Kapitel 1
Zur Wirkung von Komplexität auf Arbeit und Organisation
Oder: Wie Komplexität Management den Garaus machte
Was die Sozialtechnologie Management ausmacht: Aufstieg und Fall einer genialen Idee
Im Jahr 1911 veröffentlichte Frederick Taylor sein epochemachendes Buch „The Principles of Scientific Management“.
Er begründete damit Management als eine Organisationsmethodik, die dem Effizienzstreben des Industriezeitalters Flügel verleihen sollte. Taylor war ein Visionär: Er versprach in seinem Buch nicht weniger als eine „Revolution“. Und tatsächlich: Die Anwendung seiner Prinzipien und Konzepte sollte einer Revolution gleichkommen.
Taylors geniale Idee war die der konsequenten Trennung des Denkens (den Managern vorbehalten) vom Handeln. Die Zunft der Manager wurde, Taylors Dogma folgend, zu "denkenden Führern nicht denkender (Mit-)Arbeiter“. Dieses Prinzip wurde zur DNA der Sozialtechnologie Management. Darüber hinaus war Taylor ein Pionier der funktionalen Teilung in der Produktion. Seine Ideen zur hierarchischen und funktionalen Trennung setzten sich nach seinem Tod 1915 branchenübergreifend durch. Das tayloristische Grundprinzip wurde zum Standard.
Das Industriezeitalter brachte dramatisches Wachstum und steigenden Wohlstand. Auch wenn Taylors Konzepte bereits kurz nach deren Veröffentlichung vielerorts als unmenschlich, unwissenschaftlich und teilweise ineffektiv kritisiert wurden: Das, was wir heute Management nennen, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Methoden Taylors. In dynamischen und komplexen Märkten wurde Führung per Weisung und Kontrolle jedoch eine Gefahr für Organisationen.
“Denker”/Manager: denken strategisch, steuern, kontrollieren, entscheiden
“Handelnde”/Arbeiter: führen aus, gehorchen, befolgen
Wir nennen tayloristisches Management: Alpha.
Der Preis der Vereinfachung: Die drei system-immanenten „Lücken” von Management
1. Die soziale Lücke
Durch hierarchische Teilung und Top-Down Kontrolle werden soziale Prozesse negiert und ausgeblendet – sie werden ersetzt von Management by Numbers und Führung durch Angst.
2. Die funktionale Lücke
Funktionale Trennung führt zu Zuständigkeiten und der Reduktion von Verantwortung auf Teilaufgaben. Hierarchische Koordination mittels Prozesskontrolle, Planung, Regeln und Standards dominiert.
3. Die zeitliche Lücke
Durch die Trennung zwischen Planung und Ausführung bedarf es fremdgesteuerter Rollen, Strategie, Zielen, Prognose und Planung.
Alle drei Lücken erzeugen Verschwendung. Nichts davon erzeugt Wertschöpfung, nützt Kunden, Mitarbeitern oder Eigentümern. Ein hoher Preis für die Illusion von Beherrschbarkeit.
Die historische Entwicklung der Marktdynamik und der aktuelle Anstieg der Komplexität in Wertschöpfung
Wir nennen den hier dargestellten historischen Verlauf die Taylor-Wanne.
Das Industriezeitalter bescherte uns eine kurze Periode schnell wachsender, weiter Massenmärkte mit wenig intensivem Wettbewerb. Monopole und Oligopole dominierten. Märkte waren träge. Während dieser Periode entwickelte sich Alpha zum Standardmodell der Unternehmensführung: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte war es möglich, Komplexität mit der Hilfe von Maschinen und Standards weitgehend aus der Wertschöpfung zu verdrängen. Für diese Aufgabe war Taylorismus, oder Management, die perfekte Lösung.
Vorbei! Bereits in den 1970er Jahren kehrten hohe Dynamik und Komplexität in den meisten Organisationen in die Wertschöpfung zurück, verursacht durch die Entstehung globaler, stark Wettbewerbs-intensiver Märkte und die Wiederkehr individualisierter Kundennachfrage, die „Kustomisie-rung“ notwendig machte und so „Massen-Kustomisierung“ hervorbrachte.
Hoch-dynamische Wertschöpfung wiederum bedarf eines erhöhten Einsatzes menschlicher Fähigkeiten in Problemlösungs-Prozessen. Alpha wurde so zu einem Hindernis. Taylorismus/Management wurde zu einem Irrtum.
Hohe Dynamik und Komplexität* sind weder gut oder schlecht. Sie sind ein historischer Fakt.
Fußnote
* Die Begriffe Dynamik und Komplexität verwenden wir in diesem Buch – der Einfachheit halber – weitgehend synonym.
Der Unterschied zwischen kompliziert und komplex
Kompliziertes agiert vorhersagbar. Es gibt keine Überraschung, keine Unsicherheit und keine Subjektivität. Komplizierte Systeme können mithilfe von Ursache-Wirkungsketten beschrieben werden. Sie sind extern kontrollierbar.
Ein Hochpräzisionsgerät ist kompliziert: Es wird alles versucht, um die Präzision zu erhöhen. Eine Uhr wird z.B. so entwickelt, dass sie dauerhaft ohne Fehler funktioniert, sodass keine Täuschung des Nutzers entsteht (der von einer falschen Uhrzeit ausgehen könnte).
Komplexes erzeugt Überraschung. Es besteht aus lebenden Organismen – oder diese haben Anteil daran. Diese Systeme sind lebendig – deshalb können sie sich in jedem Moment verändern. Derartige Systeme sind von außen beobachtbar, aber nicht kontrollierbar.
Das Verhalten komplexer Systeme ist nicht vorhersagbar. Hier ist immanent, dass Fehler entstehen, dass Unsicherheit herrscht und dass sie ein deutlich höheres Niveau von Irrtum erzeugen als Kompliziertes.
Ein komplexes System kann aus einzelnen Teilen bestehen, die zwar für sich genommen standardisiert agieren. Die Interaktion zwischen den Teilen sorgt jedoch für permanente, diskontinuierliche Veränderung.
Komplexe Organisationen wie komplizierte Systeme zu behandeln, ist ein fundamentaler Denkfehler oder eine überzogene Vereinfachung.
Konsequenzen der Komplexität: Von der Relevanz, Problemlösung in Dynamik zu beherrschen
Das einzige „Ding“ auf der Welt, das zum Umgang mit Komplexität fähig ist, ist der Mensch.
In Komplexität sind Tools, Standardisierung, Regeln, Strukturen oder Prozesse keine hinreichende Antwort, wenn es um Probleme und Problemlösung geht. Gerade die Methoden, die im Industriezeitalter nützlich waren, versagen:
In komplexem Umfeld geht es nicht um die Frage, wie ein Problem gelöst wird, sondern wer das tun kann. Deswegen werden erfahrene Menschen bedeutsam. Menschen mit Können und Ideen. Wir nennen sie Könner. Könner, die Schüler haben, nennen wir Meister.
Problemlösung in leblosen Systemen funktioniert über Anweisung. Problemlösung in lebendigen Systemen erfordert Kommunikation.
Komplexität kann weder gemanagt, noch reduziert werden. Man kann ihr nur mit menschlichem Können begegnen.
Das Verbesserungs-Paradox:
In Komplexität führt Arbeit an einzelnen Teilen nicht zur Verbesserung des Ganzen
An separaten Teilen eines komplexen Systems zu arbeiten, verbessert nicht die Funktionen des Ganzen: In einem System geht es nicht nur um das Funktionieren der Teile, sondern um deren „Fit“.
Was Systeme als Ganzes tatsächlich verbessert, das ist die Arbeit an der Interaktion zwischen den Teilen. Führung in diesem Sinne ist vor allem die Arbeit am System.
Mechanistisch-additives Denken und Handeln
Systemisches Denken und Handeln
Systeme werden nicht durch Herumbasteln an deren Einzelteilen besser, sondern durch Arbeit an den Interaktionen.
Problem-Symptome, Probleme, Schlamassel: Nicht alles, was wie ein Problem aussieht, ist auch eins
Das meiste, was wir im Sprachgebrauch von Arbeit und Organisationen als Probleme bezeichnen, sind gar keine. Es sind Symptome. Symptome sind sichtbare Wirkungen eines Problems. Fehler sind ein solches Symptom. Unpünktlichkeit. Oder Widerstand gegen Veränderung.
Ein einfaches Denkwerkzeug, um Probleme „zuzuspitzen“ und so den unsichtbaren Wurzeln der Problem-Symptome auf die Schliche zu kommen, ist das „Fünfmal-Hintereinander-Warum-Fragen“ - eine Technik, die durch Toyota bekannt gemacht wurde. Es verhindert, dass der Versuchung nachgegeben wird, bei Beobachtung eines Symptoms voreilig zur Suche nach Lösungen überzugehen.
Den Versuch, Lösungen für Symptome zu finden, also am Symptom herumzudoktern, bevor das Problem verstanden wurde, nennen wir Aktionismus.
Hinzu kommt: In Komplexität pflegen Probleme in der Wurzel zusammenzuhängen. Sie formen Schlamassel. Einzelne Probleme lassen sich daher in der Regel gar nicht isoliert voneinander lösen. So wie auf einem Teich unzählige Seerosenblätter schwimmen – die unten am Boden des Sees doch nur wenigen Pflanzen entspringen. Es...