»BEI DEN WINDSORS IST ES NICHT ANDERS«
Vorwort
Kaum eine Familie wird verehrt wie diese. Und kaum eine so heftig kritisiert. Die Verehrung gilt dem künstlerischen Potenzial, die Kritik hat mit der dramatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und vor allem damit zu tun, wie sich einzelne Mitglieder der Familie Hörbiger im politischen Umfeld ihrer Zeit verhielten.
Dieses Buch will weder verherrlichen noch verteufeln. Es stützt sich auf Fakten und Dokumente, auf Aussagen von Familienmitgliedern, Zeitzeugen und Betroffenen. Die großteils bisher unveröffentlichten Dokumente lassen eine zum Teil neue Sicht der Familiengeschichte zu, belegen Licht- und Schattenseiten der größten, wohl auch bedeutendsten Schauspielerdynastie des deutschen Sprachraums. In langen Gesprächen und mit beeindruckender Offenheit standen mir die Töchter des Ehepaares Hörbiger-Wessely sowie Töchter und Sohn von Paul Hörbiger über ihre Eltern Rede und Antwort. Darüber hinaus waren alle Familienangehörigen – wirklich alle – bereit, diesem Buchprojekt wertvolle Informationen zur Verfügung zu stellen.
Neben der Theater- und der Filmgeschichte spielt in dieser ersten Biografie der Familie Hörbiger auch die Zeitgeschichte eine große Rolle. Dieses Buch gewährt Einblick in den Aufstieg einer Reihe von Ausnahmekünstlern, erzählt aber auch die private Geschichte einer Familie, die sich mir bei den Recherchen und während des Schreibens streckenweise wie ein Kriminalroman darbot: In den zwanziger Jahren wurde auf Paul Hörbiger ein Eifersuchtsattentat verübt, das er beinahe nicht überlebte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam einer der vier Hörbiger-Brüder auf mysteriöse Weise ums Leben – die Prozesse um seinen Gifttod dauerten zwölf Jahre und entzweiten den sonst so harmonisch wirkenden »Clan«. Paula Wesselys Leben war von mehreren Nervenkrisen überschattet, die an die Substanz der Familie gingen. Schließlich mussten sie und ihr Mann Attila Hörbiger sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs einem »Entnazifizierungsverfahren« stellen, das hier zum ersten Mal umfassend dokumentiert ist: durch Betroffene und prominente Zeitzeugen, die ihre Aussagen nach 1945 dem Alliierten Rat und in Gerichtsakten hinterlassen hatten.
Als äußeren Anlass für das Erscheinen dieses Buches könnte man Paula Wesselys hundertsten Geburtstag am 20. Jänner 2007 nennen. Der innere und wahre Anlass ist es aber, dass mir zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben wurde, die persönlichen Nachlässe von Paula Wessely und den Brüdern Attila und Paul Hörbiger aufzuarbeiten. Sowohl die Familie als auch wichtige Archive in Wien und Berlin gewährten mir Einblick in das künstlerische und private Leben dieser Generation. Eine weitere Informationsquelle war schließlich Paula Wesselys bislang unveröffentlichte Korrespondenz, die mir von ihren Töchtern und dem Österreichischen Theatermuseum zur Verfügung gestellt wurde.
Paula Wessely kann die Aufarbeitung des Tiefpunkts in ihrem Leben nicht erspart werden: 1941 spielte sie die Hauptrolle in dem Nazi-Propagandafilm Heimkehr. Gleichzeitig belegen aber Briefe, Dokumente und Zeugenaussagen zum ersten Mal in allen Details, wie sie und ihr Mann ihre Stellung im Dritten Reich dazu verwendeten, verfolgten Menschen zu helfen – in manchen Fällen wohl auch lebensrettend. Paul Hörbiger hatte sich diesbezüglich nie zu verteidigen: Er saß in den letzten drei Monaten des »Tausendjährigen Reichs« im Gefängnis, weil er eine Widerstandsbewegung unterstützt hatte.
Das ist die eine Generation – jene, die im Mittelpunkt dieses Buches steht. Bemerkenswerte Familienmitglieder gab es auch in der Generation davor, in der es einen bedeutenden Forscher und Erfinder sowie eine berühmte Schauspielerin gab, die man auch schon »die Wessely« nannte. Dazu kommen die Kinder und Enkel, die ebenfalls außergewöhnliche Karrieren bei Bühne und Film machten. Um dem Leser den Überblick zu erleichtern, seien hier die Mitglieder der Familie genannt, die Film-, Theater- und Zeitgeschichte schrieben oder schreiben:
• Josephine Wessely (1860–1887), Schauspielerin am k.u.k. Hofburgtheater, Tante der Paula Wessely.
• Hanns Hörbiger (1860–1931), Konstrukteur, Privatgelehrter, Schöpfer der Welteislehre, Vater von Paul und Attila Hörbiger.
• Paul Hörbiger (1894–1981), Volksschauspieler (Hofrat Geiger, Hallo Dienstmann, Der alte Richter), Burgschauspieler.
• Attila Hörbiger (1896–1987), Burgschauspieler (Fast ein Poet, Nathan der Weise, Lumpazivagabundus, Jedermann).
• Paula Wessely (1907–2000), gilt als bedeutendste Schauspielerin des 20. Jahrhunderts (Rose Bernd, Liebelei, Faust, Maskerade, Der Engel mit der Posaune), Burgschauspielerin.
• Elisabeth Orth (*1936), Burgschauspielerin (Die heilige Johanna, Egmont, Don Carlos, Das Goldene Vließ, Hamlet, Mutter Courage, Maria Stuart).
• Christiane Hörbiger (*1938), einer der populärsten Film- und Fernsehstars des deutschen Sprachraums (Das Erbe der Guldenburgs, Schtonk, Donauwalzer, Alles auf Anfang, Tafelspitz, Julia – eine ungewöhnliche Frau).
• Maresa Hörbiger (*1945), Burgschauspielerin (Liebelei, Käthchen von Heilbronn, Faust, Die Katze auf dem heißen Blechdach). Gründerin und Leiterin des Kultursalons Hörbiger.
• Elisabeth Orths Sohn Cornelius Obonya (*1969), Burgschauspieler (Die See, Die Jungfrau von Orleans, Minna von Barnhelm, Das weite Land).
• Christiane Hörbigers Sohn Sascha Bigler (*1968), Filmregisseur und Drehbuchautor (Domina Lisa, Österreich ist ein bissl anders, Tom Turbo, Kurz- und Experimentalfilme).
• Maresa Hörbigers Sohn Manuel Witting (*1977), Schauspieler am Theater in der Josefstadt (Bunbury) sowie in TV-Serien (Kommissar Rex, Tatort, Das Traumhotel, Soko Donau).
• Paul Hörbigers Sohn Thommy Hörbiger (*1931), Schauspieler und Textdichter (Merci Cherie, 17 Jahr blondes Haar).
• Paul Hörbigers Enkel Christian Tramitz (*1955), populärer Film- und Fernsehschauspieler (Der Schuh des Manitu, Bullyparade, Tramitz and friends).
• Paul Hörbigers Enkel Nicolas Geremus (*1959), Erster Geiger der Wiener Symphoniker und Komponist.
• Paul Hörbigers Enkelin Mavie Hörbiger (*1979), zählt zu den großen Jungtalenten in deutschen Film- und Fernsehproduktionen (Solo für Klarinette, Liebesluder, Napoleon, Vera Brühne, Drei Schwestern Made in Germany).
Die Liste der prominenten Hörbigers ist beeindruckend – und dabei noch gar nicht vollständig, zählen doch auch der Regisseur Wolfgang Glück, die Schriftsteller Rolf Bigler und Gerhard Tötschinger sowie die Schauspieler Hanns Obonya und Dieter Witting zum »Clan«.
Die Grundlagen zur Aufarbeitung ihrer Biografien lieferten mir die »Hauptdarsteller« selbst: Paula Wessely und Attila Hörbiger erzählten mir in ihren letzten Jahren in einer Reihe ausführlicher Gespräche aus ihrem Leben. Und bei Paul Hörbiger, dessen Memoiren ich 1979 schrieb, hatte ich ein ganzes Jahr lang Gelegenheit, ihn zu befragen. Diese Nähe zu den drei Großen ihrer Generation hinderte mich jedoch nicht, mich in diesem Buch kritisch mit ihren Lebensstationen auseinanderzusetzen. Sämtliche der heute lebenden Familienmitglieder wussten das von Anfang an und unterstützten mich in meinen Recherchen dennoch tatkräftig. Auch sie empfanden es als richtig und wichtig, dass deren Lebensgeschichten aufgearbeitet werden.
Was man Paula Wessely neben der Rolle, die sie im Dritten Reich und vor allem in dem Film Heimkehr spielte, vorwarf und vorwerfen konnte, war die Tatsache, dass sie in den 55 Jahren, die sie nach dem Zusammenbruch der Naziregimes am Leben war, nie die Gelegenheit wahrnahm, klare und eindeutige Worte der Distanzierung zu finden. Einmal, ein einziges Mal, tat sie es doch – und sie können Paula Wesselys Aussage hier zum ersten Mal in einem Buch lesen (ab Seite 316). Die Schauspielerin hatte 1976 einem überaus glaubwürdigen Zeitzeugen gegenüber in mehrwöchigen Gesprächen eine Art Lebensbeichte abgelegt. Und sie scheute nicht davor zurück, die Schuld für ihr Verhalten auf sich zu nehmen, Reue zu zeigen und keinen Milderungsgrund gelten zu lassen.
Der Mann, dem sie sich anvertraute, war André Heller – der mir nun ihre diesbezüglichen Aussagen zur Verfügung stellte. Aussagen, die das Wesen und die Einstellung der Schauspielerin, dem Nationalsozialismus gegenüber, doch in einem anderen Licht erscheinen lassen, als man bisher annehmen musste. »Ich wäre der Letzte, der einen Grund hätte, eine uneinsichtige Nazikultur-Kollaborateurin zu verteidigen«, sagte André Heller, als er mir Paula Wesselys...