TEIL I
TÜREN ÖFFNEN
Älter werden wir alle. Aber macht es uns auch Spaß? Ist 100 Jahre alt zu werden überhaupt erstrebenswert?
Wenn man ältere Menschen sieht, wie sie sich durch ihre letzten Jahre quälen, so ist das oft abschreckend. Nein, so möchte man nie werden, ist man sich sicher, nein, ein solches Leben ist alles andere als attraktiv. Das langsame Wegdämmern im Altersheim, der unaufhaltsame Verlust von zentralen körperlichen und geistigen Funktionen – all dies ist schmerzvoll, und zwar ebenso für die betroffene Person wie für ihr Umfeld. Selbst wenn diese ganz späten Lebensphasen oft verbrämt und verklärt werden, so ist es doch ein langsames Sterben, bei dem die Trauer über das Verlorene immer präsent ist. Und die Lust, die kommt immer mehr abhanden, bis sie überhaupt nicht mehr aufzuspüren ist.
Dabei könnte man in späteren Jahren viel bewusster das genießen, was einem zuvor, in jungen Jahren, beinahe automatisch zugefallen ist. Das Wissen über die vielfältigen Erfahrungen, das man erworben hat, würde einen alles Lustvolle viel tiefer erleben lassen als früher. Der englische Dichter George Bernard Shaw klagte deshalb, dass es schade sei, dass die Jugend sinnlos bei jungen Menschen verschwendet werde. Ältere Menschen würden von der Jugend viel besseren Gebrauch machen...
So war das bisher, aber so muss es in der Zukunft nicht weiterhin sein. Wenn wir uns richtig verhalten, können wir viele der Gefühle, die wir in der Jugend erlebt haben, in spätere Lebensphasen mitnehmen und sie dort vielleicht noch intensiver erfahren. Das Leben wird so zusätzlich eine neue, erweiterte Dimension erhalten.
Viele unserer Jugendgefühle können wir in spätere Lebensphasen mitnehmen und so dem Leben eine erweiterte Dimension geben.
Traum-Zielort Leben
War es nicht erst gestern, als wir immer der oder die Jüngste einer Gruppe waren? Stolz und erstaunt waren wir damals und wunderten uns, dass wir bereits so früh an diesem Ziel angelangt waren. Und jetzt ist man 36. Oder 44. Oder 56. Und vielfach ist man der Älteste einer Gruppe.
Wir wundern uns, wie schnell das alles gegangen ist. Und wir fragen uns, ob wir wirklich das erreicht haben, was wir uns immer erträumt haben. Ist dieses Leben alles, was möglich gewesen wäre? Wo sind die großen Erfolge, die ganz großen Befriedigungen geblieben? Und selbst wenn wir einiges erreicht haben, so fragen wir uns, ob das schon alles war. Haben wir den Höhepunkt des Lebens bereits hinter uns? Befinden wir uns schon unweigerlich auf der abschüssigen Bahn? Läuft uns die Zeit so schnell, viel zu schnell davon? Und wenn die Dinge schon nicht unbedingt besser sein können, weshalb sind sie zumindest nicht anders, damit wir wenigstens noch etwas Spannung und Abwechslung erleben?
Wenn man jung ist, so hat man das Gefühl, dass alle Türen offen stehen. Man kann frei wählen, entscheiden, handeln. Zwar ist die Realität im Beruf und im Privatleben meist etwas komplizierter, aber das Gefühl der Unbeschwertheit und Freiheit ist zunächst einmal umwerfend. Wie in einem Reiseprospekt voller Traum-Zielorte blättert man durch die Angebote, die das Leben bereithält. Manche erscheinen unerschwinglich, andere kann man mit einigem Aufwand erreichen, wenn man es nur richtig anstellt.
Das Älterwerden wird dabei als Prozess erlebt, bei dem nach und nach einige dieser Türen geschlossen werden, bis man sich ohne Auswahl eingeengt und erdrückt in einem immer kleineren Umfeld bewegt. Das wird meist als deprimierend empfunden. Man glaubt zu wissen, dass die Träume jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren haben. Im privaten Bereich ist vielleicht alles verkrustet, und man spürt instinktiv, dass einen diese Lebensform nicht glücklich macht. Oder man sitzt im Beruf auf einem Platz, bei dem es keine Veränderungen im positiven Sinn mehr geben kann, und man wartet nur auf einen baldigen, unheroischen Abgang in eine möglichst ruhige Zukunft. Und gesundheitlich spürt man den Verfall, wie er sich mit oft überraschenden Krankheitszuständen immer deutlicher ins Bewusstsein drängt.
Je älter man wird, desto zurückhaltender ist man, Risiken einzugehen, und das mit gutem Grund. Die verbleibende Zeit, Fehler zu korrigieren, ist kürzer. Eine katastrophale Investition mit 34 ist etwas anderes als mit 56. Wer sich in der Wahl des Jobs oder des Partners irrt, der erlebt das anders, wenn es mit 30 oder mit 50 geschieht. Wenn man seinen Irrtum einmal entdeckt, kann es zu spät sein, ihn auszubügeln – befürchtet man. Also bleibt man in einer Sackgasse stecken, obwohl man sich in ihr nicht wohl fühlt.
Man opfert also Lebenslust für Sicherheit – eine vordergründige Sicherheit. Wie aber ist das, wenn man seinen Horizont in eine viel weitere Zukunft versetzt, wenn man sich darauf vorbereitet, noch viele, viele Jahre sein Leben gestalten zu können? Wenn man nicht nur bis 70 vorausblicken müsste, sondern bis 90 und mehr? In diesem Fall wäre man doch eher bereit, Risiken einzugehen, um eine unbefriedigende Situation zu ändern. Wer für ein 100-jähriges Leben plant, hat also viele zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten, um bewusst die richtigen Dinge zu tun. Er wird sich nicht vorzeitig mit unbefriedigenden Umständen zufrieden geben, sondern auch in späteren Jahren Risiken in Kauf nehmen.
Wer für 100 Jahre plant, sieht zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten.
Türen öffnen
Lebenslust erfährt man nur, wenn man aktiv dafür sorgt, dass sich die Türen im Leben nicht oder nur langsam schließen. Und besser noch ist es, wenn man ständig neue Türen öffnet. Das heißt, dass man sich aktiv auf die Suche nach neuen Türen machen muss, hinter denen sich neue Welten und neue Abenteuer befinden. Dies ist ein ganz bewusster Vorgang, und dieses Buch soll einige Vorschläge dazu liefern, wie man sich entsprechend darauf einstellen kann.
Das Erhalten der Lebenslust ist vielleicht der schwierigste, mit Sicherheit aber der wichtigste Job, den wir in unserem Leben noch zu erfüllen haben. Daher wäre es wirklich dumm, sich nicht ernsthaft damit auseinander zu setzen. Die Schwierigkeiten des Alltags dürfen auf keinen Fall den Blick auf dieses große, alles überstrahlende Thema verstellen. Die zentrale Frage muss deshalb ganz klar heißen: Was mache ich mit dem Rest meines Lebens – vor allem, wenn dieser Rest ein überraschend langes Stück Weg darstellt, das vor uns liegt.
Diese Suche ist gerade deshalb so spannend, weil das Öffnen von Türen nicht nur die Lebenslust erhöht, sondern auch gleichzeitig die Chance bietet, das eigene Leben zu verlängern. Diese beiden Dinge gehen Hand in Hand und verstärken sich gegenseitig, wie ich noch darlegen werde. Das heißt, die Lebenslust ist die wichtigste Voraussetzung für ein langes, glückliches Leben. Ich kenne niemanden, der eine solche Perspektive einfach unbeachtet lassen würde.
Daher muss man sich mit voller Ernsthaftigkeit um die eigene Lebenslust kümmern. Es gilt, eingefahrene Verhaltensmuster zu ändern und neue zu erproben. Es ist wichtig, dass man offen ist für Dinge, die man für sich bisher nicht in Betracht gezogen oder von denen man sich bereits verabschiedet hat.
Die zentrale Frage lautet: Was mache ich mit dem – langen – Rest meines Lebens?
Denn der Prozess des Älterwerdens ist auch damit verbunden, dass man sich vieles nicht mehr getraut oder zutraut. Manchmal tut man dies, weil man sich von einem in den letzten Jahren in Mode gekommenen Jugendlichkeitskult angeekelt abwendet. Man will weder affig noch lächerlich wirken, will sich keinem Trend anschließen, der von vielfach exaltierten Selbstdarstellern zelebriert wird. Allzu oft geschieht diese Ablehnung jedoch aus schierer Unsicherheit, oder weil es in einer höheren Altersstufe schon immer so gehalten wurde, wie ein Blick auf die vorhergehenden Generationen zeigt. Damit schränkt man aber seine Lebenslust ein und steht sich im wichtigsten Projekt des eigenen Lebens selbst im Weg.
Altern als Gewöhnungsmechanismus
Das Älterwerden kann nicht allein als ein physischer Prozess, sondern muss auch als ein psychologischer Vorgang beschrieben werden. Anders formuliert: Die Ursache des Alterns ist auch ein selbst ausgelöster Verlust von geistiger Beweglichkeit und...