Diesen Veranstaltungen am zweiten Weihnachtsfeiertag kam, was ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Leben im Ort anging, der Charakter von Staatsakten zu, die daher auch immer das gleiche, streng festgelegte Ritual aufwiesen. Zunächst wurden Getränke und Speisen bestellt, dann die Ehrungen vorgenommen, schließlich gesungen. Im Anschluss ging für drei Stunden das Licht aus, wurden die Theaterstücke aufgeführt, zunächst ein ernstes, danach ein lustiges. Als Dank für ihre Teilnahme wurden die Akteure zu Beginn des jeweils neuen Jahres vom Verein zu einem Essen in das „Alte Ludwigstal“ eingeladen.
Als Jugendliche führten sie auch in jenem Zelt, das im Schulhof aufgestellt war, Theaterstücke auf, die der damalige Rektor Karl Rau zu jedem Mathaisemarkt neu verfasste. Sobald die Aufführung begann, wurde das Licht gelöscht, und das Publikum war für eine Stunde mucksmäuschenstill. „Selbst die Besucher, die unten im Zehntkeller feierten, bewegten sich, wenn rauf zur Toilette gingen, fast wie auf Zehenspitzen – eine Disziplin, die heute undenkbar wäre.“65 Nachdem Riehl mit 15 Jahren im Männergesangverein Liederkranz aktiv geworden war, nahm ihn sein Mentor Walter Krämer auch abends mit in das Festzelt.
Im Alter von 18 Jahren unternahm Riehl erstmals selbstständige Schritt im Vereinsleben: 1960 wurde er Mitglied im „Lyra-Quartett“66 – als Evangelischer mit Katholiken. Damals, als in einer Gemeinde von der Größe Schriesheims Ökumene noch ein Fremdwort war, ein fast schon revolutionärer Akt.
Sein Partner bei dieser Initiative war Ludwig Reinhard, ganze zwei Tage älter als Riehl. Riehl und Reinhard besuchten gemeinsam das Carl-Benz-Gymnasium in Ladenburg. Danach verloren sich die beiden zunächst aus den Augen, als Riehl eine Ausbildung in der Hoheitsverwaltung und Reinhard seine in der Finanzverwaltung begann. Einige Jahre später trafen sie wieder zusammen. Riehl sang seit Herbst 1957 im Liederkranz, Reinhard in der Lyra, als beide 1960 von ihren jeweiligen Vereinen auf einen Kurs zur Ausbildung als Vize-Dirigent entsandt wurden. Reinhard war damals in einer Gruppe junger Sänger im Alter von so um die 18 Jahre aktiv, die jeweils sonntags nach dem Gottesdienst im katholischen Gemeindehaus zusammenkamen. „Komm doch einfach einmal vorbei“, wurde Riehl von Reinhard eingeladen. Riehl nahm das Angebot an, und zwar regelmäßig. Gemeinsam trat man sogar öffentlich auf - unter dem Namen „Lyra-Quartett“.
Lyra-Quartett bei einem Auftritt im Jugenddorf von Klingen in Seckach 1964. Von links: Lehrer Beuchert, Pfarrer Magnani mit zwei Heimkindern, Georg Schmich, Peter Kraft, Ewald Blümel, Karl-Heinz Schmitt, Karl-Heinz Reinhard, Karl-Heinz Schardt, Ludwig Reinhard, Eugen Gestoehl, Franz Weber, Walter Schwarz, Peter Schlechter, Hans Peter Erdmann, Christoph Müller, Peter Schneider, Günter Reinhard.
Lyra-Quartett im Nebenzimmer der „Linde“ im November 1961. Vor dem Fenster beginnend im Uhrzeigersinn: Ute Amann, Karl-Heinz Schardt, Franz Weber, Walter Schwarz, Renate Schardt, Gerda Friedrich, Günter Reinhard, Anni Stumpf, Hans Peter Erdmann, Peter Riehl, Ludwig Reinhard, Hans Becher, Karl-Heinz Reinhard, Hannelore Wetter, Karl-Heinz Schmitt, Georg Schmich, Ewald Blümel; am Nebentisch: Richard Kraft.
Als einziger Evangelischer in einer Musikformation, die ansonsten ausschließlich aus Katholiken bestand – das war natürlich eine Revolution. Bürgermeister Wilhelm Heeger, Kirchenältester in der evangelischen Gemeinde, zitierte Riehls Vater zu sich und fragte ihn, ob er denn wisse, was sein Sohn da so treibe. Theodor Riehl teilte dieses Unverständnis des eingefleischten Protestanten durchaus und gab dieses auch an seinen Sohn weiter, der sich davon allerdings nicht beirren ließ. Ja, Peter Riehl trat im Rahmen des „Lyra-Quartetts“ sogar als Solist auf. „Es war ein Stück Aufbrechen alter Gegensätze“, hält Riehl selbst sich heute zu Gute. Doch die Revanche des Liederkranzes ließ natürlich nicht lange auf sich warten: Trotz des erfolgreich absolvierten Lehrgangs wurde der junge Riehl in seinem Stammverein kaum noch als Vize-Dirigent eingesetzt.
Dafür erlebte er mit dem Lyra-Quartett wunderbare Jahre. 1963 unternahm er mit dieser Formation sogar die erste Auslandsreise seines Lebens, und zwar nach Salzburg. Für diesen Auftritt wurde er sogar einige Tage von seiner Fahnenjunker-Ausbildung bei der Bundeswehr freigestellt. Sein Engagement im Lyra-Quartett währte denn auch bis kurz vor seinem Amtsantritt als Bürgermeister.
Bundeswehr
Peter Riehl wurde am 30. März 1962 im Kreiswehrersatzamt Mannheim gemustert und erhielt die Tauglichkeitsstufe T 3 – in dem Bereich zwischen dem körperlichen Top-Zustand T 1 und der Untauglichkeit T 5 ein Mittelwert. Als Grund für die Einschränkung der Tauglichkeit gab das von einem Medizinalrat namens Hällmeyer unterzeichnete ärztliche Untersuchungsergebnis einen „mangelnden Gesamtzustand“ an; für mehrere Einsatzformen, etwa die ABC-Truppen, war Riehl damit ungeeignet.
Das Ergebnis der Musterung war für Peter Riehl kein Grund zur Freude, denn er wollte partout nicht zur Armee. Fernab der Heimat in einer anonymen Kaserne zu sein, das war für den jungen Mann, dessen Leben bislang von heimischer Geborgenheit geprägt war, ein Graus. Von seinen Eltern wurde ihr Sohn in dieser Haltung noch bestärkt. Sein Vater war geprägt von seiner eigenen Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg. Der Mutter wiederum machte der Gedanken schwer zu schaffen, in einem möglichen Kriegsfalle den einzigen Sohn verlieren zu können. Noch hoffte die Familie, der Vater werde – gemeinsam mit dem Bürgermeister – irgendetwas unternehmen können, um die Einberufung zu verhindern; doch über die Verschiebung der Einberufung auf Grund der Verwaltungsausbildung um ein Jahr hinaus war nichts zu machen.
Grundausbildung bei der Bundeswehr in Walldürn.
Peter Riehl (erste Reihe links) im Kreise seiner Kameraden beim Fahnenjunker-Lehrgang in Immendingen.
Mit Datum vom 20. Mai 1963, ausgerechnet seinem 21. Geburtstag, erhielt Peter Riehl per Adresse seiner Eltern in der Alfred-Herbst Straße 15 ein Schreiben des Mannheimer Kreiswehrersatzamtes mit seinem Einberufungsbescheid67. Da er jedoch an diesem Tage nicht zuhause, sondern die Woche über in Buchen war, sah er diesen Bescheid erst am darauffolgenden Samstag, als er wie gewohnt am Wochenende nach Hause kam. Zum 1. Juli 1963, 18 Uhr, hatte er sich in Wildflecken/Röhn beim Ausbildungskompanielager 4/12 „zum Dienstantritt zu stellen“, wie es in dem Schreiben hieß. Das Wochenende war damit für ihn natürlich gelaufen. Er nahm das Papier, knüllte es zusammen und warf es unters Bett; noch heute sind an dem Dokument die Spuren dieser Erregung deutlich zu erkennen.
Doch auch dies half natürlich nichts: Am 1. Juli 1963 machte sich Riehl, übrigens in dem schwarzen Anzug von seiner Konfirmation gekleidet, mit der OEG auf nach Heidelberg und von dort mit dem Zug nach Wildflecken. Vom dortigen Bahnhof wurden die Rekruten mit dem Bus in die Ausbildungskompanie 4/12 gebracht.
Bereits die ersten Tage bestätigten Riehls schlimmste Befürchtungen, waren für ihn schlichtweg eine Qual. Riehl wog damals stolze 105 Kilogramm. Einen Arbeits- und Kampfanzug, dessen Hosen und Jacken ausgebeult waren, fand man für ihn zwar gerade noch, nicht jedoch eine Dienst- und Ausgeh-Uniform in seiner Größe. So musste er zu offiziellen Anlässen im Zivilanzug antreten, brauchte ohne Uniform zwar sonntags nicht mit in die Kirche, musste dafür aber die Stube schrubben.
Mit der Stube selbst hatte Riehl noch Glück. Statt der sonst üblichen Zwölfer-Stube hatte er eine Vierer-Stube erwischt. Mit seinen drei Kameraden entwickelte sich ein angenehmes Verhältnis mit einer gewissen Arbeitsteilung; jeder machte das, was er am besten konnte. Für das Bettenmachen und das Einrichten der Spinde etwa war derjenige unter ihnen zuständig, der im Zivilberuf Dekorateur war, so dass die Betten in dieser Stube jedenfalls beim Spieß niemals Anstoß erregten.
Schlimmer waren dagegen die körperlichen Anforderungen der Grundausbildung. Schon die 700 Meter des morgendlichen Gangs von der Stube zum Frühstück im Gleichschritt waren für Riehl eine Tortur. Aber irgendwann im Laufe dieser Wochen packte ihn auch der Ehrgeiz, und er nahm die Herausforderung an gemäß dem Motto „Denen zeig ich`s“. Nach einiger Zeit entwickelte sich sogar so etwas wie Begeisterung für den Militärdienst.
Peter Riehl als Rekrut 1964.
Riehl (r.) mit seinen Kameraden auf der Stube beim...