Kapitel 2
Der Diagnosegang im Detail
Anamnese und Anamneseschema
Diagnoseabläufe zu beherrschen, ist sowohl für bereits praktizierende als auch für angehende Heilpraktiker obligatorisch. Wie schon aufgeführt, besteht ein Diagnosegang aus Anamnese, körperlicher Untersuchung und Praxislabor. Diese Elemente werden im Folgenden detailliert geschildert. Während die Ausführungen zur körperlichen Untersuchung und zum Praxislabor dabei sowohl für angehende als auch für praktizierende HP relevant sind, richtet sich das Anamnesekapitel nur an den HPA. Dies hat zwei Gründe:
• Ein praktizierender Heilpraktiker hat bereits sein eigenes Anamneseschema entwickelt oder übernommen, das immer auch sein Therapiespektrum berücksichtigt.
• Übliche Anamnesen, wie jeder sie kennt (aus eigenen Arzt- und HP-Besuchen oder aus Lehrbüchern), sind oftmals ungeeignet für die mündliche HP-Prüfung: sie sind entweder zu kurz, zu lang oder zu therapiespezifisch.
Der HPA muss in der Lage sein, aus der Anamnese für die HP-Prüfung wichtige Hinweise für das Erreichen seiner Grenzen zu entnehmen. Damit ist Folgendes gemeint:
• Die Anamnese muss so gestaltet sein, dass sie einen Notfall und/oder ein akutes Geschehen aufdeckt.
• Sie sollte Fragen enthalten, die den HPA auf die Fährte „Infektionskrankheit“ lenken.
• Auch Hinweise für eine bösartige Erkrankung beim Patienten sollten über eine gute Anamnese erhältlich sein.
• Ein Anamneseschema für die mündliche HP-Prüfung sollte darüber hinaus noch Anweisungen geben, wie in welchem Fall zu verfahren ist und was sich nach der Anamnese anschließen sollte.
Das Anamneseschema in diesem Kapitel wurde über viele Jahren entwickelt und erhebt den Anspruch die genannten Punkte zu berücksichtigen.
Die
Anamnese steht am Anfang des Diagnosegangs. Sie beginnt, nachdem der Prüfer einen fiktiven Fall geschildert hat (z. B. „Patient X kommt zu Ihnen und fühlt sich nicht wohl – wie gehen Sie denn jetzt vor?“). Jetzt ist der HPA mit seiner Anamnese an der Reihe. Dazu sollte er das Schema in
Abbildung 2.1 nutzen.
Abb. 2.1Anamneseschema, Untersuchung und Praxislabor.
Im Folgenden sollen die einzelnen Bausteine bzw. Kästen des Anamneseschemas erläutert werden. Vorab sei jedoch noch einmal deutlich auf Folgendes hingewiesen: Je genauer Sie sich an dieses Schema halten, umso wahrscheinlicher ist es, dass Sie die mündliche Prüfung bestehen.
Erste Fragen
• Seit wann bestehen die Symptome? Seit Kurzem?
• Gab es eine Verschlimmerung in den letzten Stunden?
• Bestehen sonstige Symptome?
• Bestehen Schmerzen? Sind die Schmerzen dem Patienten bereits bekannt?
Diese ersten Fragen bei der Anamnese zielen darauf ab, von vornherein zu ermitteln, ob es sich um einen Notfall handeln könnte bzw. einen Notfall auszuschließen. Sofern die Antworten auf diese Fragen auch nur im Geringsten auf einen Notfall hindeuten, ist ein solcher über verschiedene Fragen und Untersuchungen auszuschließen.
Antworten des fiktiven Patienten, die einen Notfall andeuten können, wären z. B.:
• Ich habe mich ziemlich heftig am Kopf gestoßen.
• Die Beschwerden haben sich in den letzten Tagen oder Stunden verschlimmert.
• Die Symptome habe ich erst seit heute Morgen.
• Neben dem geschilderten Symptom habe ich auch Schmerzen.
• Die Schmerzen, die aufgetreten sind, kenne ich sonst nicht.
Handelt es sich bei dem Symptom um einen Schmerz, so liegt ein Notfall bzw. ein akutes Geschehen vor. In diesem Zusammenhang kommen häufig in mündlichen HP-Prüfungen vor:
• Herz: akute Linksherzinsuffizienz, Myokardinfarkt Vorsicht! Daran denken, dass ein Herzinfarkt auch nur Rücken- oder Oberbauchschmerzen verursachen kann.
• Lunge: Pneumothorax, Pneumonie, Lungenembolie
• Verdauungsorgane: akutes Abdomen, Gallenkolik, akute Pankreatitis
• Niere: akutes Nierenversagen, Nierenkolik
Wenn der Prüfling den Eindruck hat, dass ein Notfall vorliegen könnte, so muss auf einen Notfall untersucht werden. Beim Hausbesuch ist besondere Vorsicht an den Tag zu legen. Hier muss als Erstes gefragt werden, wie der Patient vorgefunden wird:
• Notruf tätigen, sofern der Patient bewusstlos ist oder ein eingetrübtes Bewusstsein hat.
• Notruf tätigen, falls der Patient mangelhaft orientiert ist.
Auch ist an das Infektionsschutzgesetz zu denken,
• wenn andere Personen in mittelbarer oder unmittelbarer Umgebung mit gleichen Symptomen aufwarten. Zum Beispiel leidet die ganze Familie unter Gastroenteritis.
• wenn der Patient Symptome oder Verhaltensweisen zeigt, die an eine Infektionskrankheit denken lassen müssen. Der Patient liegt z. B. im Dunkeln und zeigt einen Opisthotonus; es besteht der Verdacht auf eine Meningitis.
Notfallausschluss
Um einen Notfall auszuschließen, bedient sich der HP folgender Methoden:
• Erfassung des allgemeinen Eindrucks
• Ermittlung von Blutdruck (RR) und Puls
• Untersuchung nach Notwendigkeit
• Messung der Körpertemperatur
• Messung des Blutzuckers (BZ)
• Ermittlung der Schmerzmodalitäten
Erfassung des allgemeinen Eindrucks
Hier geht es darum festzustellen, wie der Patient verbal und nonverbal kommuniziert. Wichtige Einzeleindrücke in diesem Zusammenhang können sein:
• Art und Weise, wie der Patient sich bewegt, verhält und denkt
• Orientierung hinsichtlich Zeit, Ort und Person
Ein schwer krank wirkender, in seiner Orientierung eingeschränkter Patient ist ein Notfall.
Ermittlung von Blutdruck und Puls
Blutdruckmessung
Gravierende Abweichungen vom normalen Blutdruck (
Abb. 2.2) weisen auf einen Notfall hin. Hier soll noch einmal an folgende Werte erinnert werden:
Abb. 2.2Blutdruckmessung nach Riva-Rocci. Mit dem Stethoskop werden über der A. brachialis die Korotkow-Töne (pulssynchrone Strömungsgeräusche) auskultiert. Der systolische RR-Wert wird abgelesen, wenn die Töne erstmals hörbar sind, der diastolische RR-Wert beim Verklingen der Töne.
[L190] • Hypotonie: systolisch ≤ 110 mmHg (Mann) bzw. ≤ 100 mmHg (Frau), diastolisch ≤ 60 mmHg
• Hypertonie: systolisch ≥ 140 mmHg, diastolisch ≥ 90 mmHg
• Hypertensive Krise: systolisch ≥ 200 mmHg, diastolisch ≥ 130 mmHg
Oftmals wird in der Prüfung zum Thema „Blutdruck“ auch jenseits vom Notfallgeschehen generell nach den Ursachen einer Blutdruckamplitudenabweichung von der Norm gefragt. Es gilt Folgendes:
• Typische Ursachen einer großen RR-Amplitude (≥ 60 mmHg):
– Aortenklappeninsuffizienz
– Mitralklappeninsuffizienz
– Arteriosklerose der Aorta
• Typische Ursachen einer kleinen RR-Amplitude (≤ 40 mmHg): Hypotonieursachen wie
– Klappenstenosen im linken Herzen
Vorsicht! Ein hoher diastolischer RR (um die 120 mmHg) bei normaler Blutdruckamplitude deutet auf eine Nierenerkrankung hin, ist jedoch nicht beweisend dafür.
Pulspalpation
Über die Palpation des Pulses erhält man Hinweise auf die Herztätigkeit. Grundsätzlich gilt, dass jede Abweichung von der Norm als potenzieller Notfall gewertet werden muss.
Definitionen:
• Bradykardie: Puls ≤ 60/min
• Tachykardie: Puls ≥ 100/min
• Arrhythmie: unregelmäßiger Puls
Beispiele:
• Notfallursache für Bradykardie: AV-Block Grad 3
• Notfallursache für Tachykardie und Arrhythmie: Tachyarrhythmia absoluta
Schockindex
Verhalten sich Blutdruck und Puls gegenläufig (Sinken bzw. Steigen), so kann man sicher von einem Schock ausgehen. Basierend auf dieser Vorstellung wurde der Schockindex als diagnostischer Basisparameter des Schockgeschehens formuliert. Dazu wird der Quotient...