Die Funktion des Ärgers
Wer Ärger zulässt, glaubt daran, dass man das Leben noch verändern kann. Wer den Ärger nicht mehr zulässt, glaubt nicht mehr daran.
Wer Ärger zulässt, weiß um das energetisierende Moment. Zulassen und Umgehen mit Ärger heißt nun natürlich nicht nur, dass man sich feindselig verhält, sondern darin sind viele Verhaltensmöglichkeiten enthalten.
Zunächst einmal unterbricht Ärger den normalen Fluss der Beziehung. Sobald wir uns ärgern, ob wir es bewusst zugeben oder nicht, ist es so, als gebe es ein Innehalten in einer Beziehung, die sonst einfach ihren gewohnten Gang nimmt. Dieses Innehalten zwingt uns, darüber nachzudenken, was überhaupt geschehen ist. Dann stellt sich die Frage nach einer besonderen Reaktion: Muss der Ärger ausgedrückt werden? Wie? Oder muss auf der Handlungsebene etwas verändert werden? Es kann ein leiser Anstoß sein, es kann ein größerer Konflikt sein, der Ärger ausgelöst hat. Und dieser Konflikt, mag er größer oder kleiner sein, ruft nach einer Grenzbereinigung, vielleicht nach einer Grenzverteidigung oder einer Grenzziehung, aber auch nach einer Grenzauflösung. Und leider führt der Konflikt oft zu einer Grenzüberschreitung. Wenn ich Grenzbereinigung, Grenzsetzung sage, dann meine ich noch nicht, dass das bereits Krieg ist, sondern ich meine nur, es ist eine Besinnung auf Grenzen, eine Besinnung darauf, was mir wichtig ist in der entsprechenden Situation, was die Absichten des anderen Menschen sind, wie man vielleicht zu einer Lösung kommen kann.
Geht man davon aus, dass Ärger eine fundamentale Emotion ist, dann sind Reibungen etwas ganz Normales. Wenn uns reibungsloses Funktionieren so wichtig ist, müsste man sich fragen, wo in diesem System das Aufstachelnde des Ärgers zu finden ist. Der Ärger bietet uns ja gerade die Möglichkeit, Konflikte im Ansatz, nicht nur die ausgewachsenen Konflikte, wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Da wird durch einen Ärger etwa deutlich, dass ein Mensch einen anderen Menschen zu sehr manipuliert, zu sehr überfährt, möglicherweise nicht willentlich. Und nimmt man den Ärger wahr, drückt man ihn aus, ist eine Verhaltensänderung möglich.
Der Sinn des Ärgers ist es, Situationen so zu verändern, dass Selbsterhaltung und Selbstentfaltung immer wieder neu ermöglicht werden können, so gut das eben geht, im Dialog mit einem Du, das genau dasselbe anstrebt. Im Ärger steckt auch die Energie, diese Veränderungen anzugehen.
Ärger energetisiert uns, wir sind gespannt, wir sind erregt, wir haben das Bedürfnis, unsere Erregung zu regulieren, »Dampf abzulassen«, deshalb wollen wir uns bewegen, schreien usw. , damit wollen wir unserem Gegenüber aber auch mitteilen: Etwas ist nicht in Ordnung, soll wieder in Ordnung gebracht werden. Der Ärger kann aber auch in ein Gefühl der Ohnmacht münden, je nachdem, wie viel Angst und welche Phantasien damit verbunden sind. Die Phantasie spielt eine ganz große Rolle im Zusammenhang mit dem Ärger: Zum einen phantasieren wir Motive, die wir dem Menschen, der uns ärgert, zuschreiben. Routinemäßig entscheiden wir in unserer Vorstellung, ob das Handeln in feindseliger, böswilliger Absicht erfolgt, oder eben nicht. Haben wir uns entschieden, dass keine böswillige Absicht dahinter steckt, dann werden wir uns beruhigen. Entscheiden wir uns dafür, dass die Aktion in feindseliger Weise erfolgte, dann können die mehr oder weniger unterstellten Absichten mit unserer Phantasie angereichert werden. Wir ärgern uns zum Beispiel, dass jemand uns in einer für uns wichtigen Situation einfach keine Antwort gibt, schweigt. Dann werden wir uns sagen – und das ist eine Leistung unserer Phantasie, die natürlich auch aus der Erfahrung gespeist wird, – unser Partner, unsere Partnerin erwarte jetzt, dass wir uns schuldig fühlen, uns entschuldigen, zu Kreuze kriechen. Ob wir das dann tun, ist eine andere Frage. Wir können, wenn wir uns den Raum lassen, in unserer Phantasie immer weiter ausführen, was denn der Partner oder die Partnerin mit diesem Schweigen bezweckt und uns immer kräftiger ärgern. Dann entwickeln wir auch die Phantasien, wie wir uns aus unserem Ärger heraus am liebsten verhalten, was wir am liebsten machen würden.
Diese Phantasien sind Prozessphantasien: Wir phantasieren Aktion und Reaktion. Ich ärgere mich und habe den Impuls, dem Menschen, der mich ärgert, blitzschnell den Kaffee ins Gesicht zu schütten. Was würde dann geschehen? Würde er blass werden und aufspringen oder würde er mir eine Ohrfeige geben, oder müsste ich gleich ein neues Hemd kaufen, und wie würde ich wiederum auf diese unterschiedlichen Reaktionen reagieren? Diese Phantasieprozesse entscheiden letztlich dann darüber, ob ich überhaupt eine dieser Ärgerphantasien in die Reaktion umsetzen. Aus der Intention heraus, etwas ändern zu wollen, erfolgen unsere Ärgerphantasien. Es ist aber auch möglich, dass die Situation uns bekümmert, wir uns zurückziehen und versuchen, den Ärger und die Kränkung für uns allein zu verarbeiten.
Die Gedanken an eine konstruktive Lösung sind in der Regel nicht die ersten, obwohl es natürlich sinnvoll wäre, auf einen Konsens hinzuarbeiten. Zunächst aber sinnt man eher auf Rache, denkt an Revanche, oder man versucht, eine feindselige, brachiale oder verbale Handlung anzubringen. Man kann das alles auch etwas eleganter angehen, indem man eine passive Aggressionsform wählt: Man hört zum Beispiel einfach nicht mehr zu und sagt irgendwann erstaunt: »Ach, Sie haben etwas gesagt, das ist mir jetzt ganz entgangen.« Die passiven Aggressionsformen werden in der Regel als viel weniger gravierend empfunden als die aktiven, sie werden oft auch gar nicht als Aggressionsformen erkannt. Ich meine, sie sind sogar perfider als die aktiven Aggressionsformen, weil diese offen und sichtbar sind und man sich leichter damit auseinander setzen kann.
Bei einem eher niedrigen Ärgerniveau kann man den Ärger verdrängen. Man weicht also einer Grenzbereinigung, einem Konflikt oder auch nur einer etwas grundsätzlicheren Besinnung aus. Wann immer Erregung und Spannung mit einer Emotion verbunden sind, wird diese Emotion besonders stark auch im Leib erlebt. Das ist bei allen Emotionen so, die stark mit Erregung gekoppelt sind, besonders, wenn es sich um eine unangenehme Erregung handelt. Ärger bewirkt nicht einfach eine unangenehme Erregung, sie kann, muss aber nicht, auch angenehm, oder zumindest teilweise angenehm sein. Der Ärger wird immer auch im Körper erlebt, er kann sogar nur körperlich erlebt werden. So gibt es Menschen, die werden nicht ärgerlich, aber sie bekommen augenblicklich Kopfweh, oder sie können nicht mehr gut atmen, oder sie leiden unter einem heftigen Juckreiz, oder aber sie fühlen sich zunehmend verspannt. Wenn uns etwas unter Spannung setzt, wenn etwas auch spannend ist, dann kann man sich auch verspannen.
Menschen, die sich permanent und unproduktiv ärgern, sehen oft verspannt aus, man sieht Spannungen um den Kiefer, einen zusammengekniffenen Mund, und der ganze Ausdruck wird gespannt und etwas spitz. Der Ausdruck von permanentem Ärger ist ganz nahe beim Neidausdruck. Und Neid wird ja gelegentlich auch als Neidärger bezeichnet.14
Es ist möglich, den Ärger und die Dynamik, die aus dem Ärger erfolgt, zu vermeiden, und der Leib drückt dann diesen nicht bearbeiteten Ärger aus. Daraus kann auch Mitleid mit sich selbst erfolgen, man pflegt dann den verspannten Körper. Gelegentlich ist diese Pflege ungünstig, etwa, weil sie durch Alkohol erfolgt. Man kann den »Ärger ersäufen«, man kennt neben den Kummertrinkern auch die Ärgertrinker. Es gibt allerdings weniger schädigendes Umgehen mit unausgedrücktem Ärger, sozusagen progressivere regressive Formen. Es gibt Menschen, die, können sie einen Ärger nicht ausdrücken und nicht anbringen, einfach schlafen oder meilenweit joggen. Wiederum andere kochen sich ein wunderbares Essen, wenn sie sich geärgert haben, denn das brauchen sie jetzt einfach – zur Besänftigung.
Eine andere Möglichkeit, die sehr nah bei der passiven Aggression ist, ist es, den Ärger abzuspalten, man ist dann einfach cool. Man sagt sich: Ich stehe über der Sache. Mich da zu ärgern, dazu gebe ich mich nicht her. Ich bin cool. Und man ist dann eben unnahbar, und der Ärger, den haben dann die anderen. Irgendwann kommt allerdings dieser delegierte Ärger auch wieder zurück.
Was bezwecken wir mit dem Ausdruck unseres Ärgers? Die Erwartungen sind ziemlich breit gespannt: Der Mensch, der uns geärgert hat, soll wissen, dass etwas in seinem Verhalten nicht in Ordnung ist – für mich. Er oder sie soll das Verhalten ändern in meinem Sinne und damit auch zugeben, dass er oder sie Unrecht hatte, er oder sie soll bereuen, soll sich schuldig fühlen und Wiedergutmachung leisten. Das heißt aber auch: Würden sich alle Menschen unseren Vorstellungen und Regeln gemäß verhalten, dann würden wir uns nie ärgern. Möglicherweise würden wir uns dann allerdings darüber ärgern, dass wir keinen Anlass zum Ärgern haben.
Im Ärger steckt einerseits das Reklamieren von Empathie: Wir teilen dem uns ärgernden Menschen mit, dass die Achtsamkeit in der Beziehung, so wie wir sie verstehen, verletzt worden ist, und dass diese Achtsamkeit sofort wieder hergestellt werden sollte. Würde diese Ärger-Mitteilung so aufgenommen, könnte sich das konstruktiv auswirken. Im Ärgerausdruck steckt aber meistens auch ein Machtanspruch, extrem ausgedrückt etwa so: »Ich bin das Maß aller Dinge, und es sollen sich gefälligst alle so benehmen, dass ich mich nicht ärgern muss, das heißt, alle haben sich meinem Maß anzupassen.« Und der Folgesatz heißt dann: »Entweder...