Die Alpen, wie sie jeder kennt
Schütteln wir die Schneekugel: Aus dem Flockenwirbel tauchen sie auf, die alpinen Klischees. Matterhorn und Murmeltier, Enzian, Alpenglühen und Gams (oder ist das ein Steinbock?), Seil und Haken, Geweihe. Das Geweih ist übrigens im Zuge der um sich greifenden Heimatisierung und Alpinisierung auch im Flachland wieder gesellschaftsfähig geworden, mal ganz ernsthaft, mal als gewolltes Kitsch-Zitat, in Rosa, Silber oder Gold verfremdet.
Da ist es tröstlich, dass manches alpine Stereotyp keinen Moden unterworfen ist. So hat das Matterhorn, 4478 Meter hoch, dauerhaft Bestand als Urbild des Berges schlechthin, egal ob in echt oder in Schokopapier. Seine Nordwand konnten die Münchner Toni und Franz Schmid 1931 erstmals durchsteigen, sie erhielten dafür die olympische Goldmedaille Prix olympique d’alpinisme.
Ähnlich verlässlich wie das Matterhorn taucht das Alpenglühen als Sehnsuchtsmotiv auf – in Wirklichkeit ist es jedoch ein ausgesprochen launisches Phänomen. Es zeigt sich je nach Wetter, Sonnenstand, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Blickwinkel. Streulicht spielt eine Rolle oder die Gegendämmerung, aber feste Regeln, wann und wie alles zusammenpasst, gibt es nicht. Es bleibt immer eine Überraschung: Mal zeigen sich die Gipfel und Wände in kräftigem Orange oder Rot, mal verblassen sie einfach.
Bozen ist ein guter Ort, um vor dem Abendessen entspannt auf den Rosengarten hinaufzublicken, einen Veneziano zu trinken und zu schauen, was die Sonne mit diesem Wald aus Felspfeilern, den Bündeln von Türmchen und den schroffen Wänden macht. Enrosadira heißt das Phänomen auf Ladinisch, der alten Sprache der Dolomiten. Die Sage liefert eine poetische Erklärung dafür. Demnach lag dort oben einst der Rosengarten des Zwergenkönigs Laurin. In Liebe entflammt, entführte Laurin das Menschenkind Simhild. Eine Tarnkappe schützte den Zwerg, und ein Wundergürtel verlieh ihm die Kraft von zwölf Männern, doch der Ritter Dietrich von Bern und seine Freunde überwältigten ihn mit einer List. Da verfluchte der gefesselte Zwerg seinen Rosengarten, der fortan weder bei Tag noch bei Nacht für das Menschengeschlecht sichtbar sein sollte. Aber Laurin tat den Fluch wohl ohne ausgefuchsten juristischen Beistand: Die Natur war spitzfindig, und so können die Menschen den Rosengarten doch noch sehen: in der Zeit »zwischen Tag und Nacht«, wenn hoch über Bozen die Felsen im Abendlicht wie Rosen erglühen.
Und Simhild? Die wurde dem tapfersten Ritter angetraut und ging in der Männer-Saga fast ein bisschen unter. Heute erinnert nicht mehr viel an sie: ein Ferienappartement in Bozen, ein Café mit veganen Brunch-Events in Leipzig und vielleicht die Bozner Rockband »Mad Puppet«. Von ihr stammt das Album »King Laurin and His Rose Garden«, auf dem sie zusammen mit einer Blasmusikkapelle zu hören ist.
Auf der Ostseite heißt der Rosengarten schlicht und einfach Catinaccio, angelehnt an das Wort catenaccio: Riegel. Die Morgensonne bestrahlt also nicht Südtirol, sondern das Trentino, verläuft doch die Grenze auf dem Kamm von Nord nach Süd. Manchmal überwindet der Gesang die Grenzen – so wie es die Bergsteigerchöre aus den Dolomiten tun. Mit »La Montanara« oder den »Bergvagabunden«, jenem Lied, in dem das sprichwörtliche Klischee von Seil und Haken vorkommt:
Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen,
steigen dem Gipfelkranz zu,
in unsren Herzen brennt eine Sehnsucht,
die läßt uns nimmer mehr in Ruh.
Herrliche Berge, sonnige Höhen,
Bergvagabunden sind wir.
Mit Seil und Haken, den Tod im Nacken,
hängen wir in der steilen Wand.
Herzen erglühen, Edelweiß blühen,
vorbei geht’s mit sicherer Hand.
So zitiert es die schöne Website »volksliederarchiv.de« aus dem »Liederbuch der Fallschirmjäger« von 1983. Ob die »Vagabunden« heute noch politisch korrekt sind? Ich bin mir da nicht sicher. Zumal die Fallschirmjäger, jedenfalls nach der genannten Website, dem »Gipfelkranz« zustreben und nicht, wie ich es gelernt habe, dem »Gipfelkreuz«. Aber das ist vielleicht auch nicht mehr »korrekt«; es mag inzwischen ungetaufte Fallschirmjäger geben, die in ihren religiösen Gefühlen verletzt sein könnten. Die »schwindelnden Höhen« habe ich als Knabe in den Gruppennachmittagen einer katholischen Jugendgruppe namens »Bund Neudeutschland« besungen. Unter Führung eines Pfarrers oder Religionslehrers tobten wir uns in den Bergwäldern meiner Füssener Heimat bei sogenannten Geländespielen aus und sangen danach im Dämmerlicht des »Schützenheims« (einer Holzhütte am Berg). Ich erinnere mich dunkel, dass das Anschleichen, Jagen, Fangen aufregend schön, aber auch seltsam kriegerisch war. Die hohen Berge über uns waren allgegenwärtig, manchmal lockend, manchmal bedrohlich.
Streben wir also dem Kranz der Gipfel zu. Da brauchen wir »Seil und Haken«. Den »Tod im Nacken« lieber nicht – daher ist das Seil, das Symbol des Bergsteigens schlechthin, heute ein Hightech-Gebilde, das nichts mit dem Hanfstrick der Pionierzeiten gemein hat oder mit der Wäscheleine aus rotem Perlon, die wir in meiner Jugend auf unsere Erkundungstouren zu den Felsen im Wald mitnahmen, aber zum Glück nie wirklich brauchten. Das moderne Seil ist nicht starr, sondern gibt nach und fängt einen Sturz flexibel ab. Und dieser lebensrettende »Gummi-Effekt« ist genormt, und zwar sowohl was die Federkraft des Seils angeht als auch die Anzahl der Normstürze, die es aushalten muss. Der Normsturz ist keine ironische Erfindung. Es gibt ihn tatsächlich, als Europäische Norm 892. Sie verlangt, grob vereinfacht, dass ein Seil fünf Stürze eines Achtzig-Kilo-Gewichts aus fünf Meter Höhe aushalten muss.
Und was hält den Normsturz? Der Haken, richtig. Bei Luis Trenker, dem idealtypischen Bergsteiger schlechthin, ist das ein Stück eckig gebogenes Metall, das er mit energischen Hammerschlägen in eine Felsritze treibt. Das ist Old School. Bisweilen wird es auch als Trad Climbing (trad für »traditional«) oder Clean Climbing bezeichnet, und je nach Gegend gebietet es der lokale Konsens entweder oder er ächtet es.
Oder denken Sie bei »Haken« an »Karabinerhaken«? Also an ein rundlich gebogenes Stück Metall mit Schnapper? Der heißt im Bergdeutsch nur noch »Karabiner«, und fast noch häufiger als am Berg begegnen wir ihm als Schlüsselanhänger. Richtige Kletterer bändigen damit imponierend gewichtige Bünde von Schlüsseln: für Haus, Auto, Mountainbike, Rennrad, Boulderraum der Alpenvereinssektion, Berghütte und – ganz wichtig – Schranke des Forstwegs zum Hausberg.
Seil und Haken also, beides fest verankert in unserem alpinen Klischeebild. So wie die schon zum Sprichwort geronnene Behauptung des Volksmunds: »Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd’«. Das deftig dialektale koa und das Auslassungszeichen bei der Sünd’ sind wichtig. Lustgewinn ohne moralisierende Hintergedanken – als ob dafür auf der Alm Zeit wäre! Denn hier nimmt die Arbeit ja kein Ende, das Gras, und damit der Mist, wächst ständig nach, sodass es naheläge, die Sense ins Heu zu werfen und den Frust im Korn zu ertränken. Doch halt: Der Korn müsste ja auch erst hochgetragen werden. Dann lieber einen Enzian, den aus dem Lied: »Blau, blau, blau blüht der Enzian …« Aber macht der blau leuchtende Kelch denn auch blau? Nein, tut er nicht. Hier fließen zwei Klischees ineinander, die wir sorgfältig trennen müssen. Die blaue Frühjahrsblume (Gentiana alpina) gehört ins Gras, nicht ins Glas. Für den Schnaps sind die Wurzeln des Gelben Enzians (Gentiana lutea) und seiner Verwandten zuständig, die im Sommer hohe, großblättrige Triebe mit meist gelben Blüten bilden. Diese Wurzeln auszugraben, zu sammeln und schließlich zu brennen ist ein uraltes Privileg, das über die Generationen weitergereicht wird. Kühe fressen den Gelben Enzian übrigens nicht. Ihn mögen allenfalls die Nager, an denen kein Jäger alpiner Stereotype vorbeikommt.
Murmeltiere murmeln nicht – oder wenn, dann heimlich, im Winter in ihrer Höhle. Wir hören sie nur pfeifen. Dieser Warnruf war aber wohl in keiner Sprache namensgebend: Marmotto sagen die Italiener, marmot die Engländer und marmote die Franzosen. Alle diese Begriffe sind wohl dem deutschen Namen entlehnt, der wiederum dem Lateinischen mus montis (Gebirgsmaus) entstammen mag. Doch in Slowenien pfeift der svizec, ein Name, der etwas mit »Rolle« zu tun haben könnte, so erklärten mir slowenische Gewährsleute (also mit dem Aussehen der Tiere? Oder mit ihrem Verhalten?), und wer das googelt, stößt auf ganz besondere Übungssätze, darunter: »Warum sollte jemand ein Murmeltier stehlen?« (»Zakaj je ugrabil svizca?«). Oder dieser Beitrag zum freundlichen Alltagsgespräch: »Nein, ich hatte heute schon Murmeltier.« (»Ne, jedel sem ga za kosilo.«)
Murmeltiere leben in Höhenlagen von 1300 bis 2700 Meter, und zwar auf Wiesen oder im Geröll, so gut wie nie im Wald, am liebsten an sonnigen Südhängen mit Aussicht. Das kann man gut verstehen. Manche Menschen beneiden die Murmelis auch um den Winterschlaf: Tief in ihren Bauten schlafen sie oft mehr als sechs Monate lang, atmen nur zwei oder drei Mal pro Minute und kuscheln sich mit ihren Familienmitgliedern in ein bequemes Lager aus Heu, das sie im Herbst geerntet haben. Über den Sommer fressen sie sich dick und rund, damit sie im Winter von ihrem Fett zehren können. Im Frühjahr kommen sie dann mit vier statt acht Kilogramm aus dem Bau, blinzeln in die Sonne, fressen, fressen, fressen, spielen – und pfeifen, wenn Menschen...