In meiner letzten Nacht in der Zivilisation, oder wie es Peter Reber in einem seiner Lieder so treffend ausdrückt, der „Zuvielisation“, schlafe ich erstaunlich ruhig und tief. Um 8 Uhr fahren wir zum Flughafen. Der Überflug mit zwei Zwischenlandungen auf kleineren Inseln ist einmalig. Der Anflug auf Bora Bora gehört laut vielen Reiseberichten zu den betörendsten Naturschauspielen, die der Pazifik zu bieten hat. Der amerikanische Schriftsteller und Inselspezialist James A. Michener nannte Bora Bora die allerschönste Lagune der Welt. Und wirklich, auch mich vermag dieser atemberaubende Anflug kurz vor Mittag zu verzaubern. Von hier oben hat man den Eindruck, der liebe Gott, hätte mit einem Pinsel ein kleines Paradies in den beinahe unendlich wirkenden, tiefblauen Ozean gemalt.
Der Flugplatz liegt auf einer kleinen separaten Insel. Per Schiff geht es zunächst kurz ins Hotel, übrigens das schönste, das ich je gesehen habe. In Sandras Zimmer kleide ich mich um und mache mich inselfertig. Danach steht ein Einkaufsbummel mit einem Einheimischen auf dem Programm. Es geht um die 100 Fr., von denen damals beim Vorstellungsgespräch die Rede war. Aber da ich bereits gesagt hatte, dass ich sie nicht brauchen würde, ist das Ganze für mich eher eine Alibiübung. Trotzdem schwatzt mir dieser Mann Mineralwasser und Schiffszwieback auf. Ich gebe nach, schwöre mir aber, nichts davon anzurühren.
Dann endlich ist es soweit: Zusammen mit dem Kamerateam, den Presseleuten und Sandra besteige ich ein kleines Boot. Der Tontechniker montiert versteckt ein kleines Mikrofon an meine Bluse, manchmal läuft die Kamera. Zum Glück fühlt sich das aber viel weniger schlimm an, als ich befürchtet hatte. Ich atme tief durch, nun ist es also soweit, mein Traum nähert sich der Erfüllung. Ein Einheimischer fährt uns mit seinem Boot durch kristallklares türkisfarbenes Wasser meinem Ziel entgegen. Ob man meinen kräftigen Herzschlag übers Mikrofon hören kann? Zum Glück kann es meine Gefühle nicht übertragen! Das gäbe ein schönes Durcheinander. Sie sind kaum zu beschreiben. Glück, Freude, Spannung wechseln sich ab mit Ängsten und Zweifeln und Hoffnung auf Erfolg. Plötzlich spukt mir dieses Wort durch den Kopf, daran habe ich noch gar nie gedacht. Natürlich soll die ganze Sache ein Erfolg sein, nicht nur für mich, vor allem auch fürs Schweizer Fernsehen. Aber was bedeutet Erfolg? Wie wird er definiert? Mir bleibt keine Zeit darüber nachzudenken, viel zu sehr zieht mich diese einmalige Naturkulisse in den Bann. Wir ziehen an verschiedenen Inseln vorbei. Geduldig wie ein kleines Kind, das vor dem Christbaum steht und wartet, bis es erfährt, welches Geschenk das seinige sein wird, warte ich voller Spannung darauf, welche Insel für mich bestimmt ist. Bewusst halte ich mich zurück und verkneife mir die Frage. Alle diese Inseln gehören zum Atoll von Bora Bora, eine ist schöner als die andere. Der Bootsführer ändert den Kurs, jetzt fährt er direkt auf eine Insel zu. Noch mehr Spannung, aber auch gleichzeitig noch mehr Freude, denn wir steuern auf eine paradiesisch schöne kleine Bucht zu. Weißer Sand, Palmen und das Gefühl, den Garten Eden vor mir zu sehen, wecken in mir ein unbeschreibliches Glücksgefühl. In meinen Träumen habe ich mir meine kleine Insel natürlich immer wunderschön vorgestellt, zum Selbstschutz versuchte ich mir jedoch immer wieder einzureden, dass eine solche Insel vielleicht auch gar nicht so paradiesisch sein könnte, der Strand ungepflegt oder voller Gestrüpp und der Sand verschmutzt. Und nun sieht alles noch viel schöner aus, als ich es zu träumen gewagt hatte. Der Kapitän lässt das Boot leicht auf Sand auflaufen, die Kamera habe ich vergessen. Überwältigt von meinen ersten Eindrücken springe ich hinaus und fühle mich, als hätte man mich soeben ins Paradies geführt. Wenn das meine Kinder sehen könnten! Ich schaue mich um, beginne sofort alles zu erkunden und sauge diese ersten Eindrücke auf wie ein trockener Schwamm. Das Fernsehteam hält sich vorerst diskret im Hintergrund. Sie lassen mich die ersten Augenblicke einfach nur für mich erleben und genießen. Danach jedoch wird es Zeit für ein paar Aufnahmen und ein Interview. Sandra fragt mich, was ich alles als Ausrüstung dabei habe. Allzu lang ist meine Liste nicht: Überlebenstasche mit Inselzelt, Taschenmesser, Angelrute, Kompass mit Lupe, kleine Hängematte, Notapotheke und Schnur. Zusätzlich ein Schlafsack, ein kleines Beil, Mücken- und Sonnenschutzmittel, ein Pullover, ein paar lange Hosen, ein Regenschutz, das von Hans konstruierte Destilliergerät, meine Fotoausrüstung und mein Tagebuch. Wir reden noch lange über die Gefühle, die dieses Abenteuer bisher in mir ausgelöst hat, darüber, was alles sein könnte und über Wünsche und Vorstellungen. Da das Fernsehen auf keinen Fall ein Risiko eingehen will, wird beschlossen, dass sie täglich per Funk mit mir Kontakt aufnehmen werden. Immer zur selben Zeit und am selben Ort. Nur von einer Stelle auf der Hauptinsel aus ist es möglich, mit mir in Funkkontakt zu treten. Da ich nicht unbeschränkt Batterien zur Verfügung habe, legen wir fest, um welche Zeit ich mein Gerät einschalten soll. Den Funk hätte ich eigentlich nicht gebraucht, aber ich verstehe das Argument der Sicherheit. Nur, was wäre, wenn mir fünf Minuten nach einem Funkspruch etwas passieren würde? Dann müsste ich mir auch selber helfen, denn das Fernsehteam ist für mich ja ohnehin unerreichbar – und bis zum nächsten Tag...! Zum Glück sind Ängste oder Zweifel diesbezüglich kein Thema für mich. Im Vertrauen darauf, dass ich mir schon zu helfen wüsste, ist das mit dem Funk für mich eine Alibiübung.
Langsam erwacht in mir das Bedürfnis, die kleine Insel endlich für mich allein zu haben, allein gelassen zu werden. Viel gibt es nicht mehr zu sagen. Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Letzte Umarmungen, gute Wünsche und dann sind es nur noch ein paar Fragezeichen, die in der Luft stehen. Plötzlich wird jedes Wort zu viel. Für mich fühlt sich nun alles sehr eigenartig an, es ist, als müsste jemand endlich einen Schnitt machen, ein Band durchtrennen. Einen Moment scheint einfach alles stehen zu bleiben, die Zeit steht still, die Worte bleiben aus, die Augen wissen nicht, wohin sie ihren Fokus richten sollen, selbst Bewegungen nehme ich kaum mehr wahr. Dann geht alles blitzschnell. Meine Begleiter besteigen das Boot und nehmen noch einen streunenden Hund mir, der bereits meinen Schiffszwieback gefressen hat. Ich bin nicht sicher, ob ich froh darüber sein soll oder ob mir seine Gesellschaft nicht vielleicht wertvoll gewesen wäre. Langsam bahnt sich das kleine Boot rückwärts seinen Weg aus der traumhaften Bucht. Am Ufer stehend winke ich und warte, bis es sich in einen winzigen Punkt verwandelt und schließlich ganz meinem Blick entschwindet. Lebt wohl, meine Freunde, denke ich und muss schmunzeln. Noch vor ein paar Tagen waren wir Fremde füreinander, und nun ist durch dieses Abenteuer zwischen uns so etwas wie ein freundschaftliches Band entstanden. Vielleicht liegt es daran, dass sie mich auf diesem für mich wichtigen Weg begleitet haben, vielleicht daran, dass man so weit von der Heimat viel schneller Freundschaften schließt, weil man sich im Schicksal „Fremde in der Ferne“ verbunden fühlt. Wie auch immer, in mir ist das Gefühl, dass es meine Freunde sind, die soeben meinem Blick entschwunden sind.
Selbst als längst nichts mehr von einem Boot oder auch nur einem Punkt zu sehen ist, stehe ich immer noch wie erstarrt am Ufer. Da bin ich nun also. Ich gebe mir einen inneren Ruck, mich endlich zu bewegen. Langsam nehme ich die Bilder meiner Umgebung noch einmal auf. Diesmal ganz bewusst, ruhig, forschend und analysierend. Es ist, als wollte ich jetzt auch meiner Seele Zeit geben anzukommen.
Für eine Weile setze ich mich in den warmen Sand und denke über meine nächsten Schritte nach. Als Erstes brauche ich einen Lagerplatz, dazu ist es wichtig, die Insel ein wenig zu erforschen. Ob es wohl irgendwo Wasser gibt? Was werde ich...