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An der Schwelle zum Himmel

Erlebnisse zwischen Leben und Tod aus dem Alltag eines Landarztes

AutorReggie Anderson
VerlagSCM Hänssler im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783775172004
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
'Ich erlebte, wie der Schleier gelüftet wurde, der dieses Leben von dem kommenden trennt', so erinnert sich Dr. Anderson an die erste Patientin, die er beim Sterben begleitete. Nüchtern und doch anschaulich berichtet der Hausarzt, wie er Gottes Gegenwart an Krankenbetten und auf seinem Lebensweg hautnah erlebt. Mal still, dann wieder heiter und oft atemberaubend schärft er unseren Sinn für die Wirklichkeit des Himmels.

Dr. Reggie Anderson, aufgewachsen in Plantersville, Alabama in den USA, hat Chemie mit Nebenfach Englisch studiert. Seine Assistenzzeit in einer Hausarztpraxis schloss er an der University of Tennessee in Jackson ab. Lange Jahre arbeitete er als Hausarzt in Ashland City, bevor er dort eine Klinik aufbaute. 2011 wurde er mit der höchsten Auszeichnung des US-Bundesstaates Tennessee für Ärzte geehrt. Er lebt mit seiner Frau Karen auf einer Farm in Kingston Springs und hat vier Kinder.

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Kapitel 3


Der Tag, an dem der Weihnachtsmann starb


Dezember 1965
Plantersville, Alabama


In Plantersville gehörte Jesus immer zu Weihnachten. Ob wir nun in der Gemeinde, zu Hause oder in der Schule waren – wir hörten die Geschichte von der Jungfrauengeburt in den Worten des Matthäusevangeliums. Heute hört man in den Vereinigten Staaten häufig den Ausdruck »Winterferien«. In meiner Jugend jedoch hatten wir »Weihnachtsferien«, und jeder ging in eine der drei christlichen Kirchen auf dem von Bäumen umsäumten Marktplatz. Jedes Jahr wurde unser Baum mit denselben silbernen Eiszapfen und den vertrauten blinkenden Kerzen geschmückt. Obwohl die Krippe unter dem Christbaum jeden Tag umgestellt wurde, blieb das Jesuskind immer vorn im Mittelpunkt.

Die Tage vor meinem achten Weihnachtsfest waren für mich nicht anders als in den Jahren zuvor. Wir schlugen einen Baum und stellten ihn in dieselbe Ecke des Hauses. Der Geruch von frischer Kiefer und die klebrigen Nadeln, die auf den Boden fielen, ließen uns von den Spielsachen träumen, die der Weihnachtsmann bald bringen würde. Weihnachten und seine Traditionen waren vorhersehbar, und auch der Weihnachtsmann war berechenbar.

Doch in diesem Jahr wurde Weihnachten anders. Das Modellauto, das ich für unser »Wichtelspiel« in der dritten Klasse mitbrachte, war nicht das größte oder originellste Geschenk, aber es wurde mit einem strahlenden Lächeln und einem begeisterten »Danke!« entgegengenommen. Doch als ich an der Reihe war, mein Geschenk zu öffnen, war ich enttäuscht, als ich sah, dass es von Arthur kam. Jeder wusste, dass die Familie von Arthur kaum genug zum Essen hatte. Seine Kleidung war geflickt, und seine Schuhe waren abgetragen. Ich war traurig, dass ich kein neues Spielzeug bekommen würde, schwor mir aber, es nicht zu zeigen. Ich wusste: Was auch immer ich bekommen würde – Arthurs Familie konnte sich dieses Geschenk in Wirklichkeit nicht leisten.

Arthur muss es genauso peinlich gewesen sein wie mir, als ich den Deckel hob und die Pfefferminzbonbons sah. Mein Geschenk war nicht einmal ein Spielzeug, es war ein Päckchen Süßigkeiten! Meine Klassenkameraden hielten den Atem an, so gespannt waren sie auf meine Reaktion. »Meine Lieblingssorte!«, rief ich und steckte eines in den Mund. Alle lächelten, und Arthur lachte von einem Ohr zum anderen.

Ich war wirklich für Arthurs Geschenk dankbar. Er tat mir leid. Es war bestimmt schwer, arm zu sein.

In diesem Jahr würde ich nicht auf dem Schoß des Weihnachtsmanns von Woolworth sitzen. Mit acht war ich dafür zu alt. Stattdessen beschlossen mein Bruder Tim und ich, dem Weihnachtsmann einen Brief zu schreiben. Wir holten Stifte und Papier, setzten uns an den Küchentisch und befassten uns begeistert mit unserer schier endlosen Liste potenzieller Geschenke. In unseren Briefen beschrieben wir dem Weihnachtsmann nicht nur in allen Einzelheiten, was wir uns wünschten, wir teilten ihm auch mit, dass es ein gutes Jahr gewesen war, dass wir unseren Eltern fast immer gehorcht und nicht allzu viel gestritten hatten.

Wir erinnerten ihn auch daran, wie hart wir gearbeitet haben.

Damals hatte nur unser Vater eine bezahlte Arbeitsstelle. Unsere Mutter versorgte uns Kinder, arbeitete im Garten und weckte Obst und Gemüse ein, damit wir im Winter etwas zu essen hatten. In jenem Jahr war das Geld besonders knapp. Meine Eltern hatten alles zusammengekratzt, um ein altes Schulhaus zu kaufen, das abgerissen werden sollte. Sie hatten vor, die Abbruchsteine und das Holz für den Bau eines neuen Hauses für unsere wachsende Familie zu verwenden. Doch ihre mageren Ersparnisse reichten nicht aus. Ohne einen Kredit konnten sie sich das baufällige Gebäude nicht leisten, und sie brauchten das Material, um ein Haus bauen zu können. Denn ein völlig neues Haus zu bauen, überstieg ihre Möglichkeiten bei Weitem. Obwohl sie es nur ungern taten, nahmen sie einen Bankkredit auf.

Da kein Geld für die Bezahlung von Hilfskräften zur Verfügung stand, waren mein Bruder und ich für die Verwertung des Baumaterials zuständig. Tim und ich machten uns an die Arbeit, säuberten alte Backsteine, zogen Nägel aus dem Abbruchholz und trennten verwertbares Bauholz von unbrauchbaren, verzogenen Brettern. In ihrer knapp bemessenen Freizeit bauten mein Vater und mein Großvater mit dem recycelten Material unser neues Haus. Tim und ich halfen, wo wir konnten. Sicher hatten wir uns dadurch zusätzliche Pluspunkte beim Weihnachtsmann verdient.

Am Weihnachtsmorgen stand ich als Erster auf. Aber die Tradition und die Achtung vor den anderen verlangten, dass ich nicht zum Weihnachtsbaum mit dem Stapel von Geschenken eilen durfte, solange meine Geschwister nicht dabei waren. Ich weckte Tim und Cathy auf, was an diesem Tag nicht schwer war. Sie waren ebenso gespannt wie ich, was jeder von uns von dem Mann mit dem weißen Bart ergattert hatte.

Alle drei eilten wir ins Wohnzimmer zum Weihnachtsbaum. Aber wir hielten abrupt inne, als wir etwas sahen, womit wir nie gerechnet hätten. Unter dem Baum lag kein Stapel von Geschenken. Es gab nur zwei Geschenke: eines mit Cathys Namen und eines mit Tims Namen.

»Wo sind denn all die Geschenke?«, fragte Tim, enttäuscht über die magere Bescherung.

»Oh, die sind für mich!«, quietschte Cathy, als sie ein paar Puppen aus dem Billigladen auf der rechten Seite des Baums entdeckte.

Tims Frage hallte noch nach, aber er machte ein paar Schritte vorwärts. »Soldaten!«, rief er, als er die grünen Figürchen auf der linken Seite erspähte.

Am Baum hing ein großer Umschlag mit meinem Namen darauf. Aber das war alles. Es waren keine weiteren Geschenke zu sehen. Hatte der Weihnachtsmann sie versteckt? Befand sich ein Hinweis in dem Umschlag?

Cathy plapperte mit ihren Puppen, und ich hörte, dass Tim wie ein General seinen Soldaten befahl: »Antreten!« Ich zog den Brief aus dem Umschlag, meine Hände zitterten vor Erwartung oder vielleicht Angst. Der Brief war auf dem gleichen Papier geschrieben wie mein Brief an den Weihnachtsmann, aber dies war ein Brief vom Weihnachtsmann an mich.

»Lieber Reggie«, begann der Brief. Seltsamerweise war er in der Handschrift meiner Mutter geschrieben. »Das Luftgewehr, das du zum Geburtstag bekommen hast, war auch für Weihnachten. Schade, dass der Weihnachtsmann dir dieses Jahr nichts bringen kann. Nächstes Jahr wird es besser sein. Denke daran, dass deine Eltern dich sehr lieben. Der Weihnachtsmann.«

Schockiert tat ich, was jeder Achtjährige in einem solchen Fall tut. Ich brach in Tränen aus und schluchzte hemmungslos.

Natürlich erinnerte ich mich an das Luftgewehr. Ich hatte es mir gewünscht, weil ich mithelfen wollte, Eichhörnchen zu schießen, damit wir etwas zu essen hatten. Als Farmer bauten wir unsere Nahrung an – und als Jäger schossen wir unser Essen. Ich brauchte dieses Luftgewehr, um meinen Beitrag zu leisten. Ich schaute wieder auf den tränenbefleckten Brief und erinnerte mich, wie mein Vater an meinem Geburtstag gesagt hatte, dass ein Luftgewehr ein teures Geschenk war und dass sie es trotzdem irgendwie geschafft hatten, es zu bezahlen. Aber jetzt, zu Weihnachten, hielten mein Bruder und meine Schwester ihre neuen Spielsachen in der Hand und starrten mich an, und ich sollte verstehen, warum der Weihnachtsmann mit all seinen Möglichkeiten es sich nicht leisten konnte, mir etwas zu schenken. Ich warf mich aufs Sofa und schluchzte noch lauter.

Meine Eltern wurden dadurch wach und eilten ins Wohnzimmer. Ich hörte kurz auf, zu weinen, um Atem zu holen. Dabei sah ich, dass sie einander anschauten und sich etwas zuflüsterten.

»Ich wusste nicht, dass er es so schwernimmt«, sagte Mama. »Als ich klein war, habe ich nie etwas zu Weihnachten bekommen.«

»Damit habe ich auch nicht gerechnet«, flüsterte mein Vater.

Daraufhin heulte ich noch lauter. Sie verstanden mich nicht. Ich war nicht verletzt, weil ich nichts bekommen hatte, sondern, weil meine ältere Schwester und mein jüngerer Bruder Geschenke bekommen hatten. Warum hatte der Weihnachtsmann ihnen etwas gebracht und mir nicht? Sogar Arthur konnte sich Pfefferminzbonbons leisten. Hätte der Weihnachtsmann mir nicht irgendetwas bringen können?

Ich vergrub meinen Kopf im Kissen und weinte weiter. Mama saß neben mir auf der Couch und streichelte meinen Rücken. Als ich vom Weinen erschöpft war, drehte ich mich auf die Seite und schaute zu ihr hoch. »Warum?«, fragte ich. »Warum habe ich als Einziger nichts bekommen?«

Mama stand plötzlich auf und ging mit meinem Vater in ein anderes Zimmer, wo ich sie wieder flüstern hörte. Nach einer Weile griff mein Vater zum Telefon. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen ab und schöpfte Hoffnung. »Ruft er den Weihnachtsmann an?«, fragte ich.

»Nein, er ruft Tom Tomlinson an«, antwortete Mama.

Zunächst war ich enttäuscht. Mir war nicht klar, inwieweit das hilfreich sein könnte. Herr Tomlinson war der Besitzer des Eisenwarengeschäftes im Dorf.

Was kann er tun?

Dann hörte ich meinen Vater sprechen. Er versuchte, ihn zu überreden, das Geschäft am Weihnachtstag zu öffnen. »Es dauert nur ein paar Minuten«, versprach mein Vater. »Der Weihnachtsmann hat meinen Sohn vergessen, und da muss ich etwas tun. Wir wollen ein neues Fahrrad für ihn aussuchen.«

Offensichtlich wurde dadurch Herrn Tomlinsons Aufmerksamkeit erregt. Und meine auch. Ein neues Fahrrad? Konnte das wahr sein? Durfte ich mir zu Weihnachten ein neues Fahrrad aussuchen?

Meinem Vater gelang es, Herrn Tomlinson davon zu überzeugen, dass er ein Kunde war, für den es...

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