2. Wie Leben funktioniert
»Let everything be allowed to do what it naturally does, so that its nature will be satisfied.«
ZHUANGZI
Emergenz
Kollektive Probleme – kollektive Lösungen
Die ökologischen Herausforderungen, wie sie beispielsweise auf dem Klimagipfel in Kopenhagen 2009 formuliert wurden, wie auch die Weltfinanzkrise, die 2008 ihren Ausgang nahm, sind kollektive Probleme und erfordern eine kollektive Lösung. Die Herausforderung besteht darin, über Einzellösungen hinaus kollektive, systemische Lösungen zu finden, wie es Einzelne nicht vermögen. Dieses Auftauchen synergetischer Kräfte nennt man auch Emergenz. In der Biologie bezeichnet man als emergente Eigenschaften solche, die im Ganzen entstehen, ohne dass sie in den Teilen jeweils für sich selbst schon vorhanden wären.
Bienen oder Ameisen etwa würden nicht als Einzelwesen überleben, entwickeln aber zusammen eine kollektive Intelligenz, die denen der einzelnen Individuen weit überlegen ist. Die emergente Intelligenz selbstorganisatorischer Systeme lässt sich anhand einer Ameisenkolonie gut verdeutlichen. Aufgrund der Komplexität einer Ameisenkolonie ist es für die Königin unmöglich, jede Ameise zu überwachen oder zu steuern. Dort gibt es keine Führungsstrukturen, auch wenn wir Systeme lange Zeit aus diesem Blickwinkel analysiert – und missverstanden – haben. (Johnson 2001)
Die argentinische Ameisenart Linepithema humile zeigt, dass Kooperation innerhalb einer Spezies einen großen Überlebensvorteil bringt. Linepithema ist deshalb in der Lage, »fremde Ökosysteme extrem erfolgreich zu erobern, weil diese Art – wie bei Ameisen sonst üblich – ihr Territorium nicht gegen jede andere Ameisenkolonie verteidigt. Linepithema geht stattdessen bei der Eroberung neuer Territorien mit anderen Kolonien ihrer eigenen Art gemeinsam vor.« (Kruse 2009, 117)
Beispiele Bienenvolk und Zugvögel
Auch Bienenvölker kennen keine Führung, es gibt kein Individuum, das anführt und entscheidet. Die Bienen organisieren sich einfach selbst. (Laughlin 2009) Ein anderes Beispiel bieten Schwärme von Zugvögeln, die sich von der Basis her ausrichten, ohne »Leithammel« und ohne die Befolgung komplizierter Regeln: »Wer einen Vogelschwarm am Himmel beobachtet, gewinnt eine Vorstellung von spontaner Ordnung, um einen Begriff des Ökonomen Friedrich Hayek zu verwenden.« (Surowiecki 2007, 143f.)
Schon auf biochemischer Ebene sind komplexe Systeme nicht nur als bloßes Nebeneinander ansonsten nicht zusammenhängender Teile zu verstehen. Alle Teile stehen miteinander in Wechselwirkung, und diese Dynamik eines Systems ist als Wirkungsgefüge zu verstehen, als Programm, das die eigene Veränderungsfähigkeit in sich trägt. (Vester 2002)
Heutzutage gewinnt die Idee, zusätzlich zu den Anforderungen von kognitiver und emotionaler Intelligenz auch kooperative Intelligenz zu nutzen, immer stärkere Bedeutung. Den Begriff der »collaborative intelligence« hat William Isaacs (2002) eingeführt. Isaacs meint damit die Fähigkeit, die Energie von Beziehungsnetzwerken zu nutzen und zu verstärken. Doch unabhängig von der Idee der Kooperation geht dieser Gedanke tiefer. Er stützt sich nämlich auf die Idee, dass alle Lebewesen auf einer bestimmten Ebene miteinander verbunden sind. Unterstellt wird eine kollektive Intelligenz, zu der wir nicht nur alle beitragen, sondern auf die wir auch potenziell zugreifen können. (Joyce 2008)
Kooperation versus Wettbewerbsorientierung
Diese Auffassung konterkariert die im Wirtschaftsleben tief verwurzelte Überzeugung, Erfolg auf Wettbewerbsorientierung zu gründen. Dabei zeigt uns die Tierwelt viele mögliche Beispiele für Alternativen. Schwärme von Staren mit Tausenden Vögeln koordinieren Millionen von Flügelschlägen. Diese Synchronie verdankt sich jedoch nicht, wie man vielleicht vermuten mag, den spontanen Reaktionen der Vögel auf die jeweiligen Nachbarn. Die Reaktionszeit wäre hierfür, zieht man das Nervensystem der Vögel in Betracht, viel zu kurz. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei Fisch- oder Insektenschwärmen und sogar in großen Tierherden.
Auch Termiten oder Ameisen wenden Verhaltensweisen an, die aus dem Kollektiv entstehen. Termiten bauen im Verhältnis zu ihrer eigenen Größe die größten Bauwerke der Erde und erschaffen in Gruppen architektonisch hochkomplexe Behausungen. Dabei stehen sie nicht unter der Führung von einzelnen »Architekten« oder »Ingenieuren«. Das Wissen entsteht vielmehr im Kollektiv und beim Tun. Dieses emergente Wissen ist demnach in der Gesamtheit der Population vorhanden, nicht aber bei einzelnen Individuen zu beobachten. (Joyce 2008) Auch Ameisen zeigen emergente Eigenschaften in der Gruppe, ohne die Präsenz von Spezialisten oder Anführern. Komplexe Aufgaben, etwa beim Errichten neuer Kolonien, werden von verschiedenen Individuen übernommen. Sie wechseln die Aufgabe gemäß den gerade anfallenden Erfordernissen.
Erfolg durch Kommunikation
Bereits Bakterien beweisen kollektive Intelligenz, wie Eshel Ben-Jacob und James Shapiro anhand der E.-coli-Bakterien gezeigt haben. Die Bakterien stehen in Kommunikation zueinander; und obwohl sie einzeln äußerst geringe Möglichkeiten haben, können sie im Kollektiv Leistungen vollbringen, die für Menschen nicht möglich wären. So haben sie sich etwa von ihrer Nahrungsquelle Laktose auf Aspirin umgestellt. (Joyce 2008)
Während wir Technologien wie Gentechnik oder Internet für fortschrittliche Leistungen unserer Zivilisation halten, gehen Bakterien in analog kreativer Weise schon seit Milliarden von Jahren vor. Nehmen wir nur die Geschwindigkeit, mit der sich die Widerstandsfähigkeit gegen neue Medikamente unter Bakterien ausbreitet. Sie beweist, dass ihre Kommunikation effizienter ist, als es eine Anpassung durch Mutationen wäre. So sind Bakterien in der Lage, sich an Umweltveränderungen innerhalb weniger Jahre anzupassen. Andere Organismen würden dazu Jahrtausende benötigen. (Capra 1996) Bei den Bakterien gibt es anstelle einer vertikalen genetischen Informationsübertragung horizontale Fluktuationen mit außerordentlich rascher Verbreitungsgeschwindigkeit. (Jantsch 1992)
Was können wir daraus lernen?
Durch diese Beispiele angeregt, können wir uns fragen, welche Fortschritte für uns möglich sind, wenn wir unsere kooperative Intelligenz entdecken und einsetzen. Schließlich scheint die Intelligenz beispielsweise von Ameisen oder Termiten als Individuen betrachtet sehr begrenzt zu sein, durch ihr Gruppenverhalten agieren sie aber sehr klug. Was könnten Menschen, die für sich genommen schon individuell klug sind, erst im Kollektiv erreichen? Stephen Joyce (2008) fragt mit Recht, welchen gewaltigen Evolutionsschritt die Entwicklung der kooperativen Intelligenz für die Menschheit bedeuten könnte. Emergenz bedeutet demnach, ebenso wie der mengentheoretische Grundsatz, wonach das Ganze mehr als die Summe seiner Teile darstellt, dass ein Team als Ganzes es schafft, Probleme zu lösen, die kein einzelnes Mitglied allein lösen könnte.
Selbstorganisation als Ordnungsprinzip in der Natur
Den Begriff »Systemtheorie« benutzte erstmalig der österreichische Biologe Ludwig von Bertalanffy (1969) an der Universität von Chicago im Jahre 1937, indem er von einer »General System Theory« spricht. Er formulierte auch den Gedanken der »Emergenz«, wobei er nicht nur die Vernetztheit, sondern auch die Eigengesetzlichkeit von Systemen annimmt. Für ihn stellt dieses neue Paradigma ein neues Menschenbild dar, das die immanente Aktivität anstelle der Reaktion auf Fremdeinflüsse betont. Bertalanffy ahnt bereits, was dieses neue Paradigma auch für andere Disziplinen als die Biologie bedeutet, etwa für die Erziehungswissenschaften oder die Psychotherapie.
Betonung von Ziel- und Zweckorientierung
Bei seiner Definition der General System Theory hebt Bertalanffy die Ziel- und Zwecksetzung von lebenden Systemen hervor. Ähnlich wie bei der aristotelischen Entelechie (griech. telos = Ziel und echein = haben) tragen Lebewesen das Ziel ihrer Entwicklung immer schon in sich. In den Worten der General System Theory heißt dies nun Zielorientierung, Zweckorientierung und Selbstorganisation.
Zugleich sind alle Lebensformen als »offene Systeme« zu verstehen: Damit wird ihre Abhängigkeit von ständigen Energieflüssen und Ressourcen betont. Bertalanffy prägt hierbei einen zweiten zentralen Begriff der Systemtheorie, den des...