1. Alternative: Jesus ohne Dogma
Der kirchliche Glaube schwindet mehr und mehr und mit ihm die Akzeptanz seines Christusbildes. Dennoch übt Jesus von Nazareth nach wie vor eine mächtige Faszination aus, auch auf Menschen, die sich von den Kirchen entfernt haben. Sein Leben und seine Botschaft stoßen auf Sympathie, zumindest Interesse. Historisch gesicherte Aussagen über ihn sind gefragt. Doch wir wissen über Jesus und seine Botschaft im Wesentlichen nur durch Texte, die vom christlichen Glauben geprägt wurden.
Wenn nun unser Wissen über Jesus historisches Wissen sein soll, darf es aber nicht vom Glauben abhängig sein. Es muss sich dem kritischen Urteil verdanken und kann die Annahme eines Christusdogmas nicht voraussetzen. Weil viele Menschen nicht mehr vom Glauben herkommen, ist heute deshalb eine historische Vermittlung der Lebensbotschaft Jesu notwendig. Einen solchen Zugang kann die historisch-kritische Exegese leisten. Sie ist der wissenschaftliche Versuch, von Jesus im Modus der Historie zu erzählen, und eröffnet so die Möglichkeit – wenn auch nur ausschnitthaft und in analoger Weise –, in die Position der Hörer des irdischen Jesus zu wechseln und seine Botschaft zu hören, ihren Wahrheitsanspruch zu prüfen und durch Annahme oder Ablehnung Stellung zu ihr zu beziehen. Wahrheitskriterium ist dabei die Botschaft selbst.
Auf eine missionarische Pastoral bezogen kann das heißen: Not tut heute eine Vermittlung der Botschaft Jesu, die nicht vom Christusglauben herkommt, sondern zu ihm hinführt. Um an Christus zu glauben, muss zuerst der Botschaft Jesu geglaubt werden, wie sie historische Rückfrage hinter dem Kerygma der Urgemeinde rekonstruieren kann. Muss sie nicht aus sich und notwendigerweise Gegenstand von Theologie und Verkündigung sein? Oder ist sie nicht aus sich selbst, sondern nur darum bedeutsam, weil sie in das nachösterliche Kerygma aufgenommen und damit zur Botschaft des geglaubten Christus wurde? Verpflichtende Wahrheit zu sein wäre ihr dann wie ein Etikett aufgedrückt worden, als Jesus von Gott zum Christus erhöht und bestätigt wurde. Ihr Wahrheitsanspruch ergäbe sich nicht aus dem geschichtlichen Wort Jesu, so dass jeder, der dieses Wort hört, vor seinen Anspruch gestellt wird, sondern aus der „höheren“ Wahrheit, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist. Während das geschichtliche Wort Jesu der historischen Frage zugänglich bleibt, ist die Erkenntnis der höheren Wahrheit, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist, nur dem Glauben erschwinglich.
Kirche und Theologie stehen heute in der Situation, die Botschaft Jesu in einer Gesellschaft zu verkündigen, die nicht vom Glauben an Jesus Christus geprägt ist. Die Kirche gerät mehr und mehr in die Situation, wie die Urgemeinde die Botschaft Jesu einer nicht glaubenden Umwelt zu verkündigen, zum Glauben an Jesus Christus aufzurufen. Würde die Botschaft Jesu ihre Wahrheit nicht in sich selbst tragen, sondern könnte diese nur dem aufgehen, der den Glauben an Jesus Christus zuvor vollzogen hat, wie sollte dann Jesu Botschaft in dieser Umwelt überhaupt zur Geltung gebracht werden? Wenn sie jedoch ihre Überzeugungskraft in sich selbst trägt, den Hörer also unmittelbar in die Entscheidung stellt, dann kann ihre Weiterverkündigung selbst den Christusglauben wecken und herausfordern.
Wie haben Jesus selbst und die Urgemeinde den Wahrheitsanspruch ihrer Verkündigung begründet? Jesus hat die gnädige Vergebungsbereitschaft Gottes und sein nahes „Reich“ verkündet und die Bedingungen und Forderungen genannt, um dessen teilhaftig zu werden. Wie hat er seine Botschaft begründet? Er hat prophetisch gesprochen, aber nicht als Prophet. Eine Bezugnahme auf eine Berufungsvision oder eine Botenformel suchen wir bei ihm vergebens. Einzig Lk 10,18: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ könnte auf eine Begründung von außen hinweisen. Jesus hat auch nicht mit der Tora argumentiert, schon gar nicht mit dem Anspruch, der Messias oder „Sohn Gottes“ zu sein. Er hat seine Botschaft offenbar überhaupt nicht von einer Instanz außerhalb ihrer selbst legitimiert. War er mithin der Meinung, dass seine Botschaft ihre Wahrheit in sich selbst trägt, eindeutig und überzeugend ist und darum letzte Autorität beanspruchen kann? Dies trifft für seine weisheitlichen Forderungen auf jeden Fall zu, aber auch für seine eschatologische Botschaft. In Lk 11,20 verweist Jesus auf sein exorzistischen Wirken als Evidenzerweis seiner Botschaft von der basileia. Wenn jetzt die Dämonen „durch den Finger Gottes“ ausgetrieben werden, dann ist Gottes „Reich“ zumindest punktuell schon erschienen. Es gilt nach Jesus, die „Zeichen der Zeit“ zu beachten und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Und in seinen Gleichnissen erweist sich Jesus als ein Meister der Überredungskunst, der seine Hörer von der inneren Wahrheit seiner Geschichten überzeugen will. Das kann nur bedeuten, dass für Jesus seine Botschaft aus sich sprach und keiner Autorität von außen bedurfte. Die Hörer blieben ganz auf seine Botschaft verwiesen, deren Wahrheit sie annehmen oder ablehnen konnten. Dass sie damit auch Stellung zum Träger dieser Botschaft nahmen, ihm Recht gaben oder ihn ablehnten, ist klar. Doch war diese Haltung der Hörer zu Jesus eine Folge ihrer Haltung zu seiner Botschaft. Nirgends forderte Jesus von seinen Hörern zuerst einen Glauben an seine Person, nirgends setzte er bei ihnen ein Bekenntnis zu ihr voraus, das nicht eine Funktion der Anerkennung seiner Botschaft gewesen wäre.
In der nachösterlichen Verkündigung der Urgemeinde trat zur Botschaft Jesu, die die Jünger weiterverkündeten, der Osterglaube hinzu. Er ist die Keimzelle der direkten Christologie, die Jesus als den Christus und Gottessohn bekennt. Wird jetzt der Glaube an Jesus Christus das Erste und die Annahme seiner Botschaft das Zweite? Erhält Jesu Botschaft durch das Osterereignis eine neue Qualität?
Das genau ist die Frage! War die Urgemeinde wirklich der Meinung, die geschichtliche Botschaft Jesu habe durch das Ostergeschehen eine neue Qualität erhalten, die sie vorher nicht hatte? Oder bestätigte dieses nur von Gott her Jesu Botschaft und ihren Wahrheitsanspruch? Freilich scheint es so, dass die Jünger Jesu Botschaft nach Ostern weiterverkündeten, weil Gott Jesus von den Toten auferweckt und in den Himmel erhöht hatte. Dennoch hat Jesu Botschaft in ihren Augen dadurch offenbar keine neue Qualität erhalten. Sie bleibt Jesu Botschaft, allerdings nicht nur des geschichtlich vergangenen, sondern auch des lebendigen und in den Himmel erhöhten Jesus. Er selbst spricht weiter, nun durch den Mund seiner Boten. Ostern garantiert somit die Weiterverkündigung der alten Botschaft Jesu. Es ist eben nicht so, dass im Denken der ersten Jesusboten Wahrheit und Anspruch der Botschaft sich durch Ostern qualitativ verändert hätten. Darum wird von den Hörern auch eine Stellungnahme zu Jesus gefordert (Lk 12,8f), der der irdische und himmlische Jesus zugleich ist. Die nachösterlichen Jesusboten führen also die Botschaft des irdischen Jesus weiter, freilich im Licht ihres neuen Glaubens, und sie beanspruchen, diese Botschaft weiterzuverkünden und pochen auf deren Wahrheit. Durch sie sind auch wir bleibend auf den irdischen Jesus und seine Botschaft verwiesen. Über ihre Wahrheit, die sie in sich trägt, müssen wir nachdenken.
In der Folgezeit setzte ein intensives Nachdenken über Jesus im Licht des Osterglaubens ein. Der Auferweckte und Erhöhte wurde nun Messias/Christos, Menschensohn, Sohn Gottes, Kyrios und Logos genannt. Immer aber war der irdische Jesus in diese Christologie einbezogen: Auch in seinem irdischen Wirken war Jesus der Messias/Christos, Menschensohn, Sohn Gottes, Kyrios und Logos. Der Messias/Christos ist „für uns gestorben“, der Menschensohn war verborgen auf Erden tätig, der Sohn Gottes wirkte Gottes Werke auf Erden, der Kyrios wurde im Irdischen von den himmlischen Mächten erkannt, der „Logos ist Fleisch geworden“. Die Gemeinde, die so spricht, will vom irdischen Jesus sprechen, von seinem Wirken und seiner Botschaft. Die Wahrheit der Botschaft Jesu hängt also für die nachösterliche Reflexion nicht nur von einer nachträglichen göttlichen Bestätigung ab, sondern ruht im geschichtlichen Wirken und der Botschaft Jesu selbst.
Diesen Gedanken vollziehen die Evangelisten bei ihrem Nachdenken über Jesus dann ausdrücklich. Sie wollen die Geschichte des irdischen Jesus erzählen. Freilich sehen sie dabei von ihrem Glauben nicht ab. Aber sie erzählen die Geschichte Jesu nicht so, dass darin nur der Glaube selbst seinen Ausdruck fände. Die erzählte Geschichte des irdischen Jesus geht vielmehr dem Glauben voraus. Sie fordert die Entscheidung des Glaubens oder des Unglaubens heraus. Autorität und Wahrheit tragen Person und Botschaft des irdischen Jesus somit auch nach den Evangelisten in sich selbst. Nicht erst der Glaube macht Jesu Wirken und Reden bedeutungsvoll, sie sind es in sich, und der Glaube bleibt Antwort. Auch der Unglaube entscheidet sich an der Botschaft des irdischen Jesus, indem er mit dem Anspruch seiner Botschaft konfrontiert wird und sie ablehnt. Verstockung und „Hartherzigkeit“ beziehen sich nach den Evangelisten auf die Botschaft des irdischen Jesus. Trotz ihrer „gläubigen“ Darstellungsweise wollen also die Evangelisten ihre Leser vor den irdischen Jesus stellen. Sie sind überzeugt, dass die Wahrheit seiner Botschaft aus sich selbst überzeugend und unabweisbar ist. Nicht weil Jesus der „Sohn Gottes“ ist, ist sie wahr, sondern weil sie die Wahrheit ist, bekennt der Glaube Jesus als den Messias und „Sohn...