Lucys Schatten
„Was machst du Ostern?“, fragte Lucy.
„Nichts besonderes“, sagte David. „Bisschen schwimmen, bisschen Tennis, bisschen feiern. Mal sehen, worauf ich Lust habe.“ Sie telefonierten schon 5 Minuten lang. Sie hatten sich gegenseitig mitgeteilt, dass es ihnen gut ging, und dass in der letzten Woche nichts Aufregendes geschehen war.
Lucy war auf zwei Parties gewesen und hatte einmal bei Ira gefrühstückt. „Eigentlich heißt sie Elvira. Aber darüber schämt sie sich“, sagte Lucy. Es hatte selbstgemachte Kirschkonfitüre gegeben: „Himmlisch, sage ich dir!“ David war auf keiner Party gewesen. Er hatte Lucy zum Ausgleich über die Wetterlage berichtet: Wolkig bis heiter, Höchsttemperaturen bei 20 Grad.
„Warum fragst du?“, fragte er.
„Warum frage ich was?“
„Warum fragst du, was ich Ostern mache?“
Lucy schwieg einen Augenblick. „Hallo, bist du noch da?!“, rief David.
„Ja“, sagte Lucy und dann mit Kinderstimme: „Möchtest du, dass dir der Osterhase etwas ganz Schönes bringt?“
David überlegte, was er darauf antworten sollte. Nein? — „Ja“, sagte er.
„Möchtest du es wirklich, wirklich, wirklich?“ „Ja“, sagte er. „Wirklich.“
„Möchtest du, dass dir der Osterhase Lucy bringt?“ Er hatte es geahnt. Er hatte die Frage erwartet. Er wusste trotzdem keine Antwort darauf. Er hatte es die ganze Zeit vor sich hergeschoben.
„Hallo?!“, sagte Lucy. „Bist du noch da? Hallohallohallo?!“
„Schlech...bindung“, log er schreiend ins Telefon. „...as ha... du . . . sagt?“ Er kratzte zusätzlich mit einer Streichholzschachtel gegen die Sprechmuschel.
„Ich kann einen Flug für die nächste Woche kriegen!“, schrie Lucy. „Für nächste Woche! Flug! Ostern!“
David wollte nachdenken. „... eiss-Te... !“, schrie er. „...orgen aben...“
„Nach neun!“, schrie Lucy. „Nach neun!“
„...iederseh...!“, schrie David und legte auf.
Er ging in die Küche und holte sich einen Cognac. „Lucy“, dachte er, während er mit dem Cognac im Schwenker zu seinem Lieblingssessel neben den Bücherregalen schlurfte. „Was wird, wenn sie kommt?“
Er und Lucy kannten sich schon eine Reihe von Jahren. Er war ihr von einer Astrologin prophezeit worden. „Sie werden“, hatte sie gesagt, „einem Mann aus dem Süden begegnen. Sie werden ihn auf einer Party kennenlernen. Er wird ihr Leben verändern, jedoch nicht sofort. Zunächst wird es auf- und abgehen, es wird stürmisch zugehen, denn der Mann ist ein schwieriger Mensch. Eines Tages jedoch werden Sie beide einen ruhigen Hafen anlaufen. Er ist übrigens vermögend.“
Lucy war 40. Als sie kurz nach der Prophezeiung David anlässlich eines Abendessens im Westend begegnete, wusste sie, dass die Sterne nicht gelogen hatten. Sie wusste auch, dass sie sich in Geduld fassen musste.
Lucy war schön. Sie war schlank und dunkelhaarig mit Kastanienschimmer, echt. Sie hatte strahlende Augen und ein strahlendes Lächeln. Sie konnte immer strahlend lächeln, selbst, wenn ihr nicht danach war. Sie war deshalb schon mit 22 ein begehrtes Fotomodell gewesen. Sie war auch mit 40 immer noch erfolgreich und verdiente mehr, als sie zum Leben brauchte. Aber es störte sie, dass sie jetzt für Margarine lächeln musste und ihr ein Titelbild für „Vital“ angetragen worden war, während man sich früher für Gold, Parfum und Badeschaum um sie gerissen hatte.
Es gibt im Leben jeder Frau den Augenblick, an dem sie von einem Alter abrupt in ein anderes tritt. Für Lucy war jener Augenblick gekommen, als „Playboy“ ihr anbot, in seiner Abteilung „Evergreens“ zu erscheinen, nackt zudem. Sie nahm die Offerte an, schon weil Raquel Welch auch dabei sein sollte, aber sie beschloss, dass sich nun bald etwas ändern sollte, müsste und würde.
David war Bühnenbildner. Sein Beruf war zugleich der Grund, warum er es sich leisten konnte, auf der Insel zu wohnen. Er reiste ein paar Mal im Jahr nach Deutschland und Österreich, um Aufträge zu übernehmen und sie in den verschiedenen Entwurfsstufen zu diskutieren. In Wien und in Berlin hatte er je eine kleine Wohnung mit Atelier. Er war fünf Jahre älter als Lucy und um ein Mehrfaches weniger schön:
Mittelgroß, rundlich, mit beginnender Glatze und rötlichblondem Resthaar. Er war sein Leben lang unverheiratet geblieben, und wenn man ihn fragte, warum, dann antwortete er: „Weil ich die Frauen zu sehr liebe, um sie in eine unliebenswürdige Lage zu bringen.“ Das konnte ein Kompliment für die Frauen sein oder auch nicht, aber er deutete das nicht weiter aus und überließ es jedem einzelnen, daraus seine Schlüsse zu ziehen. Er befand sich aber gern in Gesellschaft von Frauen, und Frauen fühlten sich in seiner Gesellschaft wohl. So hatte er es geschafft, über zwei Jahrzehnte hinweg ein begehrter Junggeselle zu bleiben, und nur Lucy ...
David wusste, dass sich der Augenblick der Wahrheit näherte. Lucy war geduldig den Weg gegangen, den Sterne und Instinkt ihr vorgezeichnet hatten. Auf und ab, links und rechts, durch Sturm und Regen, September und Mai und vor allem: immer geduldig. Sie hatte die Beziehung an der langen Leine laufen lassen und nur hin und wieder vorsichtig daran gezupft. Sie war nie auf die Insel gekommen, aber sie rief ihn einmal in der Woche an. Wenn er nach Europa kam, schlief er manchmal bei ihr, und sie schlief manchmal bei ihm. Bisweilen trafen sie sich in Frankfurt oder Hamburg, in München oder Düsseldorf, auch schon mal in Zürich oder Paris, wenn sie dort zu Aufnahmen war und er bei seiner Theaterarbeit. Dann gingen sie abends miteinander essen und nahmen wohl auch ein Zimmer im selben Hotel.
Es wurde also ernst. Bei ihrem letzten Treffen hatte Lucy über die Zukunft zu reden begonnen. „Wie soll es eigentlich zwischen uns weitergehen?“, hatte sie gefragt. „Liebst du mich überhaupt, oder bin ich für dich so etwas wie ein Fertiggericht von La-Croix? – Delikat und schnell auf dem Teller?“ Sie hatte ein wenig Champagner getrunken, als sie das sagte. Lucy trank selten. Sie wurde eigentlich auch schon nach dem ersten Glas ein bisschen dümmer. Sie wusste es und trank im allgemeinen Apfelsaft oder Schweppes, obwohl sie die Werbung dafür blöd fand. „Liebst du mich überhaupt?“ Diese Frage tauchte an jenem Abend noch mehrere Male auf.
„Ich habe noch nie jemanden so geliebt wie dich“, hatte David schließlich gesagt. Es war ihm ganz besonders klug vorgekommen, das so auszudrücken. Überall waren kleine Schlupflöcher. Es konnte sogar heißen, dass er sie überhaupt nicht liebte. Später musste er feststellen, dass seine Wortspielereien allenfalls ihm selbst etwas brachten. Lucy hatte weder Zeit noch Lust, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie nahm die Antwort für gute, bare Münze. Nach jenem Abend hatte sie zum Endspurt angesetzt.
„Wenn sie kommt“, sagte David zu seinem Cognac-Schwenker, „bin ich nicht sicher, ob wir ungeschoren rauskommen.“
„Möchtest du denn überhaupt ungeschoren rauskommen?“, fragte der Cognac-Schwenker dumm, wie ein Echo, zurück.
David wusste es nicht. Einerseits und andererseits. Er war an die 30 Jahre heil davongekommen. Er war sich manchmal nicht sicher, durchaus nicht sicher, dass es so bleiben sollte. Er war sich manchmal sehr sicher, ganz und gar sicher, dass es so bleiben sollte.
„Tu doch einfach so, als ob sie hier ist“, regte der Cognac im Schwenker an, oder jedenfalls kam es David so vor. Das erschien ihm eine gute Idee. Je länger er darüber nachdachte, und je weniger Cognac im Schwenker war, umso besser erschien ihm die Idee. „Das ist gut“, sagte er zu seinen Gesprächspartnern. „Das ist ausgezeichnet. Ich werde morgen einen ganzen Tag lang so tun, als ob sie hier ist. Ich werde einen Tag mit Lucys Schatten leben.“ Er trank den Cognac aus und stellte den Schwenker auf das arabische Kupfertischchen neben seinem Lieblingssessel. Er stand auf. „Ich gehe jetzt ins Bett“, sagte er und knipste das Licht aus.
„Recht angenehme Nachtruhe“, sagte der Cognac-Schwenker höflich. Der Cognac selbst schien bereits zu schlafen. Er war allerdings auch schon sehr alt.
Der nächste Morgen hätte nicht besser beginnen können. David fand in der Küche frische Milch und frische Brötchen vor. Seine Haushilfe hatte sie mitgebracht. Auf einem Tablett mit einem Deckchen, das nie zweimal benutzt wurde, stand alles, was ihm zum Frühstück Freude machen könnte: Marmeladen, Käse, kaltes Fleisch, ein weichgekochtes Ei in einem zugedeckten Körbchen. Das Kaffeewasser kochte. David brauchte nur noch zu dosieren und aufzugießen, eine Handlung, die er sich selber vorbehielt, seine Haushilfe wusste das. Sie hatte sich übrigens unsichtbar gemacht, denn David mochte kein Geschirrklappern und Rumoren in der Küche, während er noch frühstückte. Die Haushilfe wusste auch das, und nutzte diese Zeit für andere Arbeiten.
David goss den Kaffee auf und brachte alles zusammen auf dem Tablett ins Frühstückszimmer. Das Frühstückszimmer war eigentlich nur eine erkerartige Ausbuchtung seines Schlafzimmers. Er hatte es durch Farben optisch abgetrennt, helle Weiß- und Gelbtöne unterstrichen das, was David Morgenstimmung nannte.
David setzte sich an den Frühstückstisch. Während er wartete, dass der Kaffee zog, trank er in kleinen Schlucken Fruchtsaft und las die Zeitschriften, die am Tag zuvor mit der Post gekommen waren.
Neben ihm lagen Papier und Bleistift. Hin und wieder, ausgelöst durch einen Artikel oder gedankliche Spaziergänge, machte er sich Notizen auf den kleinen Zettel. Die Notizen sahen so aus:
La Boheme — Ashbury Heights?
Mayonnaise und Eier kaufen.
Hundefutter...