Wie es zu diesem Buch kam
Von der Begeisterung und dem Enthusiasmus eines „allwissenden“ und „lebenserfahrenen“ Endzwanzigers getrieben, traten wir eine Selbsterfahrungswoche in der freien Natur an. Wir, das sind mein Freund zum „Pferdestehlen“ namens Alex und ich, die begeisterte Schreiberin dieses Buches. Ich bin seit meiner Geburt mit einer Vielzahl von Ideen im Kopf ausgestattet und Alex mit seiner technischen Ausbildung sorgt seit dem Zeitpunkt unseres Kennenlernens für deren Umsetzung. Mit den, aus meiner Sicht, theoretischen und, aus Alex Sicht, realistischen Plänen im Kopf starteten wir voller Elan in unsere Selbsterfahrungswoche.
„Vom nördlichen Waldviertel beginnend, querfeldein in Richtung Donau, zum wunderschönen Stift Göttweig und dann weiter, den Jakobsweg entlang, bis Stift Melk“, lautete die geplante Route der Wanderung. Wir wählten nicht gleich die verschärfte Version mit Nächtigung im Freien, da die Nächte im Waldviertel zu Ostern schon noch sehr kalt sein können, aber die Essensversorgung wollten wir, so gut es geht, mit Pflanzen und Früchten, rein aus der Natur, abdecken. Meine Eltern lehrten mich ja schließlich von Kind auf, die bei uns beheimateten Pflanzen zu erkennen und auch zu verwenden. Im Rucksack hatten wir Traubenzucker, zwei Flaschen mit Wasser zum Trinken, einen Gaskocher mit dazugehörendem Geschirr, Äpfel und Bananen sowie Schokolade für Notfälle und natürlich ein ordentliches Taschenmesser.
Die Temperatur war tagsüber für Ostern schon angenehm warm, abends zogen wir uns die Jacke über. Zur Entlastung unserer aus dem Winterschlaf gerade erst erwachten Gelenke beschlossen wir, mit Wanderstöcken zu gehen.
Auf unseren ersten fünf Kilometern Fußmarsch redeten wir über Gott und die Welt, die Füße gingen noch leicht dahin und über das Essen machten wir uns keinerlei Gedanken, hatten den ganzen Tag über kein Hungergefühl. Gegen Abend, wir hatten 30 Kilometer Fußmarsch zurückgelegt, fiel uns ein einsames Gebäude abseits jeglichen Dorfes mit dem Schild „Urlaub am Bauernhof“ ins Auge. Schnurstracks starteten wir darauf zu und wirklich, eine ältere Dame mit dunkelrotem Kopftuch nahm uns beide auch gastfreundlich auf. Dass man nicht überall, wo „Nächtigung“ draufsteht, auch wirklich nächtigen kann, sollten wir später noch erfahren.
Eines unserer angestrebten Ziele war es, uns mit Essen aus der Natur zu versorgen und lediglich die Nächtigungsstätten in Anspruch zu nehmen sowie die Wasservorräte aufzufüllen. Dieser Abend sollte unsere erste Lektion werden. Die zierliche Bäuerin mit dem roten Kopftuch zeigte uns die Zimmer und ging wieder ihrer Arbeit nach. Überglücklich bezogen wir sie mit unseren spärlichen Habseligkeiten und entledigten uns sofort der schweren Wanderschuhe. Streckten unsere müden Füße einfach einmal gerade aus.
Alex ist ein liebenswerter, verständnisvoller Zeitgenosse, solange ihn kein gröberer Hunger plagt. Mit seinem mehr gräulichen als brünetten Stoppelbart und seinen blauen Augen fragte er mich mit knurrendem Magen durch die offenen Zimmertüren, was wir heute essen würden. Eigentlich selbst schon eher dem Traumland nahe als für eine erfolgreiche Pflanzenjagd aufgelegt, erklärte ich ihm vorsichtig, dass wir jetzt noch unser Abendessen sammeln dürften. Unser erster gemeinsamer Abend dieser Wanderung verlief sammelnderweise und wortlos zwischen den Wiesenkräutern. Das Abendmenü reichte von knackfrischem Spitzwegerich über Schafgarbenblätter bis hin zum Löwenzahn, jeweils in ihrer botanisch kleinsten Größe. Wir hatten zwar beide etwas im Magen, doch noch bevor sich ein Sättigungsgefühl einstellen konnte, überwältigte uns das Bedürfnis nach Nachtruhe. So wortlos das Sammeln verlaufen war, so wortlos gingen wir beide mit „grummelndem“ Magen jeder in sein Zimmer.
Am nächsten Tag schien die Welt schon wieder viel freundlicher zu sein, wir waren auch wieder besser aufeinander zu sprechen. Am Weg beschlossen wir von nun an, schon viel früher mit dem Pflanzensammeln zu beginnen. Wir legten sehr viele Pausen ein, um immer wieder in den Wiesen nach essbaren Pflanzen Ausschau zu halten. Diese „Winzlinge“ sammelten wir, um sie einerseits auf dem Weg zu naschen und andererseits zu Mittag mit dem Gaskocher daraus eine Suppe zu kochen. Die heutige Lektion war eine der einprägsamsten auf der ganzen Strecke. Wir schafften ganze 10 Kilometer Fußmarsch. Entweder wir sammelten Pflanzen zum Essen oder wir gingen. Beides gleichzeitig war nicht möglich. Die Sammelzeiten, um ein für unsere Breiten durchschnittliches Sättigungsgefühl zu erreichen, sind mit dem Gehen nicht zielführend kombinierbar. Seit diesem Zeitpunkt verstehen wir, was uns unsere Volksschullehrerin damit sagen wollte, als sie meinte: „Früher waren die Menschen Jäger und Sammler.“
Um alle Familienmitglieder zu sättigen und auch noch einen Wintervorrat anzulegen, bedarf es eines Vollzeitjobs der Nahrungsmittelbesorgung. Deutlich wurde uns klar, dass so ein Marsch ab Sommeranfang weit empfehlenswerter ist, zumindest ist hier die Größe der verfügbaren Pflanzen schon etwas fortgeschrittener und deren Auswahl vielfältiger. Was wir in unserer theoretischen Planung nicht bedacht hatten, doch die Praxis schonungslos zutage brachte, war die Tatsache, dass zu Ostern die Wildpflanzen gerade mal exakt ein bis zwei Zentimeter an Wuchshöhe aufweisen und weder Äpfel, Birnen, Zwetschken oder Marillen und auch keine Erdbeeren oder Kirschen in der Natur zu finden sind. Nicht einmal Erdäpfel können zu dieser Jahreszeit den nagenden Hunger stoppen.
Wir aßen zwar den ganzen Tag über Wildkräuter, unsere zurückgelegte Wegstrecke war jedoch deprimierend und wirklich satt wurden wir nicht. Gegen Abend führte uns der Weg nach einer Waldlichtung an einem kleinen Holzhaus mit einem alten Stadel davor vorbei. Auf einem verwitterten Holzschild war noch schwach der Schriftzug „Zimmer frei“ zu lesen. Der nette Herr mittleren Alters verkündete uns freudig, dass sie noch zwei Zimmer frei und seine Frau für eine Wandergruppe gerade frische Mohnzelten gebacken hätte. Wenn wir wollten, können wir gerne welche haben. Gleichzeitig willigten wir beide ein, unseren Vorsatz zu brechen und die köstlich duftenden Mohnzelten zu essen. Das waren die besten, die wir je zu essen bekommen hatten. Ein knuspriger Teig und viiiiieeel Mohnfülle, Rosinen und ein Schuss Rum – ich glaube, wir haben jeder drei Stück davon verdrückt. Nach dieser Wohltat war auch Alex mir gegenüber wieder gesprächiger.
In dieser Nacht wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, was es früher für eine Mutter mit kleinen Kindern, deren Mann im Krieg eingerückt war, bedeutet hatte, wenn sich ein Kind verletzte und die nächste ärztliche Hilfe über 30 Kilometer weit entfernt war! Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, wo in jedem Haushalt ein Auto zur Verfügung stand. Bei Krankheiten oder Verletzungen setzte man sich hinein und fuhr in das nächstgelegene Krankenhaus oder zum Arzt. Ein Festnetztelefon bekamen wir, als ich etwa 15 Jahre alt war. Heute rufen wir mit dem Handy den Notruf und binnen Minuten wird uns geholfen. Eine Wegstrecke von 30 Kilometern legen wir mit dem Auto in 20 Minuten zurück. Doch eigentlich ist es ja noch gar nicht so lange her, dass diese besagten 30 Kilometer für einen gesunden Menschen einen flotten Tagesmarsch bedeuteten.
Alex und ich machen viel Bewegung, gingen flotten Schrittes, auch mal quer über Ast und Stein, doch 30 Kilometer sind nicht so schnell nebenbei zu Fuß zurückgelegt und das nur mit dem Rucksack als Gepäck! Für eine Mutter mit ein paar Kindern ein unmögliches, manchmal über Leben und Tod bestimmendes Faktum. Wie hat die Menschheit die Jahrtausende bis heute überleben können?
In meiner Kindheit wurde erst ein Arzt zu Hilfe gerufen, wenn alle zur Verfügung stehenden Hausmittelchen nicht wirkten. Dem Arzt zählten meine Eltern dann auf, was wir schon gemacht hatten, er sah uns mit seinem liebevollen Großvaterblick einmal tief in die Augen, horchte unsere Atmung ab, schrieb etwas auf einen Zettel oder sagte meinen Eltern, was sie noch probieren könnten, und beim Hinausgehen bekamen wir von seiner netten Frau ein Zuckerl als Belohnung geschenkt. Es gab nach den Hausmittelchen eine „Notlösung“. Für Menschen, die in den abgelegenen Waldviertler Streusiedlungen wohnten, bestand oft keinerlei „Notlösung“. Was wurde hier in ernsthaften Situationen wirklich gemacht? Welche Pflanzen verwendeten sie mit welchen Rezepturen? Welches Überlebenswissen wurde hier, aus dem wirklichen Alltag heraus, gesammelt und mündlich von Generation zu Generation weitergegeben? Diese und noch viele weitere Gedanken beschäftigten mich in dieser Nacht.
Einhellig beschlossen wir am nächsten Morgen, eine kleine Planänderung durchzuführen. Wir hatten doch täglich eine Wegstrecke von 20 bis 30 Kilometern zurückzulegen, wollten wir Stift Melk innerhalb unserer knappen Urlaubstage erreichen. Am folgenden Tag würden wir...