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E-Book

Hurenleben

Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung

AutorMonika Rudolph
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451800740
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Als Seelsorgerin begegnet Monika Rudolph Prostituierten. Die, die sonst auf ihre Weise Gehör schenken, finden bei ihr selbst einmal Gehör. In sechs Geschichten erzählen vier Frauen und ein Callboy, warum sie sich für diesen Weg entschieden haben. Oft sind es zerplatzte Träume oder Sehnsüchte, die ihnen keine Wahl ließen, manchmal ist es aber auch eine bewusste Entscheidung zu diesem Lebensweg. Doch welche Wünsche haben sie? Welche Sehnsüchte erhalten sie aufrecht, die selbst als Projektionsfläche anderer dienen? Monika Rudolph gelingt es, hinter die Fassade zu schauen und in eine Welt vorzustoßen, die immer noch der Mantel der tabubeladenen Verschwiegenheit umgibt. Offen und wahrhaftig erzählen die Prostituierten, wie es ihnen mit ihrem Beruf ergeht und wie sie das Leben meistern. Häufig besitzen sie ein großzügiges, warmes Herz mit einem feinen Gespür für die Nöte der anderen. Eine Einladung, diese Menschen einen Herzschlag lang auf ungewohnten Lebenspfaden zu begleiten und sich von ihrer Lebensklugheit anrühren zu lassen.

Monika Rudolph arbeitet als katholische Seelsorgerin in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Schwerpunkte ihrer Tätigkeit: Begleitung organtransplantierter Patienten und ihrer Angehörigen; Betreuung von Frauen mit Risikoschwangerschaften; Sterbe- und Trauerbegleitung; Fortbildung in Ethik-Fallseminaren; kirchl. Verkündigung im NDR-Hörfunk (NDR Kultur, NDR Info). Buchveröffentlichungen.

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Leseprobe

ILANA
Als Kind war ich glücklich und habe es nicht bemerkt


Von Minute zu Minute wurde ich aufgeregter. Ich wollte Ilana in ihrem Wohnwagen besuchen. Dieses Treffen war längst überfällig, aber immer wieder tat ich mich schwer damit, mein Versprechen einzulösen.

Ich fürchtete das ganze Drumherum: die Dunkelheit, den Wald, die Peinlichkeit, eventuell auf Freier zu treffen. Mir graute vor den Gerüchen, die aus dem muffig-warmen Wohnwagen quollen: kalter Zigarettenrauch, Alkohol, Schweiß und, wie mir schien, ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Sperma. Ich konnte nicht sagen, ob diese Wahrnehmung nur meiner Fantasie und Abneigung gegen diesen Ort entsprang.

Beim letzten Besuch warf mich ein schlampig angezogener Typ aus der Bahn. Wir trafen an der Tür des Wohnwagens aufeinander. Irritiert taxierte er mich und griff unverhofft nach meiner Hand. Kalt, von nervösem Schweiß überzogen, lag sie in meiner. Ein unsicheres Grinsen huschte über sein Gesicht. Ich spürte seine dicken Wurstfinger in meiner Hand, und plötzlich würgte mich Ekel.

Dieser Kerl, dachte ich, was grapscht der an dem Mädel herum? Angewidert wollte ich die Hand von mir stoßen und auf dem Absatz kehrtmachen. Ilana stand auf der obersten Stufe des Wagens und starrte auf die Szene. Flehentlich schaute sie mich an. In ihren Augen las ich die Bitte, es nicht zu tun und zu bleiben. Sie hatte meine Gedanken erraten.

Ich schüttelte die Erinnerung ab und ging ein paar Schritte auf und ab, bemüht, die Straße, Ilanas Wagen und mein Auto nicht aus den Augen zu verlieren.

Der Abend war kalt, obwohl erst Oktober war. In meinen leichten Ballerinaschuhen würde ich mich nicht auf den Weg in den Wald machen. Die Redewendung »kalte Füße bekommen« traf in diesem Augenblick ganz und gar zu.

Wir hatten uns für acht Uhr abends verabredet. Am Klang der Stimme am Telefon hörte ich, wie sehr sich die junge Frau auf die gemeinsame Stunde freute. Ehe ich ihr noch mitteilen konnte, dass ich für Abendbrot gesorgt hatte, klickte es in meinem Handy. Das Gespräch war beendet. Sie mochte nicht zurückgerufen werden. Niemals! Ich hielt mich an ihre Bitte und wartete bis acht Uhr.

Die schmale Straße, die durch das Waldgebiet führte, lag verlassen vor mir. Um diese Zeit gab es kaum noch Autos hier. Höchstens Freier, die ich an ihrem Fahrstil erkannte. Ihre Wagen rollten langsam die Straße mit Abblendlicht dahin, um die Wegabzweigungen nicht zu verpassen, an denen die elf Wohnwagen der Frauen standen, die sich prostituierten.

Ilana hatte ich im Krankenhaus kennengelernt. Nach einer Fehlgeburt lag sie wochenlang auf der Frauenstation. Sie verlor ihr Baby im siebten Monat. Es war ein sehnsüchtig erwartetes Wunschkind. Mit der Wölbung des Bauches sollte auch ihre Welt eine neue Form bekommen. Für die junge Frau war die Schwangerschaft ein unverhofftes Geschenk. Die Zeit mit dem Kind im Bauch war Ilana heilig. Selbstlose und unbelastete Liebe wollte sie sich und ihrem Kind schenken und ein geborgenes Zuhause.

Ihre tiefen Depressionen und das verzweifelte Weinen über den Verlust des Kindes bleiben mir unvergesslich. Ilana fiel in ein schwarzes Loch und war lange Zeit nicht bereit, sich nach dem Licht zu strecken. Ich besuchte sie so oft wie möglich, aber die dumpfe Hoffnungslosigkeit wollte so gar nicht weichen. Bis sie mir erzählte, dass sie als Prostituierte arbeitet. Eine weitere Schwangerschaft ließ sich für sie wegen ihres »Dienstes« nicht beliebig planen.

»Wir bleiben in Kontakt, nicht wahr? Unbedingt! Wir müssen uns wiedersehen. Das musst du mir versprechen« waren ihre Worte bei der Entlassung aus dem Krankenhaus.

Ich blickte auf zu den Sternen, die sich wie funkelnde Lichterketten über die schwarzen Baumkronen legten. Ihr Licht tröstete mich in meiner Ängstlichkeit.

Die Wohnwagentür öffnete sich, und ein junger Mann erschien. Übermütig sprang er auf den Waldboden. Laub raschelte. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Ein Motor sprang an. Der junge Mann fuhr mit seinem Motorroller schwungvoll an mir vorüber. Kurz darauf erschien Ilanas Kopf im Türrahmen.

»Monika, bist du da?« Ihre Augen spähten in die Dunkelheit.

»Ja, hier bin ich!«, rief ich verhalten und winkte.

»So komm doch! Ich freue mich riesig. Komm nur!«, hörte ich ihre aufgeregte Stimme.

Ich ging zum Auto und holte den Korb mit dem Abendbrot. Ilana kam mir entgegengelaufen und umarmte mich herzlich.

»Schön, schön, schön«, jubilierte sie und hopste umher wie ein verzücktes Kind. Ihr durchsichtiges Negligé öffnete sich im kalten Wind und gab viel nackte Haut preis.

»Die ganzen letzten Tage habe ich mich auf diesen Augenblick gefreut. Du auch?« Sie schaute mich fragend an. Ich lächelte und hoffte, dass sie von meiner Befangenheit nichts spürte, die mir stets in den ersten Momenten unserer Begegnung die Brust zuschnürte. Als mein Blick durch das Innere des Wohnwagens streifte, zog Ilana einen Trennvorhang zur Seite, und ein schön gedeckter Tisch kam zum Vorschein. Die flammendroten Dahlien in der Vase gaben ihm das i-Tüpfelchen.

»Dass du es hier aushältst«, sagte ich vorwurfsvoll und hätte mir am liebsten im selben Moment auf den Mund geschlagen.

»Wie meinst du das?«, fragte sie mich.

»Ich würde vor Furcht sterben. Keine Stunde könnte ich hier allein sein. Hast du keine Angst, dass dir jemand etwas antut oder dich beraubt?«

»Nein, überhaupt nicht! Ich bin daran gewöhnt, für mich zu sein«, bekam ich zur Antwort. Ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. Meine Gastgeberin zündete ein rotes Teelicht an und schaute mich enttäuscht an. Sofort wurde mir mein Fauxpas bewusst.

»Entschuldige«, sagte ich hastig, »wie dumm von mir, den geschmackvoll gedeckten Tisch nicht zu würdigen. Was hast du da Schönes gezaubert?«

»Gefällt es dir?«, fragte sie erleichtert. »Die Blumen sind frisch vom Markt. Dahlien gehören zu meinen Lieblingsblumen. Bei uns zu Hause war der Garten im September und Oktober ein einziger Herbstzauber blühender Dahlien. Die Vorliebe für die prachtvollen Blüten habe ich von meiner Mutter. Diese Sorte passt zu meinem Heimweh. Ich werde es wohl nie überwinden. ›Bergfeuer‹ heißt die Sorte. Sind sie nicht wunderschön?«

Ich stellte den Couscous-Salat und die pikant gewürzten Lammkoteletts auf den Tisch. Ilana schenkte uns heißen Tee ein, und auf einmal befanden wir uns mitten im Schweigen. Ich suchte nach Worten, um das Gespräch in Fluss zu halten. Außer banalen Dingen fiel mir aber nichts ein. Ich spürte, der jungen Frau ging es ähnlich.

Wenn Schweigen, dann eben Schweigen, dachte ich und aß langsam und genussvoll von den Speisen. Im Krankenhaus hatte ich gelernt, schweigsame Momente nicht mit leeren Worthülsen zu füllen.

»Du darfst den Strauß nachher mitnehmen. Ich habe ihn extra für dich gekauft«, sagte sie lachend, und ich hörte Dankbarkeit aus ihren Worten.

»Soll ich mich denn schon verabschieden?«, fragte ich sie schmunzelnd.

Ilana errötete und rutschte verlegen auf ihrem Hocker hin und her.

»Oh, so war das nicht gemeint. Auf keinen Fall! Aber es ist schon eigenartig. Jedes Mal fiebere ich deinem Besuch entgegen. Wie ein kleines Kind freue ich mich darauf. Und wenn du dann vor mir stehst, schäme ich mich und weiß auf einmal nichts zu sagen. Vielleicht liegt das daran, dass du Damenbesuch bist. Frauen kommen nicht hierher, nur die Mädchen von nebenan, wenn Flaute ist und die Kunden ausbleiben.«

Verlegen kaute sie an ihren langen, roten Fingernägeln. Plötzlich erschien sie mir sehr verletzlich inmitten dieser Welt.

Sie schaute mich aus wachsamen Augen an. »Ich habe vorhin gespürt, wie sehr du dich überwinden musstest, in meinen Wagen zu steigen. Du findest es hier widerlich, nicht wahr?«

Ihre Offenheit trieb mir die Röte ins Gesicht. Vorsichtig suchte ich nach Worten. Ich mochte die junge Frau nicht verletzen und auf keinen Fall den mahnenden Finger erheben. Urteile zu fällen stand mir nicht zu.

»Widerlich ist nicht das richtige Wort. Fremd! Ja, das trifft es besser«, entgegne ich. »Diese Welt ist mir fremd. Aber ich komme deinetwegen, und dazu gehört, dich und deine Welt kennenzulernen.«

Ilana lächelte verunsichert. Nervös suchten ihre Hände die Taschen ihres Morgenmantels. »Der Gedanke, deine Zuneigung zu verlieren«, sagte sie, »versetzt mich in Panik. Nicht die Angst, hier im dunklen Wald auf Kunden zu warten. Die meisten sind sehr nett. Philipp, mein letzter Kunde, ist ein lustiger Bursche. Manchmal albern wir nur herum. Nicht immer will er Sex. Wenn er Stress im Beruf hat, sehnt er sich nach Kuscheln. ›Schätzchen‹, sagt er, ›ich spendiere dir hier noch einmal einen Whirlpool.‹

Ich muss gestehen, ein bisschen verliebt in ihn zu sein. So einen hätte ich gern als Mann. Mein Mann ist einfach nur ein Arschloch, dem ich die ganze Scheiße zu verdanken habe. Er kriegt vom Geld den Hals nicht voll. ›Geh doch anschaffen!‹ Tag und Nacht lag er mir damit in den Ohren. Was hat er mir nicht alles versprochen.

Fünf Jahre Strich würden reichen, um ein gutes Leben zu führen, so war es abgemacht. Nun sind es sieben – sieben endlose Jahre. Ein eigenes Haus mit Pool, einen schicken Wagen, Motorräder, kostspielige Reisen, das waren die Traumschlösser, von denen er gesponnen hat. Nichts davon ist Wirklichkeit geworden. Irgendwie zerrinnt einem der ganze Zaster zwischen den Fingern. Es ist wie verhext. Weder haben wir es zu einem Eigenheim gebracht noch zu einer Eigentumswohnung.«

Hastig steckte sie sich eine Zigarette an und nahm ein paar gierige Züge.

»Entschuldige. Stört dich der Qualm? Bitte gestatte mir...

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