Zweites Kapitel
1926 bis 1934
„Eigentlich wissen wir alle bis heute nicht so recht, wie es kam, dass Paul plötzlich Schauspieler werden wollte. Gewiss war seine unzureichende Begabung in Chemie schuld, vielleicht waren es auch die allgemein schlechten Berufsaussichten der 1920er Jahre – wer weiß …“
Ernst Dahlke61
Die Semesterferien nutzt er, um Rollen zu lernen, die er Leopold Jessner vorsprechen möchte: „Im September begannen die Schauspielschulen mit dem Unterricht. Ich suchte den Intendanten des Staatstheaters auf und trug ihm meinen Wunsch vor, in die Schauspielschule aufgenommen zu werden. Er bestellte mich nochmals, aber als ich ihm u. a. den Lear und den Kandaules (Gyges und sein Ring von Friedrich Hebbel) vorgesprochen hatte, meinte er, ich solle mir jüngere Rollen aussuchen und mich zur allgemeinen Prüfung einfinden.“62
Paul Dahlke kommt wieder und spricht „Hamlet“, „Mechthal“ aus Wilhelm Tell und „Franz Moor“ aus Schillers Räubern vor. „Hier bemühte ich mich bei der ersten Prüfungskommission, um unter den 16 Auserwählten von 300 zu sein.“63 Doch auch diesmal kann er nicht überzeugen.
„Als ich meine Rollen gesprochen hatte, hieß es: ‚Machen Sie das noch einmal, aber menschlicher!’ Ich war ganz verdutzt, denn ich glaubte, bereits ein Gemälde menschlicher Leidenschaft entworfen zu haben, deshalb begann ich in der gleichen Art von neuem. Schon nach ein paar Sätzen unterbrach man mich, und ich musste im Nebenraum warten, bis wir wieder hereingerufen wurden, um das Ergebnis zu hören. ‚Ob Sie Talent haben, können wir nicht entscheiden. Nur für unsere Schule sind Sie nicht geeignet,’ hieß es, ‚es wäre wohl ratsamer, einen anderen Beruf zu ergreifen!’64 Das Urteil ist niederschmetternd, für d i e s e Schule nicht geeignet zu sein. Es ermuntert ihn jedoch, auch noch an anderen Schulen vorzusprechen.65 Er geht zur Schauspielschule des Deutschen Theaters. Max Reinhardt, Leiter des Theaters, soll nun d e r Experte sein, der ihm bestätigt, dass er für den Schauspielberuf geeignet ist. Der Weg zu Reinhardt ist nicht ganz leicht: „‚Haben Sie 30 Mark mitgebracht?’, fragte mich die Sekretärin. Ich verneinte und versprach, den Betrag nachzureichen, aber darauf ließ man sich nicht ein. Nachdem ich also die Prüfungsgebühr bezahlt hatte, wurde ich vor die Kommission gelassen.“66 Auf der kleinen Vorsprechbühne des Deutschen Theaters spricht er vor.67 Max Reinhardt nimmt nicht am Vorsprechen teil, sondern der Leiter der Schauspielschule Berthold Held und Paul Günther68. Der Druck, es dieses Mal zu schaffen, wächst. Der Vater sitzt ihm im Nacken. Schließlich hört er die Aufforderung: „Der nächste, bitte!”69
Das Vorsprechen soll sich folgendermaßen zugetragen haben70:
‚Habe nun, ach! …’, beginnt er seinen Monolog aus Goethes Faust.
‚Sie heißen, bitte? unterbricht einer der Herren im Parkett.’
‚Da … Da … Dahlke’, stottert er.
‚So, so, Dahlke’, sagt die Stimme von unten herauf. ‚Und warum wollen Sie unbedingt gerade Schauspieler werden, junger Mann?’
‚Ich will Schauspieler werden, weil ich begabt bin. Begabt und ehrgeizig. Und das will ich ihnen jetzt beweisen, meine Herren, wenn Sie es mir endlich gestatten!’
‚Er ist wohl ein zorniger junger Mann, wie?’ sagt dieselbe Stimme.
Die vorbereiteten Monologe ersetzt er spontan durch den Waldgeist Puck aus Shakespeares Sommernachtstraum und verschwindet „mit den letzten Worten hinter einem imaginären Baum“71 und harrt der Dinge in der absoluten Stille.
„Als ich geendet hatte, sagte einer der beiden Prüfer zu dem anderen: ‚Was haben Sie geschrieben, Herr Kollege?’
‚Empfinden schlecht, aber gutes Gehör für Sprachgebilde.’
‚So,’ meinte der Frager etwas geniert. ‚Ich notierte mir: Empfinden gut, ‚S’ schlecht.’
Die Situation war denkbar peinlich, so peinlich sogar, dass man mich aufnehmen musste.“72 Dann verkündet der Leiter der Schule: ‚Sie haben ihre Sache gut gemacht. Betrachten Sie sich, bitte, als aufgenommen, Herr … wie heißen Sie doch noch?’ Dann fragt er: ‚Sie sind 23?’73 ‚Da sind Sie aber schon ziemlich alt. Wer weiß, ob Sie sich überhaupt noch entwickeln …!? Aber wir werden mal sehen. In zwei Monaten sage ich Ihnen, ob Sie bleiben können.’74 Der erste Schritt in Richtung Bühne ist also getan, wenn auch nur zur Probe.75
250 Mark im Monat kostet das Studium am Max-Reinhardt-Seminar. Sein Vater akzeptiert mittlerweile die künstlerischen Ambitionen seines Sohnes, schließlich ist er Musiker, und schickt ihm regelmäßig Geld, so dass der Unterricht im September 1926 beginnen kann.76
„Im ersten Jahr lernte ich vor allem Sprechen, studierte aber auch kleine Monologe und kurze Szenen. Ich überwand bald die Hemmungen, wurde freier und gelöster.77 Vor Weihnachten erklärte Held mir, ich sei entwicklungsfähig und könnte bleiben. Ende Januar war ich Helds bester Schüler. Dass Held sich damals von Herrn Günther nicht beeinflussen ließ, sei ihm hoch angerechnet. Es zeugt davon, dass er noch einen Instinkt für Menschen besaß.“78
Seiner Gesangslehrerin zeigt er seine Bewunderung und Dankbarkeit am Ende des ersten Jahres auf der Schauspielschule in Form einer Osterüberraschung:
„Lieber Dahlke,79
Ihre Osterüberraschung, die mit der für Ihnen üblichen Pünktlichkeit heute Morgen eintraf, hat mich sehr gefreut. Sie haben nicht nur dafür gesorgt, dass ich das nach und nach gesammelte und zusammengestellte Unterrichtsmaterial in einem stattlichen Bande sauber und wohlgeordnet beisammen habe, sondern auch dafür, dass Sie, auch nach absolviertem Studium dauernd für mich in bester Erinnerung bleiben. Haben Sie vielen herzlichen Dank und seien Sie bestens gegrüßt
von Ihrer getreuen
Mary Hahn.“
Zu seinen ersten Rollen, die er öffentlich im Rahmen der Ausbildung präsentiert, gehören u. a. der Direktor in Faust und Wurm in Kabale und Liebe. Am Anfang des zweiten Ausbildungsjahres wird Paul Dahlke zum ersten Mal ein komödiantisches Talent bescheinigt:
„Max Gülstorff, der im Oktober 1927 einmal für einen Szenenabend eine Einstudierung leitete und dem ich, damit er mich kennenlernt, den Prinzen von Homburg vorsprach, meinte: ‚Ich will Ihnen nicht zu Nahe treten, aber ich glaube, Sie werden Komiker!’80
Die Schauspielschüler des Deutschen Theaters – „Bühne der Jugend“ – führen zur Feier des 150. Geburtstages von Heinrich von Kleist die dritte Szene des vierten Aufzuges aus Familie Schroffenstein auf. Neben Paul Dahlke in der Rolle des Ottokars stehen Elisabeth Olivier und Ingeborg Bartsch auf der Bühne. In der Prinz von Homburg übernimmt Paul Dahlke in den ersten beiden Auftritten des dritten Aktes die Titelrolle. Den Abend beenden die Schüler mit dem Fragment aus dem Trauerspiel: Robert Guiskard. Paul Dahlke wird die Rolle des „Robert Guiskard Junior“ übertragen. Der ebenfalls später bekannte Schweizer Schauspieler Sigfrit Steiner spielt den „Greis“. Er wird 56 Jahre später Dahlkes letzte Rolle in der Schwarzwaldklinik, die er aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr beenden kann, übernehmen.
12) Sigfrit Steiner und Paul Dahlke in dem Fernsehfilm „Sie werden sterben, Sire“, 1964
Paul Dahlke und Heinz Rühmann gehören zu dieser Zeit noch nicht zu den erfolgreichen und gutbezahlten Schauspielern, so dass beide sich mehr oder weniger gut über Wasser halten. Heinz Rühmann wohnt in einer billigen Pension zur Untermiete, hat gerade seinen ersten Film Das deutsche Mutterherz (1926) abgedreht und lädt Paul Dahlke zu sich ein. Der folgt der Einladung gern und sieht einen Eimer Wasser auf der Fensterbank stehen.
„Was soll denn der Eimer dort am Fenster?”
„Na, da wärmt die Sonne das Wasser, einmal muss ich doch meine Socken waschen, und meine Wirtin nimmt für warmes Wasser immer extra zehn Pfennig, die hab´ ich nicht über!”
Sie hungern beide. Ab und an treffen sie sich am Berliner Kurfürstendamm in einer Stehkneipe, das „Aschinger”. Die Erbsensuppe kostet nur fünfzig Pfennig und dazu gibt es Brötchen „satt“.
„Noch Jahrzehnte später bin ich jedes Mal, wenn ich in Berlin zu tun hatte, bei „Aschinger” vorbeigegangen und hab´ mich dort voll gegessen. Ich glaube, Heinz Rühmann und ich waren die besten Kunden. Drei Brötchen haben wir immer...