Vorwort: Einbahnstraßen ins Unglück
Ich möchte Ihnen zuerst eine Frage stellen: Wenn Sie alle Faktoren des Unglücks vermeiden, bleibt dann Glück übrig? Die gerade sehr populäre Glücksforschung hat festgestellt: Glück erzeugt Glück. Das Vermeiden von Unglück – nicht. Wenn Sie in Ihrer Ehe alle bekannten Scheidungsfaktoren umschiffen, haben Sie deswegen noch keine erfüllte Ehe. Wenn Ihr Chef alle nervigen Kollegen feuert, sind Sie deshalb noch nicht glücklich in Ihrem Beruf. Und wenn Sie alle Ihre Schwächen ausmerzen, bedeutet das noch lange nicht, dass unter dem Schutt überragende Stärken zum Vorschein kommen.
Die Vermeidungsstrategie scheint uns bei der großen Frage also nicht wirklich weiterzubringen: Was ist Glück eigentlich?
Ein naheliegender Ansatz wäre es, darüber nachzudenken, wann wir uns glücklich fühlen. Wenn uns etwas gelingt, zum Beispiel. Wenn wir ein Ziel erreicht haben. Ein Problem gelöst. Eine Hürde überwunden. Auch Nahrungsaufnahme und Sex erzeugen Glücksgefühle. Und da ist er schon, der Haken: Diese Momente erzeugen Glücksgefühle. Diese Gefühle sind zeitlich sehr begrenzt: Glücksmomente eben. Sie gehen nicht tief, und wir können sie nicht konservieren. Morgen liegt die nächste Herausforderung auf dem Schreibtisch, und die Freude von gestern ist schnell vergessen. Kaum befördert, treibt der Ehrgeiz Sie in den Kampf um die nächste Gehaltsstufe. Ihr Kind hat jetzt vielleicht den Abschluss, aber noch keine gesicherte Existenz und noch lange nicht den passenden Partner fürs Leben gefunden. Der Meeresblick aus der Hotelsuite ist atemberaubend – das Tempo, mit dem der Urlaub an Ihnen vorüberzieht, allerdings auch.
Ja, Glücksgefühle lassen sich bis zum gewissen Grade auf Knopfdruck produzieren. Schokolade, Postkartenidyll, Sport, Sex, Komplimente, PS-Bolide, erreichte Ziele erzeugen Endorphine, Oxytocin, Dopamin, Serotonin – all jene Stoffe, die die Hirnforschung als körpereigene Glücksdrogen erkannt hat. Doch egal, wie viele glücksfördernde Maßnahmen Sie einwerfen: Die Glücksgefühle sind nicht nachhaltig. Im Gegenteil: Im Laufe der Zeit verblasst das Glücksgefühl bei gleichbleibender Dosis. Wie ein neuer Song, der in Ihnen ein High ausgelöst hat: So gigantisch die Gefühle beim anfänglichen Hören auch sind – irgendwann kommt der Moment, wenn die Magie des Liedes verfliegt und nur noch Normalität übrig bleibt. Gewöhnung; vielleicht kippt der Effekt sogar in Überdruss. Doch der innere Wunsch nach tiefer, länger anhaltender Erfüllung bleibt. Die Suche geht weiter.
Und das ist gut so. Denn sich mit Glücksmachern zuzudröhnen, macht Sie nicht auf einer tieferen Ebene glücklich. Nicht nur, dass das Zeug nicht mehr wie früher wirkt; Sie bekommen es auch mit ziemlich üblen Nebenwirkungen zu tun. Schokolade zum Beispiel macht dick und träge. Auch für den Erfolg und noch mehr für den vermeintlichen Glücksfaktor Geld gilt das: Gier ist eine Sackgasse. Immer! So steigt bis zu einem bestimmten, überraschend moderaten Einkommen der Glücksfaktor an, sagt die Wissenschaft; danach nicht mehr. Die Sucht nach immer noch mehr von irgendetwas endet immer gleich: in der Abhängigkeit. Und das ist der sichere Weg ins Unglück. Zu viel von etwas erschafft Unglück, zu wenig allerdings auch.
Also ist Glück ein Balanceakt. Auch das ist nichts Neues: Ein seelisches Gleichgewicht ist längst als Glücksrezept identifiziert worden. Demnach können Sie glücklich werden, indem Sie dafür sorgen, dass Sie nichts mehr aus der Bahn wirft! Resilienz ist ein Begriff für die Fähigkeit, Rückschläge zu überwinden und immer wieder aufzustehen, wie hart das Leben auch zugeschlagen hat. Wie erlernt man das? Indem man Rückschläge überwindet.
Doch macht das Überwinden von Niederlagen glücklich? Nach dem Motto: Wer als Matrose durch die Tiefen des Ozeans gegangen ist, für den sind Pfützen kein Hindernis mehr? In den seichten Gewässern eines gewöhnlichen Alltags mag das reichen – allerdings nicht, wenn es wirklich ans Eingemachte geht. Wenn man zum Beispiel voller Begeisterung in eine Beziehung rennt, nur um später herauszufinden, dass man überhaupt nicht zueinanderpasst, den anderen vielleicht sogar hasst.
Was Glücksgefühle auslösen kann, ist gerade deshalb auch geeignet, uns im gleichen Maße unglücklich zu machen. So sind nicht nur Beziehungen reich an Illusionen; nicht wenige beruhen sogar darauf. Wie fest dieser Gefühlsanker auch sitzen mag: Keine Beziehung ist frei von Untiefen und Stürmen. Und bei heftigem Seegang vergeht auch einem glücksverwöhnten Matrosen das Grinsen. In solchen Situationen kann Resilienz helfen, Unglück zu überwinden. Doch um in der Tiefe glücklich zu werden, reicht sie nicht aus.
Der Matrose im Sturm könnte natürlich beten und das Glück einfach herbeibitten. Religiöse Menschen, das haben Studien gezeigt, scheinen tendenziell ein bisschen glücklicher zu sein als andere. Vielleicht hat der Seemann in diesem Sturm tatsächlich Glück, im Sinne jenes Zufalls, von dem wir gern sprechen, wenn uns zum Beispiel ein herabfallender Ziegelstein um Haaresbreite verfehlt. Vielleicht wird dem Matrosen geholfen, und der Sturm lässt nach, bevor er großen Schaden anrichtet.
Doch wenn nun der nächste Sturm heraufzieht: Auf wen verlässt er sich dieses Mal? Lässt er die Segel Segel sein, verdrückt sich in seine Koje und baut darauf, dass auch dieses Mal schon nichts passieren wird? Ist es eine gute Idee, nichts zu tun und die Verantwortung auszulagern an Gott, an den Rest der Mannschaft, an – das Schicksal? Wenn wieder nichts passiert, hat er tatsächlich »Glück gehabt« – Glück im Sinne eines Zufalls. Falls Sie dieses Glück meinen, können Sie aufhören zu lesen. Dann haben Sie es eher auf Spaß und Freude abgesehen; die diebische Freude, dem Leben ein Schnippchen zu schlagen. Um diese oberflächliche Art von Glück, auf die wir keinen Einfluss haben, geht es in diesem Buch nicht. Es lässt sich nicht erzwingen; kein Buch der Welt kann Ihnen dafür ein Rezept liefern. Und selbst wenn es das gäbe, würde diese Form von Glück Sie nie in der Tiefe zu einem glücklichen Menschen machen – wie viel Glück Sie auch haben mögen. Warum? Weil Glück, das wir uns nicht verdient haben, uns nicht glücklich macht.
Wenn Sie mich fragen: Der Matrose wird glücklicher sein und nachhaltiger von seinem Glück profitieren, wenn er derjenige ist, der sich im Sturm mit Haut und Haaren reinhängt. Der den Kahn mit aus der Bredouille holt. Seinen Teil der Verantwortung erkennt und ausfüllt, indem er anpackt und sich selbst und damit vielleicht auch anderen das Leben rettet.
Wenn nun Ihr Kahn nicht auf Kurs ist – in der Beziehung, im Job, im Großen und Ganzen –, an wessen Geschichte würden Sie sich halten: die vom Matrosen, der unter Deck ging und sein Glück (heraus)forderte? Oder die Geschichte dessen, der seinen Platz erkannte und erfüllte?
Das heißt nicht, dass auch die Art der Glücksfindung für jeden die gleiche wäre. Im Gegenteil: Glücksfindung ist ein sehr individueller Prozess. Die Frage, wo und wie Sie in bestimmten Situationen anpacken, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Der Matrose mag sein Glück darin finden, sich in das Rigg zu stemmen, aber das muss nicht für jeden gelten. Zu leicht glauben wir, das Rezept von jemand anderem sei einfach auf unser Leben zu übertragen. Vielleicht wäre es für Sie jedoch besser, von Bord zu springen und zur nächsten Insel zu schwimmen, weil Sie das einfach besser können. Wer weiß, was Sie dort finden: Palmen (neue Ufer)? Einen Goldschatz (eine Sorge weniger)? Einen Traumprinzen (eine Sorge mehr)?
Zugegeben: Jemand anderem sein Rezept klauen zu wollen, ist ein naheliegender Ansatz für die Glückssuche. Bei den internationalen Glücksrezeptvergleichen schneidet Deutschland regelmäßig schwach ab: Die Top-Positionen in den internationalen Glücks-Rankings pendeln je nach Studie zwischen Dänemark, Paraguay und Buthan. Deutschland liegt konstant im Mittelfeld. In Dänemark, immer weit vorn oder ganz vorn dabei, werden gerade Untersuchungen über das »Glück aufgrund von genetischen Voraussetzungen« angestellt. Die Jagd auf das Glücksgen ist eröffnet. Ist Glück vielleicht eine Frage der Gene?
Sie ahnen es: Vergleichen und Spicken ist nicht die Lösung, auch wenn sich die Genthese nicht bestätigt. Warum? Ich werde Ihnen antworten, indem ich Ihnen verrate, welche Erfahrung ich mit dem Glück gemacht habe.
Je mehr ein Mensch sich selbst erkennt, desto mehr bleibt er bei sich, anstatt sich in der Außenwelt zu verlieren. Je mehr ein Mensch sich selbst erkennt, desto genauer weiß er, was ihm guttut und was nicht. Je mehr ein Mensch sich selbst erkennt, desto weniger vergleicht er sich mit anderen. Je mehr ein Mensch sich selbst erkennt, desto klarer werden ihm seine Motive und mentalen Begrenzungen. Je mehr ein Mensch sich selbst erkennt, desto besser kann er Motive und mentale Begrenzungen nach seinen eigenen Vorstellungen formen.
Das alles läuft darauf hinaus, dass er mehr lebt als dass er gelebt wird. Er kann sein Leben freier gestalten. Und je freier ein Mensch sein Leben gestalten kann, desto bewusster kann er Entscheidungen treffen. Das ist der Preis der Freiheit: Entscheidungen treffen, und die Verantwortung für diese Entscheidungen übernehmen, anstatt sie anderen zu überlassen. Das schließt die Verantwortung für Ihr Glück ein: Wie der Matrose im Sturm können wir uns nicht darauf verlassen, dass es uns gegeben wird. Wer fordert, verliert.
Viele Menschen denken, handeln und reagieren sehr unbewusst. Wenn Eltern sich wünschen, dass ihre Kinder Abziehbilder ihrer selbst werden mögen, dann passiert das...