Zweite Vorlesung
Balance von Nähe und Distanz im Ruhestand
Der Übergang in den Ruhestand gilt nicht nur für das Individuum, sondern auch für das Paar als eine kritische Phase, weil die meisten Paare im Ruhestand mehr Zeit miteinander verbringen als je zuvor. Wenn der Beruf als Regulator für Nähe und Distanz wegfällt, müssen und können Paare selbst gestalten, wie viel Zeit jeder für sich und beide gemeinsam verbringen. Viele Paare finden spontan eine neue Balance, sogar die meisten kommen gut mit dem Ruhestand zurecht, auch bereits zu Beginn.16 Andere finden diese Balance nicht: sei es, dass die Bedürfnisse nach Zeit für sich allein und gemeinsamer Zeit sehr unterschiedlich sind und kein Kompromiss gefunden werden kann; sei es, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse gar nicht bewusst sind oder nie besprochen werden. Typische Gefahren liegen in Langeweile, sozialer Isolation (»gemeinsam verkümmern«) und zu viel Gemeinsamkeit, die oftmals Streitigkeiten und Eskalationen auslöst ( Tab. 5).
Tab. 5: Wesentliche Entwicklungsaufgaben von Paaren im Ruhestand17
Die Regulierung von Nähe und Distanz ist ein Lebensthema, Nähe und Distanz sind lebenslänglich immer wieder neu auszubalancieren. Typischerweise wird in der Paartherapie die mangelnde Nähe beklagt, doch häufig fehlt die Distanz; der Abstand, der erst wieder Nähe ermöglichen kann. Daher arbeiten wir in der Paartherapie zumeist an der Distanz und am Respekt vor den Grenzen der anderen Person.
Männer und Frauen haben oft unterschiedliche Vorstellungen von der Ehe im Ruhestand.18 Insbesondere in traditionellen Ehen fürchten Männer, von der Frau weniger geliebt/geachtet zu werden, wenn sie nicht mehr den Lebensunterhalt verdienen; sie suchen eine neue Rolle im Haus, was nicht selten den Zweck verfehlt. Viele Frauen legen nach der Pensionierung des Mannes neue Maßstäbe an: Oftmals haben sie in den Jahren der Berufstätigkeit den Mann geschont und erwarten, in seinem Ruhestand für den früheren Einsatz entschädigt zu werden. Wenn kein Ausgleich erfolgt, wenn z. B. die gewünschte Gemeinsamkeit ausbleibt, grollen sie und versuchen vorwurfsvoll, zu ihren vermeintlichen Rechten zu kommen. Viele Frauen wünschen, die Beziehung zu ihrem Mann im Ruhestand zu intensivieren, insbesondere wenn beide zuvor vermehrt eigene Wege gegangen sind.
Übrigens wächst bereits in den mittleren Jahren die Neigung, mit dem Partner unzufrieden zu werden, ihn zum Sündenbock für die eigene Langeweile oder Enttäuschung zu machen. Wenn Enttäuschungen und Versäumnisse bewusst werden, werden diese oft zu Unrecht dem anderen angelastet. Die Ehe wird dann nicht selten zum Schauplatz des Kampfes um Selbstbehauptung und Selbsterhaltung, es kommt zu destruktiven gegenseitigen Entwertungen, zu Verweigerung, in anderen Fällen auch zu Flucht in die Krankheit oder Ausbruchsversuchen mit Dritten. Dass sich Nähe-Distanz-Konflikte in altersspezifischer Schärfe stellen können, die dann meist auch andere Anliegen älterer Paare über lagern, ergibt sich unmittelbar aus den Entwicklungsaufgaben für diese Lebensphase.
Beispiel 2: Nähe-Distanz-Probleme im Ruhestand
Ein Paar, beide Mitte 60 (Jg. 1932/1934) und seit 40 Jahren verheiratet, kam zur Paartherapie, nachdem beide relativ zeitgleich pensioniert worden waren. Die Gespräche begannen auf Initiative der Ehefrau, die über chronische Streitigkeiten, wenig Austausch und emotionale Distanz klagte. Sie habe mit Trennung gedroht, weil sie auf diese Art nicht mit ihrem Mann alt werden wolle und sehe in einer Paartherapie »die letzte Chance« für die Ehe. Er verwies auf Loriots Film »Papa ante portas«, als er den Alltag des Paares beschrieb. Zu diesem Zeitpunkt waren beide Partner körperlich relativ gesund, die Ehefrau wurde mit der Diagnose einer leichten depressiven Episode (ICD-F32.0) überwiesen.
Erstgespräch
Die ersten sieben Minuten und die letzten 10 Minuten des Erstgesprächs werden im Folgenden im Transkript dargestellt. Der Ehemann sitzt mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl, die Ehefrau in offener, aufmerksamer Haltung.
Anfangs-Szene
Therapeutin: Was führt Sie her? Gern würde ich es sowohl aus Ihrer Sicht, Herr A., als auch aus Ihrer Sicht, Frau A., hören, denn üblicherweise haben Paare darüber unterschiedliche Ansichten.
Er: Ja, wenn es keine Unterschiede gäbe, wären wir nicht hier. (an seine Frau gewandt, ihr das Wort gebend) Du wolltest hierher
Therapeutin: (an ihn) Wollten Sie gar nicht her?
Er: Ich habe mal ja gesagt, dann wieder nein.
Therapeutin: Wie hat Ihre Frau Sie heute hergekriegt?
Er: Diese kleinen Diskrepanzen. … Eigentlich fühlte sich meine Tochter mit angesprochen. Sie ist alleinstehend, lebt in Kanada, sie ist belastet. Das Entscheidende ist wohl: Ich bin der Tochter zuliebe hergekommen.
Sie: … weshalb ich herkommen wollte? Wir waren im Wohnmobil auf den Lofoten. Da wollte ich mich trennen. Ich habe Dir die Pistole auf die Brust gesetzt. Ich denke, wenn wir zusammen reden könnten, könnten wir gut zusammen leben, wir sollten diese letzte Möglichkeit versuchen. Erst hat er zugestimmt, dann wollte er nicht mehr. Dann war unsere Tochter da, und wenn sie da ist, dann kommen Gespräche auf.
Er: Dann finden Gespräche statt. Unsere Tochter provoziert das, sie ist daran interessiert, dass Gespräche stattfinden.
Sie: Unsere Tochter ist immer vermittelnd. Sie sagt: »Ihr könnt Euch schon seit 15 Jahren nicht mehr unterhalten«. Du sagtest im Beisein der Tochter: »Ich gehe mit«, da habe ich sofort hier angerufen, um einen Termin festzumachen.
Therapeutin: Was hat Ihre Tochter dazu gesagt?
Sie: Sie hat sich wahnsinnig gefreut.
Er: Unsere Tochter ist Mitte 30, alleinstehend, sie ist zu sehr auf uns fixiert. Es tut mir leid, dass sie uns braucht, dass sie niemanden hat. Sie ist Beraterin und reist in der Welt herum, das ist ihr Wunsch. Ich denke, sie sucht etwas, wo sie in Bewegung ist.
Therapeutin: (an ihn) Sie machen sich Sorgen um Ihre Tochter?
Er: (zögernd) Ja auch, es tut mir leid, dass sie keinen Partner hat, den sie lieben kann.
Therapeutin: Sprechen Sie beide über Ihre Tochter? (an Frau) Wussten Sie, dass es Ihren Mann beschäftigt?
Sie: Ja, er hat es öfter erwähnt (…)
Kommentar zur Anfangs-Szene
Bereits bei der Terminvereinbarung, im kurzen Telefonat mit der Ehefrau, habe ich erfahren, dass ihr Mann nicht ganz freiwillig, sondern wegen ihrer Trennungsdrohung mitkommen wird. Das »Joining « bzw. Anwärmen erfolgt über die Tochter, die zum »Überweisungskontext« gehört. Wir bleiben relativ lange bei der Tochter, weil dieser Einstieg vermutlich leichter ist, als wenn beide eingeladen würden, unmittelbar über sich zu sprechen.
Obwohl der Ehemann den Einstieg seiner Frau überlassen will (»Du wolltest hierher«), wende ich mich zuerst ihm zu, weil ich mit ihr bereits im Vorfeld telefoniert habe. Die Ehefrau wirkt zufrieden darüber, dass er anwesend ist und den Mund aufmacht; wenig gekränkt, dass er der Tochter zuliebe mitgekommen ist und dass die Intervention der Tochter sogar noch entscheidender gewesen sei als die Trennungsdrohung der Ehefrau. Sie erwähnt die vermittelnde Funktion, die die Tochter bereits seit Jahren innehabe. Das Paar ist also nicht unerfahren im persönlichen Gespräch mit einer dritten Person und es könnte die Tochter entlasten, diese Funktion einer Fachperson weitergeben zu können.
Mein Ziel für dieses Erstgespräch bestand darin, mit beiden in einen guten Kontakt zu kommen und einen Eindruck von ihrer Lebenssituation und ihren Anliegen zu gewinnen.
Seine Formulierung, es tue ihm leid, dass die Tochter »keinen Partner hat, den sie lieben kann«, fällt mir als ungewöhnlich auf, weil er pro-aktiv über die Liebe spricht (anstatt: »sie hat keinen Partner, der sie liebt«).
Schluss-Szene des Erstgesprächs
Nach etwa einer Stunde ergibt sich folgendes Gespräch:
Therapeutin: Wir haben jetzt über eine Stunde zusammen gesprochen. Wie war das für Sie beide?
Ehefrau: Erleichternd, mit einer dritten Person zu sprechen. Ich habe ja sonst keine Freundin.
Er: Also...