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E-Book

Sommerhelle Nächte

Unser Jahr in Island

AutorSarah Moss
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783866483071
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Was ist das für ein Land, in dessen Supermärkten man vergeblich nach frischem Gemüse sucht, dafür aber auf abgepacktes Walfleisch stößt? In dem man Waffen mit an Bord eines Flugzeugs nehmen darf (und sogar fünf Kilo Munition, solange diese in einer anderen Tasche stecken)? In dem das Verkehrsamt ein sagenhaftes unsichtbares Volk befragt, bevor es den Verlauf einer neuen Straße plant? Die Antwort lautet: Island. In dem Jahr, als ganz Europa auf das kleine Land im hohen Norden schaut, weil seine Wirtschaft implodiert und sein (seither berühmtester) Vulkan Eyjafjallajökull explodiert, zieht die Britin Sarah Moss mit ihrem Mann und den zwei kleinen Söhnen nach Reykjavík, wo sie vor allem eins lernt: zu staunen. Über das merkwürdige isländische Konsumverhalten, lebensgefährliche Vorfahrtsregeln, über 13 atheistische Weihnachtsmänner, flüssige Lava, kochenden Treibsand, Mondschatten und über Polarlichter, die in den sommers ewig hellen Nächten wie außerirdische Wesen über den Himmel wabern. 'Sommerhelle Nächte' ist eine geistreiche Reflexion darüber, was es bedeutet, fremd zu sein, und eine empathische Erkundung der von extremen Umweltbedingungen geprägten Kultur Islands. Moss' ironische Erzählweise und ihre Gabe, Alltagssituationen zu beobachten und daraus treffsichere Schlüsse sowohl auf die isländische Mentalität wie auch auf sich selbst zu ziehen, machen ihren Reisebericht zu einer ebenso informativen wie kurzweiligen Lektüre.

Sarah Moss, geboren in Schottland, studierte und promovierte an der Oxford University. Nach Stationen am University of Exeter's Cornwall Campus und an der Universität Island lehrt sie heute an der University of Warwick. Bei mare erschien bereits ihr bei Presse und Publikum gleichermaßen erfolgreicher Roman 'Schlaflos' (2013).

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Leseprobe

Der erste Blick auf Island


Ich weiß nicht, woher meine Sehnsucht nach nördlichen Inseln stammt. Vielleicht habe ich sie geerbt. Wenn wir in den Ferien meiner Kindheit nicht durch Osteuropa gefahren sind, waren wir auf Orkney oder auf den Hebriden. Mein Großvater, der in den 1920er-Jahren in Leeds aufgewachsen ist, ging im Alter von sechzehn Jahren auf einen Fischtrawler, der Island zum Ziel hatte – nicht, weil er sich fürs Fischen interessiert hätte, sondern weil er schon immer in den Norden wollte. Meine Großmutter war in den 1930er-Jahren mit ihren Freunden auf Mull vor der Nordwestküste Schottlands zelten und ist in den Fünfzigern mit meiner Mutter und in den Achtzigern mit mir erneut dorthin gefahren. Mich bringt nicht die Arktis zum Träumen, der Schauplatz ewiger Breitengrad-Rivalitäten, es sind die grauen Archipele, die Sprungbretter des Atlantiks. Scilly, Aran, Harris, Lewis, Orkney, Fair Isle, Shetland, Färöer, das südliche Grönland, die kanadischen Seeprovinzen; eine Seestraße, die historische Siedlungen miteinander verbindet und seit Jahrhunderten befahren wird. Die Arktis ist gleich hinter dem Horizont, die sechs Monate währende Dunkelheit immer im Hinterkopf, an den sommerlangen Tag kann man im Winter nicht glauben, und wenn er kommt, vermag man ihn nicht in Zweifel zu ziehen. Hier, direkt unter der Spitze der Erde, gibt es Städte und Dörfer, ein Gewirr menschlichen Lebens, im Schatten arktischer Eschatologie. Immer wieder kehre ich an den Nordatlantik zurück, arbeite mich nach Norden und Westen vor, wie es die Kelten und Wikinger getan haben. Nach dem Schulabschluss mieten eine Freundin und ich eine Hütte in Rousay auf Orkney und verbringen zwei Wochen damit, in neolithische Gräber hinabzusteigen, am felsigen Ufer entlang- und durch die Heide zu laufen, während wir versuchen, nicht über unser bevorstehendes Erwachsenenleben nachzudenken. Als Studenten begeben eine andere Freundin und ich uns schlecht beraten auf eine Radtour über die Shetlandinseln, wo wir bergab gegen den Wind anstrampeln müssen, aber eine wildere, fremdere Landschaft sehen als auf Orkney, wo alles glatter ist. Ich reise auf die Färöer-Inseln. Einige Inseln sind nicht mehr als aus dem Meer ragende Klippen, und die alten Norweger, die einst über Orkney und auch über die Shetlands herrschten, scheinen irgendwie immer noch da zu sein. Auf der Universität belege ich ein Seminar zu alten nordischen Sagen, in der Erwartung, dass sie mich faszinieren, und den Sommer meines ersten Studienjahres plane ich in Island zu verbringen. Ich gewinne einen Preis, der an Studenten des Grundstudiums vergeben wird, für die »Förderung der Kenntnisse bezüglich der Schönheit der Landschaft«, und kaufe ein Busticket, mit dem ich die Route 1 abfahren will, die einzige Straße, die Island umrundet. Meine Freundin Kathy liebt die nordischen Inseln ebenfalls und willigt ein, mitzukommen.

In England haben Reisen nach Island Tradition. Vor allem im neunzehnten Jahrhundert reiste man auf den Spuren der mittelalterlichen Sagen. Ich lese W. G. Collingwood, der in Islands Heimatkundemuseen eine Spur aus Aquarellbildern hinterlassen hat, und William Morris, der 1871 und 1873 nach Island reiste und eine Reihe weitschweifiger, dem Altnordischen zuneigender Gedichte schrieb, als wolle er den Beitrag der normannischen Eroberung zur englischen Sprache rückgängig machen:

Der erste Blick auf Island


Da, endlich, auf unserem dümpelnden Schiff, kommt Land in Sicht.
Gezackte Felsen bewachen am östlichen Ufer der Mündung die breiten, öden Auen,
Und schwarz erheben sich Hügelrücken, von mattem Grün gestreift,
Ein Berg ragt auf, im Westen, wo Wolken und Meer sich begegnen,
Trutzig vom Sockel zur Spitze, wie vormals die Bauten der Götter,
Die kargen Flanken von Wolken umkränzt, von Schnee befleckt, grau,
Und hell am frühen Morgen, der gerade, am Ende des Tages, beginnt.

Ach! Was haben wir zu finden gehofft, dass unsere Herzen so heiß sind vor Sehnsucht?
Reicht das für unsere Rast, der Anblick desolater Gestade
Und kahler Gebirge in Grabesstille, wo nur der Wind weder schläft noch verstummt?
Warum bloß wollen wir nach Weite und Breite ein Land durchstreifen,
So furchtbar, das knirschende Eis, und Zeichen von kaum verborgenem Feuer,
Wenn nicht, weil mitten in Tälern, das graue Gras von steinigen Strömen durchzogen,
Die alten Sagen des Nordens leben, und der unsterbliche Glanz der Träume?

Karge Flanken, steinige Ströme – irgendwas an dieser sprachlichen Nachgestaltung stört mich. Es ist nicht nötig und tendenziell verlogen, vorzugeben, dass wir in Wirklichkeit alle Wikinger sind. Mein Verlangen, nach Island zu reisen, geht nicht auf den heimlichen Wunsch zurück, einen gehörnten Helm aufzusetzen oder Met aus Totenschädeln zu trinken, ich möchte nicht mal gewundene Silberbroschen tragen oder mich in Runen ausdrücken. Ich mag Tolkien nicht, einen weiteren Oxford-Absolventen, der vom Altnordischen besessen ist, mit seinen Kriegsspielen und ausgedachten Sprachen in einer Welt ohne Frauen. Wonach ich in Island auch suche – in der Tradition englischer Schriften über den Ort steht es nicht.

Im Juli 1995 gehen Kathy und ich an Bord der MS Norröna, des Passagierschiffes, das Schottland mit den Färöer-Inseln und Island verbindet und dabei der Route der Wikinger folgt, allerdings fünfmal so schnell vorwärtskommt wie sie. Wir stehen an Deck, beobachten, wie Matrosen die Leinen losmachen, und dann, wie die Küste von Aberdeenshire hinter den Horizont gleitet. Die anderen gehen nach drinnen, aber diese anderen haben auch Kabinen und können es sich leisten, im Restaurant zu essen. Als der Himmel sich verdunkelt, im Hochsommer im Norden Schottlands, beginnt das Schiff zu schwanken. Die letzten Passagiere gehen hinein. Wir bleiben an Deck, zitternd, und beobachten die von Gischt durchzogenen dunklen Wellen, bis mir so kalt ist und ich so seekrank bin, dass es mir besser erscheint, in einer Plastikkoje in der Gemeinschaftskabine zu liegen, als über der Reling zu würgen. Kathy bleibt an Deck, stoisch, mit hochgezogener Kapuze.

Stunden später wache ich auf. Mir ist immer noch übel. In der Dunkelheit spielt es keine Rolle, ob ich die Augen öffne oder schließe. Nichts spielt eine Rolle. Die Männer in den Kojen um mich herum schnarchen, und es riecht nach Erbrochenem und Schweiß. Ich kann nicht schlucken. Ich vergrabe meine Nase in dem rosa geblümten Daunenschlafsack, den ich als Kind mit im Campingurlaub hatte. Er riecht nach altem Staub und fühlt sich an meiner Haut trocken an wie Papier. Ich möchte sterben. (Dieser Gedanke taucht alle paar Minuten in meinem Kopf auf, seit ich das Deck verlassen habe, wie ein Goldfisch, der im Glas seine Runden dreht.) Der Motor dröhnt, und meine Koje schaukelt, rauf und runter, rauf und runter. Ich weiß, dass ich mich nicht noch einmal übergeben muss, es ist nichts mehr übrig, und den Versuch, schluckweise Wasser zu mir zu nehmen, habe ich aufgegeben, ebenso den Versuch, mich aufzusetzen. Rauf und runter – und runter – und runter. Ich hoffe, wir sinken. Ich will sterben. Die Kabine liegt tief im Inneren des Schiffes. Über meinem Kopf ist Wasser, und wenn wir sinken würden, drängte das Wasser in die Kabine und würde steigen und steigen, und selbst wenn ich versuchte, die Tür zu finden, wäre sie schwer und aus Metall, und von der anderen Seite drückte das Wasser dagegen. Außerdem habe ich gesehen, wo in den Gängen sich die Eisentüren verschließen würden, um das Schiff zu stabilisieren, wobei sie die Menschen einsperren würden, die sich keine angemessenen Kabinen leisten können, wenn das kalte Meer steigt und steigt, über Taillen und Schultern und – aber das spielt keine Rolle, denn ich will sterben.

Da ist ein Riss in der Dunkelheit. Er tut meinen Augen weh.

»Sarah?«, flüstert Kathy. »Sarah, komm raus. Man kann es sehen. Island. Und die Sonne geht auf.«

Ich wende mich ab. Ist mir egal.

»Los, komm«, sagt sie. »An Deck wird es dir besser gehen. Hier unten muss einem ja schlecht werden. Ich gehe wieder raus.«

Ich glaube ihr nicht. Frische Luft habe ich hinter mir.

»Die Sonne scheint auf einen Gletscher«, sagt sie. »Er sieht aus wie diese japanischen Berge. Ich werde ihn malen.«

Also setze ich mich auf, und es ist schlimmer. Aber ich kann mir grob vorstellen, dass es eine Zukunft geben könnte, in der ich es bereuen würde, die ersten Sonnenstrahlen nicht vom Meer aus auf den Gletscher scheinen gesehen zu haben. Ich stehe auf und halte mich an ihr fest, und Kathy hilft mir die buckeligen, mit Erbrochenem verschmierten Stufen hoch. Und sie hat recht. (Kathy hat meistens recht.) Hinter uns geht neonrosa die Sonne auf, und am Horizont im Nordwesten schiebt sich ein dreieckiger, schneebedeckter Berg heran. Das Meer ist noch schwarz, die Wellen schäumen weiß im frühen Licht. Ich setze mich hin, und Kathy wickelt mir meinen Schal um und gibt mir einen Pfefferminzriegel, über den ich nachdenken kann. »Er müsste auf dem Weg nach unten ungefähr...

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