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18 Geschichten von der Flucht aus der DDR. 18 Geschichten gegen das Vergessen.

AutorFlorian Bickmeyer, Jochen Brenner, Stefan Kruecken
VerlagAnkerherz Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783940138774
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In diesem Buch erzählen 18 Menschen von ihrer Flucht aus der DDR. Sie schwammen durch die Ostsee. Sie krochen mit einer Kugel im Rücken durch die Wälder Österreichs. Sie schwebten mit einem Ballon über den Todesstreifen. Einige schafften es. Andere büßten dafür in den Gefängnissen der Staatssicherheit. Fotograf und Pulitzer-Preisträger Andree Kaiser ist einer von ihnen. Zum ersten Mal berichtet er von seinen Jahren in Haft und zeigt nie veröffentlichte Aufnahmen aus der berüchtigten Haftanstalt Hohenschönhausen. Er porträtiert Menschen, die bereit waren, für ihre Freiheit alles zu riskieren. 18 Geschichten gegen das Vergessen.

Andree Kaiser, geboren 1964 in Ost-Berlin, fotografiert für Magazine ('Stern', 'Paris Match', 'Newsweek' u. a.) weltweit Reportagen. 1993 erhielt er den Pulitzer-Preis. Kaiser lebt in Freiburg und Zürich. Florian Bickmeyer, Jahrgang 1982, ist Reporter und lebt in Bochum und in Berlin. Er volontierte bei der 'Westdeutschen Allgemeinen Zeitung' in Essen. Seither arbeitet er als Reporter für das dortige Ressort Recherche und für das gemeinnützige Recherchebüro CORRECT!V. Jochen Brenner, geboren 1977, arbeitete nach seinem Jurastudium und dem Besuch der Henri-Nannen-Journalistenschule unter anderem für die 'Financial Times Deutschland'. Er wurde ausgezeichnet mit dem Henri-Nannen- und dem Deutschen Reporterpreis und lebt in Hamburg. Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, arbeitete als Polizeireporter für die 'Chicago Tribune' und berichtete als Reporter weltweit für Magazine wie 'Stern' oder 'GQ'. Kruecken ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt bei Hamburg.

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Leseprobe

WUT

1984 Flucht über die 

amerikanische Botschaft in Ost-Berlin

JÖRG HEJKAL

MEIN VATER, DER STASI-OFFIZIER

Sein Vater arbeitet für die Staatssicherheit. Als Jörg Hejkal eines Tages Beweise findet, dass er sogar den eigenen Sohn bespitzelt, hält er es nicht mehr aus. Er unternimmt einen Flucht­versuch – und es soll nicht der letzte sein.

Mein Vater und ich, wir brüllten uns schon so lange an, dass die Nacht wieder zum Morgen wurde.Irgendwann kam meine Mutter aufgebracht herein und schimpfte, sie könne nicht schlafen.

Doch ich konnte nicht locker lassen, und ich wollte es auch nicht.

Ich hatte mich einige Tage zuvor – meine Eltern waren noch im Urlaub – auf die Suche nach dem Dasein meines Vater begeben. Ich hatte seinen Schreibtisch durchwühlt, in seinen Unterlagen gestöbert, Briefe und Notizen gesucht. Aber ich fand nichts, was mir half. Er blieb mir ein Rätsel.

Ich wusste: Er verließ jeden Morgen als Vater von zwei Mädchen und einem Sohn das Haus, ging in sein Büro bei der Staatssicherheit und kehrte am Abend als Vater von zwei Mädchen und einem Sohn wieder zurück. Ich wollte wissen, was er tagsüber tat.

Er sprach nie darüber. Wann immer ich ihn danach gefragt hatte, war er mir ausgewichen. Er verriet nichts. Nur, dass er bei der Staatssicherheit arbeite und nicht über seine Tätigkeit sprechen dürfe. Manchmal war er tagelang nicht zu Hause. Ich suchte weiter an diesem Tag. In seinen Jackentaschen, in allen Schubladen, die es in unserem Haus gab. Ich durchsuchte seinen Kleiderschrank, zwischen den Hemden und Hosen und Unterhosen. Schließlich fand ich mehrere Zettel, lose zusammengepackt, mit Notizen in seiner Handschrift. Er hatte umständlich Worte aneinandergereiht. Als hätte er sie ganz offiziell im Büro geschrieben.

Und dann las ich diesen Satz: »Er ist gerade in so einer renitenten Phase.« Und den nächsten: »Das wird sich legen.« Danach erklärte er, welche Maßnahmen dafür nötig wären.

Er schrieb über mich, über seinen Sohn, über Jörg Hejkal. Er schrieb, was ich in meiner Freizeit tat, er schrieb über mein Verhältnis zu Mädchen, über meine politische Haltung, über meine Leidenschaften und Schwächen.

Die Berichte signierte er mit seinem Namen und mit seinem Dienstgrad. Fritz Hejkal, Stasi-Offizier.

Ich war 17 Jahre alt, jugendlich und umtriebig, und ich stand im Schlafzimmer meiner Eltern und las, dass mein eigener Vater mich bespitzelte.

Er hatte recht: Ich war renitent. Aber er ahnte nicht, wie ernst ich es meinte.

Ich wusste schon als Kind, dass mein Vater seinen Job als Erzieher aufgegeben hatte, um beim Staatssicherheitsdienst anzufangen. Das war etwa zu der Zeit, als wir aus unserer kleinen Wohnung in einem rohen Backsteinbau auszogen. In eine größere, schönere Wohnung mit Garten, Heizung, genug Platz auch für die Oma und einem Badezimmer, das nicht mehr auf dem Hinterhof lag. Was die Staatssicherheit war, wusste ich nicht. Nur, dass wir eine schöne Wohnung hatten und dass sich die Leute abwendeten, wenn ich davon erzählte. Ich spürte, wie sie seine Arbeit verachteten, obwohl ich gar nicht sagen konnte, was er machte. Ich wurde älter und fragte ihn. Er sagte viel und antwortete doch nicht.

Mich nervte diese Heimlichtuerei.

Irgendwann erfuhr ich, dass mein Vater mit Pfarrer Brüsewitz betraut war. Woher, das kann ich gar nicht mehr sagen, aber ich wusste es. Dieser Pfarrer hatte sich damals, ich war 15, öffentlich verbrannt. Als Zeichen des Protests gegen die Unterdrückung der Christen in der DDR. Seine Tat sollte verschwiegen werden, aber dafür hatten sie zu viele Menschen gesehen. Also mühten sich Partei und Stasi, eine Geschichte der Verbrennung zu erzählen. In den Propaganda-Zeitungen wurde Brüsewitz als Verrückter und als Spitzel hingestellt. Der Westen verstand die Tat als Hilferuf – und als dort das Fernsehen berichtete, drangen Brüsewitz’ Beweggründe auch im Osten durch. Die Menschen zweifelten, sie diskutierten. Und mein Vater kam eine Weile nicht nach Hause. Er überwachte die Arbeit der Gerichtsmedizin Tag und Nacht.

Zwei Jahre später machte ich mit meiner damaligen Freundin Urlaub im polnischen Ostseebad Sopot. Mein Vater hatte mir den Umgang mit ihr verboten. Er kannte sie nicht persönlich, aber aus den Unterlagen der Stasi wusste er mehr über sie und ihre Mutter als ich. Von ihm erfuhr ich, dass sie Verwandte im Westen hatte. Mein Vater versuchte, uns auseinanderzubringen. Ich fand das anmaßend. Wir stritten häufig wegen ihr.

Dass wir an die Ostsee fuhren, wussten meine Eltern nicht. Ich hatte ihnen erzählt, dass ich alleine auf dem Land zelten wollte.

In Sopot mieteten wir ein Zimmer, das eine Frau privat anbot. Eigentlich wohnte dort ihr Sohn. Den hatte sie für uns und das bisschen Geld, das wir zahlten, ausquartiert. An einem Tag öffnete ich eine Schranktür, die ich wohl besser nicht geöffnet hätte – ich fand dahinter einige Stangen aus Pappe, wie die Kartons von größeren Stücken Seife, dazu Schnüre in verschiedenen Farben und Längen, kleine Hütchen und Kästchen mit einem Nippel daran. Ich sah mir die Einzelteile an und probierte, wie sie zusammenpassten. Mir war sofort klar: Das waren geniale, ausgetüftelte Bausätze.

Das war Sprengstoff.

Ich hatte schon immer ein Faible für alles, was knallt. Einmal brachte ein Junge aus dem Kindergarten eine Patrone mit, ein richtiger Pistolenschuss, golden und noch mit der Kuppe obendrauf. Ich fand das großartig. Und ich gab alles, um dieses Ding zu tauschen. Zu Hause zeigte ich die Patrone stolz meinen Eltern. Mein Vater geriet außer sich. Später, in der Schule, mischte ich mir im Chemieunterricht Schwarzpulver und stopfte es vorsichtig zwischen zwei Schrauben, die ich mit einer Mutter zusammenschloss. Wenn man dieses Ding auf den Schulhof schleuderte, schepperte es ordentlich. Und dann tauschte ich mir von einem Kumpel eine Pistole. Ich gab nie einen Schuss ab, ich war pazifistisch eingestellt, doch ich mochte es, diese Knarre in der Hand zu halten. Das war so verboten, dass es einen wahnsinnigen Reiz versprühte. In der kleinen Kammer in Sopot legte ich die Sprengsätze nicht zurück in den Schrank. Es war zu verlockend, sie einmal irgendwo im Wald auszuprobieren. Ich packte sie in meine Tasche und nahm sie mit. Dass wir auf der Rückfahrt in die DDR an der Grenze kontrolliert werden konnten, daran dachte ich gar nicht. Blauäugig könnte man das nennen.

Die Grenzer fanden den Sprengstoff in meiner Tasche. Alarm im ganzen Bahnhof. Ende der 70er-Jahre, Terroristenzeit. Viele Jahre später erfuhr ich aus archivierten Akten, dass Widerständler kurz zuvor mit Sprengsätzen, wie ich sie bei mir trug, in Nowa Huta, einer Industrievorstadt von Krakau, ein Lenin-Denkmal gesprengt hatten. Die Polen verhafteten mich sofort. Sie gingen wenig zimperlich mit mir um. Immerhin, sie holten einen Dolmetscher, der mir ihre Fragen übersetzte. Sie informierten auch die Behörden in der DDR. Und es dauerte nicht lange, bis mein Vater in seinem Büro in Halle von meiner Festnahme erfuhr.

Nach zwei Tagen brachten mich die Polen über die Grenze nach Pasewalk. Zwei Typen in schwarzen Anzügen und mit schwarzen Sonnenbrillen erwarteten mich. Sie sprachen kein Wort, nicht mit mir und nicht miteinander. Sie verfrachteten mich in einen Lada und kutschierten mich nach Halle, wo sie mich im »Roten Ochsen« ablieferten, einem großen Knast aus rotem Mauerwerk und mit zwei Türmen über dem Eingangsportal, die wie Hörner in den Himmel ragten.

Ein Stasi-Beamter in Zivil nahm mich in Empfang: »Tachchen, ich bin ein Kollege deines Vaters und wir führen jetzt mal ein Gespräch.« Er wollte wissen, woher ich den Sprengstoff hatte und was ich damit anfangen wollte. Ich erzählte, ich hätte das Zeug am Strand gefunden. Ich blieb dabei, egal wie oft er seine Fragen umformulierte. Ich wollte diesen Typen in Polen nicht gefährden. Der konnte ja nichts dafür, dass ich ihm die Sprengsätze gestohlen hatte.

Und dann trat mein Vater in den Raum.

Er war nicht zum ersten Mal hier, wurde mir schlagartig klar. Er quatschte ganz locker mit dem Typen, der mich vernommen hatte. Und er bewegte sich durch diesen Raum, in dem Menschen verhört wurden, als wäre es sein Tagewerk, hier zu sein.

Er boxte mich irgendwie raus. Ich musste das Protokoll unterschreiben, dann ging er mit mir durch lange Gänge und vorbei an Zellen mit schweren Türen wieder hinaus auf die Straße. Ich entschuldigte mich kleinlaut für meine Lüge vom Zelten auf dem Land. Er stapfte neben mir her. Erst als der Knast außer Hörweite lag, brach seine Wut heraus.

»Bist du wahnsinnig!?«, brüllte er. »Willst du meine Karriere ruinieren!?« Ja, ich hatte Scheiße gebaut, keine Frage. Ich hätte den Sprengstoff in diesem Schrank liegen lassen sollen. Klar, dass mein Vater sauer war. Aber er benahm sich nicht wie ein Vater, der seinen Sohn auf den rechten Pfad führen wollte. Er sorgte sich um seine Karriere. Noch einmal würde er mich nicht vor dem Knast bewahren, giftete er. Es klang wie eine letzte Warnung. Und er meinte es auch so.

Zu Hause wollte ich keine Sekunde mehr verbringen.

Mein Vater war für mich nun nicht mehr der Mann, der morgens aus dem Haus ging und abends wiederkam. Mein Vater war das Gesicht des Systems, des Staats, der Stasi.

Die Nacht verbrachte ich bei meiner Freundin. Am nächsten Tag fuhr mein Vater in...

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