Mama ist hilflos
Irgendetwas sagt mir, dass ich trotzdem keine schlechte Mutter bin. So lange ich irgendwie konnte, habe ich versucht, alles richtig zu machen. Möglicherweise war genau das mein Fehler?
Ich sitze auf einem Stuhl im Wohnzimmer, und auf meinem Schoß sitzt meine kleine Tochter, sie schaut mit dem Gesicht zu mir her, und legt dann ihren Kopf über meine rechte Schulter. Sie streichelt mir über die Haare und über meinen Rücken, spricht mit gesenkter Stimme und redet auf mich ein wie auf ein krankes Pferd: Aaaaalles wird guuuut. Gaaaaanz ruuuhig. Sie stupst mit ihrer kleinen Nase an mein Gesicht. Gaaaanz ruuuhig, Mami.
Meine Tochter ist siebeneinhalb, und ihre Mami kann nicht mehr. Sitzt da und heult. Die Augen geschwollen, das Gesicht salzig und nass. Gaaaaanz ruuuhig, sagt die gesenkte Kinderstimme. Jaaaaa, Mama … aaalles wird guuut.
Die Mami weint
Herzrasen, Nierenschmerzen, Schlaflosigkeit. So geht das jetzt seit ein paar Wochen und es wird immer schlimmer. Ich fühle mich alleingelassen. Ich kann nicht mehr.
Ich kriege keine Luft mehr und zittere. So wache ich auf, an jedem Morgen. Mein Körper funktioniert nicht mehr wie sonst.
Mir war, mir ist, andauernd schlecht. Kopfweh, und nun auch der Hals, aber nicht innen, sondern außen. Der Hals fühlt sich manchmal an, als würde er seitlich platzen wollen.
Wut und Trauer haben sich also auf mein Herz und auf meine Nieren geschlagen.
Und weil mir mein Herz und die Nieren immer wieder so weh tun, sind die anderen, die kleineren Symptome fast schon wieder egal. Übelkeit? … Ja, sowieso … Und Kopfweh? … immer wieder … Schlaflosigkeit? … eigentlich schon, aber ich weiß ja gar nicht mehr, wann das damals angefangen hat …, ich meine, … ich glaube, dass ich in letzter Zeit … schon wieder ein bisschen besser …?
Nein, also … die Schlaflosigkeit, die ist nicht so schlimm.
Der Versuch eines Lächelns. Anscheinend habe ich mich daran gewöhnt, dass ich nachts wach liege, die Augen geschlossen, und stundenlang immer wieder auf der Suche bin nach einer halbwegs bequemen Stellung. Vor allem der Kopf! Ich kann kaum eine bequeme Position für ihn finden. Irgendetwas glüht in mir, heiß ist es und unbequem und es rattert und pocht. Das geht schon, werde ich demnächst zu meinem behandelnden Arzt sagen. Nein, schlafen ist kein Problem.
Schon wieder bin ich dabei, meine Beschwerden herunterzuspielen. Ich will es einfach nicht wahrhaben. Ich trage noch immer das Bild einer unverwundbaren Superheldin in mir. Wie eine Comicfigur: mit großen, schweren Stiefeln, mit windzerzausten Haaren. Eine, die alles schafft. Alles kann.
Mein Selbstbild: erfolgreich, sehr kommunikativ, strahlend. Macht alles mit links. Immer ein offenes Ohr auch für andere, und das Ganze als alleinerziehende Mutter.
Aber …
Seit ein paar Wochen habe ich alles, was irgendwie vermeidbar war, abgesagt. Seminare an der Universität, die ich hätte abhalten sollen. Sendungen, die ich sonst moderiert hätte. Treffen mit Freunden.
Hab mich über eine Grippe gefreut, endlich ins Bett! Und die Wahrheit ist: Ich kriege keine Luft mehr.
Schon bevor ein behandelnder Arzt es ausgesprochen hatte, war mir klar: So etwas heißt Burn-Out-Syndrom. Die Superfrau geht in die Knie. Sie zieht Bilanz. Fragt sich: Woher kommt dieser Widerstand? Wie hat das alles angefangen? Bevor ein normales Telefonat zu einem schier unüberwindbaren Hindernis geworden ist.
In meinem Körper tobt ein Krieg. Schon in der Früh, wenn ich aufwache, zittere ich. Kann nicht frei atmen, die Brust ist zu eng. Entweder mich fröstelt, oder ich habe das Gefühl, innerlich zu glühen. Nichts ist normal.
Ich habe in der Nacht nicht geschlafen, weil ich nicht abschalten konnte.
Aber jetzt will ich weiterschlafen. Will meine Augen nicht aufmachen müssen.
Manchmal, ganz kurz, einen Augenblick lang: feine, kleine Glücksmomente.
Kann also alles nicht so schlimm sein, denke ich mir.
Gestern, da habe ich mich einen Augenblick lang gefreut, weil sich in mein Zimmer die Sonne hereintastete.
Ein zartrosa Morgenlicht, fein ist das. Sogar jetzt im November …!
Diese Zustimmung hielt nicht lange an, sie wurde gleich anschließend zu … sie soll doch ruhig scheinen! Trotz hat sich eingemischt, … es stört mich ja nicht! Gleich war ich wieder nur noch genervt. Meine Kraft reichte für so etwas wie Freude über einen Sonnenstrahl ganz einfach nicht aus.
Ich hab mich ruckartig umgedreht, Augen zu … Aber was, scheiß auf die Sonne!
Eingeknickt
Ich kann nicht mehr
heißt eigentlich:
Ich mag nicht mehr.
Ich mag nicht mehr funktionieren.
Ich stelle mich tot.
Ich hab keine andere Wahl.
Ich habe erfahren, dass auf meine Schwierigkeiten (oder wie ich versucht habe, sie zu kommunizieren) niemand reagiert hat.
Eine unbeschreibliche Wut und Enttäuschung in mir über dieses Alleingelassen-Sein lähmt im Moment alles andere.
Ich bin über die Jahre,
schön langsam,
wie in Zeitlupe,
eingeknickt
Ich habe da und dort immer wieder versucht zu signalisieren, dass ein bisschen mehr Unterstützung für eine alleinerziehende Mutter wirklich nicht schlecht wäre; aber das Echo war nahe bei Null. Meine Eltern? Zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Meine jeweiligen Arbeitgeber? Nicht zuständig für mein Glück.
Alle schienen sich sicher zu sein, dass ich das schon irgendwie schaffen würde.
Wenn also auf meine stillen Hilferufe und auf meine wütende, innere Einsamkeit wieder einmal niemand reagiert hat, bin ich jedes Mal schnurstracks wieder in meine gut angepasste Lebensrolle geschlüpft, so als wäre sie ein Kleid. Und zwar das einzige, das ich besitze. Ich habe sie mir wieder angezogen, und habe mich in meiner gewohnten Rolle schnell wieder sicher gefühlt. Nach außen hin stark und strahlend.
Fröhlich. Eine Wow-wie-die-das-alles-schafft-Mutter.
Jetzt schmerzt ein riesiger Stein in meiner Brust.
Ich hoffe, dass es nur ein Stein ist.
Es gibt auch Tage, da fühlt es sich an wie eine Granate, und ich hab Angst, dass sie demnächst explodiert. Wenn es gerade ganz schlimm wird, dann denke ich, dass es mich demnächst zerreißen wird. Zerfetzen.
Ich schlürfe Nierentee, er schmeckt ganz gut, und eine Kollegin empfiehlt mir „Nervenruh“. Ich hab sie gerade angerufen, und habe die Sendungen für kommende Woche, die ich moderieren sollte, abgesagt. Ich habe bis zum letzten Moment überlegt, ob ich es nicht doch irgendwie schaffen könnte. Ich will nicht aufgeben, immer noch nicht.
Ich frage verallgemeinernd, und meine mich selbst: Was muss passieren, damit eine Mutter zugibt, dass sie krank ist? Und dass sie so nicht mehr weitermachen kann?
Rückzug
Mittlerweile ist mir alles, sogar ein einzelner Telefonanruf, zur unerträglichen Last geworden. Allerkleinste Verpflichtungen verschiebe ich tagelang, wochenlang, und ich wuchte die unerledigten Dinge wie große, schwere dunkle Wolken vor mir her. Anstrengend.
Ich bin mir selbst noch ziemlich fremd in diesem Zustand. Kann ich mich anderen so anvertrauen?
Die ersten zwei Wochen ab dem Verlassen meiner Scheinstärke verbringe ich wie in Trance. Ich kommuniziere wenig, bin still. Bin ohne mein Sprechen und ganz nahe bei mir. Das Schweigen scheint mir in diesem Moment als die einzig mögliche Form des Seins.
Nach ungefähr zwei Wochen beginne ich erstmals, mich bei einer Freundin auszusprechen, und schon bald fließen die Tränen.
Es ist ein Strömen. Alle Dämme sind gebrochen, und ich selbst bin der Fluss.
Ich beginne zu erzählen, in was für einen Film ich da geraten bin. Ich taste mich langsam an meine Gefühle heran. Ich erzähle.
Erzähle nun Freundinnen von meinen körperlichen Symptomen. Erzähle von Herzrasen, erzähle von Schlaflosigkeit und bekomme von Freundinnen, die ebenfalls Mütter sind, immer wieder die eigenen Geheimwaffen präsentiert: Angeblich ganz harmlose Medikamente dienen unauffällig als Auffangnetz, und sehr viele Mütter in meinem Freundinnenkreis können ein Lied davon singen.
Für mich ist diese Information etwas vollkommen Neues. Bei jedem Gespräch bekomme ich außerdem noch eine Woge von guten Wünschen und eine Welle von Mitgefühl.
Nach fast jedem Gespräch bin ich um ein Zettelchen mit den Namen von ein oder zwei Medikamenten reicher. Pillen oder Tropfen, die angeblich Besserung oder zumindest eine Beruhigung versprechen. Das nehm’ ich seit Jahren. Oder: Das nehme ich immer, wenn’s mir gerade wieder sehr schlecht geht. Oder: Ohne das könnte ich sowieso gar nicht einschlafen …
Ich staune.
Ich beginne zu realisieren, dass es vielen, oder dass es anscheinend fast allen Müttern in meinem Freundeskreis schon einmal ähnlich ergangen ist. Fast alle scheinen zu kennen, wovon ich stockend erzähle. Die meisten kämpfen mit Gefühlen und Symptomen, wie ich sie vor ein paar Monaten hatte. Sozusagen mit der Vorstufe.
Die Parole lautet: durchhalten. Freiwillig sagt keine von uns, dass sie ganz einfach nicht mehr weiter weiß. Ich bekomme von immer mehr Müttern ganz viele unterschiedliche Tipps: Welche angeblich harmlosen Nervenberuhigungsmittel man auch über längere Zeit gut nehmen kann, und was man dann...