EINLEITUNG
Warum ein Buch über das Königreich Israel?
In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. beherrschte Israel einen Großteil des Territoriums der beiden hebräischen Königreiche (Abb. 1), und seine Bevölkerung machte drei Viertel des Volkes Israel und Juda zusammen aus.[1] Militärisch wie wirtschaftlich war das Nordreich Israel stärker als das Südreich Juda, und in der ersten Hälfte des 9. sowie im 8. Jahrhundert – beinahe die Hälfte der Zeit, in der die beiden Königreiche gleichzeitig existierten – dominierte Israel das Südreich. Trotzdem steht Israel im Schatten Judas, in der Hebräischen Bibel ebenso wie in der Aufmerksamkeit der modernen Forschung.
Geschichtsschreibung und historische Erinnerung
Die Geschichte des Alten Israel in der Hebräischen Bibel wurde von judäischen Autoren in Jerusalem geschrieben, der Hauptstadt des Südreichs, die der Mittelpunkt der davidischen Dynastie war. Deshalb übermittelt sie judäische Vorstellungen über Territorium und Königtum, über Tempel und Kult. Auch die von einigen Forschern für besonders alt gehaltenen Texte wie die Samuelbücher entstanden erst, nachdem Israel von Assyrien besiegt und seine Elite deportiert worden war.[2] Als im späten 7. Jahrhundert die älteste Schicht des deuteronomistischen Geschichtswerks geschaffen wurde,[3] war das Nordreich Israel bereits eine ferne, vage Erinnerung, die mehr als hundert Jahre zurücklag. Israelitische Überlieferungen wurden in die Hebräische Bibel aufgenommen: Textblöcke wie der Jakobszyklus der Genesis,[4] die Überlieferung vom Auszug aus Ägypten,[5] das sogenannte Retterbuch im Buch der Richter,[6] positive Überlieferungen zu König Saul in den Samuelbüchern, die prophetischen Geschichten von Elia und Elischa in den Königsbüchern und die beiden Propheten des Nordreichs Hosea und Amos.[7]
Die ursprünglichen Texte aus dem Norden – oder zumindest einige von ihnen – könnten bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. in der Hauptstadt Samaria oder im JHWH-Tempel in Bet-El an der Nordgrenze Judas entstanden sein.[8] (Das hebräische Tetragramm für den Gottesnamen, von dem die meisten Gelehrten annehmen, dass es Jahwe ausgesprochen wurde, wird hier als JHWH wiedergegeben.) Sowohl schriftlich fixierte Texte als auch mündliche Überlieferungen gelangten wahrscheinlich nach dem Untergang Israels im Jahr 720 v. Chr. mit israelitischen Flüchtlingen nach Juda.[9] Schätzungen zum Bevölkerungswachstum in Juda zwischen der Eisenzeit IIA und der Eisenzeit IIB (9. bis spätes 8./frühes 7. Jahrhundert) deuten darauf hin, dass in spätmonarchischer Zeit israelitische Gruppen einen bedeutenden Anteil an der Bevölkerung des Südreichs bildeten.[10] Überlieferungen aus dem Norden wurden in den judäischen Kanon aufgenommen, entweder weil sie die judäische Ideologie stützten oder weil die Eingliederung der großen israelitischen Bevölkerungsgruppe in das Königreich Juda politisch geboten war. Im zweiten Fall wurden die ursprünglich israelitischen Traditionen judäischen Bedürfnissen und judäischer Ideologie untergeordnet. Im Fall der Samuelbücher zum Beispiel wurden die negativen Überlieferungen aus dem Nordreich zum Gründer der davidischen Dynastie zwar übernommen, aber so umgedeutet, dass David von allen Missetaten reingewaschen wurde.[11] Damit ist auch hier die ursprüngliche, authentische Stimme Israels in der Hebräischen Bibel kaum zu vernehmen.
Die politische Ideologie des deuteronomistischen Geschichtswerks der Bibel beschreibt die Situation nach dem Untergang des Nordreichs. Sie ist ganz auf Juda zentriert und erhebt den Anspruch, dass alle einstmals zu Israel gehörenden Territorien von einem davidischen König regiert werden müssen sowie alle Hebräer die Herrschaft der davidischen Dynastie anerkennen und den Gott Israels im Tempel von Jerusalem verehren müssen. Dementsprechend ist die Geschichte des Nordreichs äußerst verkürzt und sehr negativ gefärbt,[12] während die einzelnen Hebräer dadurch Teil der Nation werden können, dass sie die zentrale Stellung des Tempels und der Dynastie von Jerusalem akzeptieren. Ihr eigenes Königreich und ihre eigenen Könige galten dagegen als illegitim.
Abb. 1: Israel und Juda im 8. Jahrhundert v. Chr.
Lediglich den Königen Jerobeam I. und Ahab sind größere Textpassagen gewidmet, der Ton jedoch ist, wie gesagt, negativ. So wird Jerobeam I., der Gründer des Nordreichs, als der erste Abtrünnige dargestellt, dessen Verfehlungen den Untergang Israels von Anfang an besiegelten.[13] Die Regierungszeit anderer israelitischer Könige dagegen wird in wenigen Sätzen abgehandelt. Nur sechs Verse befassen sich mit Omri, dem Gründer der berühmtesten Dynastie des Nordens, dessen Name in assyrischen Aufzeichnungen mit Israel gleichgesetzt wird. Lediglich einer von ihnen ist nicht formelhaft. Sieben Verse beziehen sich auf Jerobeam II., einen der bedeutendsten Könige in der Geschichte der beiden hebräischen Reiche, der fast vierzig Jahre lang regierte (788–747 v. Chr.) und große Gebiete eroberte. Sehr wenig wird über die Hauptstadt Samaria gesagt und relativ wenig über die größeren und kleineren Ortschaften auf dem Land. Der Grund dafür ist die räumliche Distanz der Autoren in Jerusalem und ihre mangelnde direkte Vertrautheit mit der Landschaft. So werden nur wenige Orte des israelitischen Territoriums im Ostjordanland genannt, das aber genauso groß war wie das judäische Bergland, von dem in der Bibel rund fünfzig Orte namentlich erwähnt werden.
Hinzu kommt, dass biblische, archäologische und historische Untersuchungen des Alten Israel von der jüdisch-christlichen Geschichtstradition dominiert sind, die ihrerseits von der Hebräischen Bibel, also judäischen Texten, geprägt ist. Die Bibel ist aber nun einmal so, wie sie ist, und daher beschäftigt sich die wissenschaftliche Bibelforschung hauptsächlich mit Juda und dessen Sicht Israels, die hundert Jahre nach dem Zusammenbruch des Nordreichs formuliert wurde.
Die archäologische Forschung bildet in gewisser Weise ein Korrektiv zu diesem Bild. Das eisenzeitliche Juda wurde archäologisch gründlich untersucht. Jerusalem zählt weltweit zu den bestausgegrabenen Städten, vor allem durch die Forschungen der letzten fünfzig Jahre, und auch fast alle wichtigen Orte im Hinterland Jerusalems wurden freigelegt: Mizpa und Hebron im Bergland, Lachisch und Beth-Schemesch in der Schefela, Beerscheba und Arad im Beerscheba-Tal. Auch Israel haben die Wissenschaftler nicht vernachlässigt. Seine Hauptstadt Samaria wurde zweimal archäologisch eingehend erforscht, ebenso alle bedeutenderen Orte auf dem Land: Bet-El, Sichem und Tell el-Far‘ah (Tirza) im Bergland, Geser im Südwesten, Dor an der Küste und Megiddo, Jesreel, Hazor und Dan in den Ebenen des Nordens. Auch die ländlichen Regionen des Nordreichs – im Bergland ebenso wie in der Tiefebene – wurden intensiv untersucht. Dank archäologischer Oberflächenuntersuchungen (Surveys) konnten Siedlungskarten nach einzelnen Epochen erstellt werden. Es ist also die Feldforschung, die eine archäologisch gestützte, von der judäischen Ideologie freie Sicht auf die Geschichte Israels ermöglicht und es damit erlaubt, die Geschichte des Alten Israel im Allgemeinen und der beiden hebräischen Königreiche im Besonderen ausgewogener zu rekonstruieren.
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Königreichs Israel hauptsächlich in den Phasen seiner Konstituierung. Der erzählerische Leitfaden ist die Archäologie: Ergebnisse von Ausgrabungen ebenso wie von Oberflächenuntersuchungen. Diese Resultate der archäologischen Forschung werden in einem nächsten Schritt mit dem Wenigen verknüpft, was wir aus schriftlichen Quellen des alten Nahen Ostens und aus den biblischen Texten wissen, denen man authentische, nichtpropagandistische Informationen über das Nordreich zusprechen kann, und seien es nur vage Erinnerungen.
Im Hinblick auf das biblische Material, das nicht aus Kreisen des Nordreichs stammt – beispielsweise die Informationen in den Königsbüchern –, stellt sich natürlich die Frage, wie der oder die judäischen Autoren der späten Königszeit, die in Jerusalem lebten, Kenntnisse über Ereignisse besitzen konnten, die Jahrhunderte vor ihrer Zeit und teilweise an Orten weit entfernt von Jerusalem stattfanden. Die Antwort lautet, dass die judäischen Autoren eine Liste der israelitischen Könige zur Verfügung gehabt haben müssen, auf der die Regierungszeit und Angaben zu Herkunft und Tod der Monarchen verzeichnet waren. Diese Liste muss ihnen Auskünfte vermittelt haben, die sie in die Lage versetzten, die israelitischen und judäischen Könige zueinander in Beziehung zu setzen. In der Regel ist die Information in den kurzen biblischen Versen korrekt und wird durch außerbiblische assyrische Texte untermauert. Man darf auch nicht vergessen, dass Quellen aus dem Nordreich (falls sie im frühen 8. Jahrhundert in...