zerstörung zugunsten eines unbarmherzigen Rationalismus liegt die Zukunft der Medizin, sondern in der Integration beider Formen der Wahrnehmung. Dabei geht es nicht um halbherzige Friedensverhandlungen, in denen jede Seite der anderen vordergründig ihr Lebensrecht lässt, ohne sie wirklich zu akzeptieren oder wenigstens zu verstehen, sondern um ein verändertes Denken, das beide Formen, die Wirklichkeit zu begreifen, auf neue Weise verbindet, das über beiden Haltungen steht und von diesem erhöhten Standpunkt aus mehr wahrnimmt, als zuvor möglich war. Jean Gebser hat dieses veränderte Denken »integrales Bewusstsein«[4] genannt, eine Haltung der Offenheit gegenüber allen Strömungen des Geistes, aus der nach und nach eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit entsteht, eine echte Weiterentwicklung, kein fauler Kompromiss.
In der Medizin haben in den letzten Jahren Ärzte und Heilpraktiker, Psychotherapeuten und Heiler, Fachleute und Laien begonnen, den Kampf der Systeme zu beenden und die früheren Gegner zu versöhnen. Noch sind es nur Einzelne, aber sie könnten auf lange Sicht das medizinische Weltbild verändern und jene Menschlichkeit in die Heilkunde zurückbringen, deren Verlust so viele Patienten beklagen.
Überall auf der Welt suchen diese Pioniere einer umfassenderen Medizin nach den verschütteten Wurzeln einer Heilkunst, in der Körper und Seele untrennbar verbunden sind. Sie gehen bei Schamanen in die Lehre, lernen bei chinesischen Medizinern, experimentieren mit heilender Trance. Die ersten Krankenhäuser bilden Schwestern und Pfleger in der Kunst des Handauflegens aus, in immer mehr Praxen arbeiten Heiler mit Schulmedizinern zusammen. Sie begnügen sich nicht mehr mit Symptomfreiheit, sie suchen nach vollständiger Heilung, nach einer Rückkehr von Körper, Geist und Seele in einen Zustand des Gleichgewichts. Aus ihrer Sicht sind Heilende nur Begleiter, die Patienten auf ihrem eigenen Weg unterstützen.
So suchen sie nach allen Ressourcen, die einem Menschen auf dem Weg zur Wiedergewinnung der Ganzheit, also der Heilung im eigentlichen Wortsinn, zur Verfügung stehen. Und diese grundlegenden Kräfte finden sie auf der Reise nach innen, zum Erbe der Vergangenheit, das in jedem Menschen, wenn auch unbewusst, gegenwärtig ist. Der Geist nämlich besteht bei genauer Betrachtung aus ganz unterschiedlichen Zuständen, vom aktiven Wachbewusstsein über alle Stufen der meditativen Versenkung bis zu den Träumen und darüber hinaus, zu den tiefen, dem Wachbewusstsein vollständig verborgenen Schichten des Bewusstseins, die nur selten und dann auch nur verschlüsselt an die Oberfläche kommen. Dort aber, wo die Erinnerungen unserer archaischen Vorfahren liegen, als Teil unserer Gegenwart, schlummern geheimnisvolle Kräfte, mit denen neue und manchmal jahrtausendealte Methoden in Resonanz treten, um sie zum Nutzen der Patienten zu wecken.
Die Menschen haben mit ihrem rationalen Bewusstsein große Fortschritte erzielt, auch auf dem Gebiet der Medizin, aber sie haben darüber ihre verborgenen Kräfte fast vergessen. Geblieben ist nur eine Ahnung vom alten Zauber der Magie, mit dem vor allem die Kinder noch vollständig vertraut sind, bis ihnen die ironischen Fragen der Erwachsenen und später auch der Gleichaltrigen den modernen Zauber des technisch Machbaren nahelegen – so lernen sie, die Welt rational zu beherrschen, verlieren aber zugleich die Fähigkeit, die...