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Psychoanalyse - Die Lehre vom Unbewussten

Geschichte, Klinik und Praxis

AutorHeinz Weiß, Marianne Leuzinger-Bohleber
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783170238145
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Die Psychoanalyse wird oft als die 'Wissenschaft des Unbewussten' charakterisiert. Heute existieren verschiedene Auffassungen des Unbewussten nebeneinander und es wird versucht, dazu neue theoretische Konzepte zu entwickeln. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit interdisziplinären Forschungsergebnissen eine zentrale Rolle. In diesem Band werden die aktuellen, internationalen Diskurse dargestellt und mit einem historischen Abriss verbunden. Zudem vermitteln klinische Beispiele einen Eindruck davon, wie Psychoanalytiker heute mit unbewussten Prozessen ihrer Patienten in der therapeutischen Situation umgehen.

Prof. Dr. M. Leuzinger-Bohleber, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt/M., lehrt psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Prof. Dr. H. Weiß ist Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart, und vertritt kommissarisch die Leitung des Medizinischen Fachbereichs am Sigmund-Freud-Institut.

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Leseprobe

2         Das Unbewusste im Kaleidoskop des Theorienpluralismus der heutigen Psychoanalyse


Marianne Leuzinger-Bohleber


Lernziele

•  Einen Überblick über die methodischen und wissenschaftstheoretischen Probleme und Fragen bekommen, die mit der gegenwärtigen klinischen und extraklinischen Forschung und Theorieentwicklung verbunden sind

•  Anhand eines Beispiels, in dem eine Traumserie im Mittelpunkt steht, einen Eindruck von der Wirkungsweise unbewusster Prozesse bekommen

•  Die ichpsychologische Auffassung des Unbewussten kennenlernen

•  Mithilfe des epigenetischen Entwicklungsmodells von Erikson spezifische Inhalte unbewusster Phantasien verstehen können

•  Einige britische objektbeziehungstheoretische Konzeptionen des Unbewussten kennenlernen

•  Einige Grundgedanken von Winnicott kennenlernen

•  Einige Konzepte der nordamerikanischen Objektbeziehungstheorie insbesondere von Kernberg kennenlernen

•  Gedanken der Selbstpsychologie von Kohut kennenlernen

•  Einige Konzepte der empirischen Säuglings-, Bindungs-, Mentalisierungs- und Genderforschung zu einem intersubjektiven Verständnis des Unbewussten kennenlernen

•  Abschließend sich eine Klarheit darüber verschaffen, welche unterschiedlichen Perspektiven von den skizzierten Richtungen eingenommen werden und worin die jeweilige Erklärungskraft liegt

•  Die Frage beantworten können, ob der dargestellte Erkenntnisstand bereits ausreicht, um die verschiedenen Modelle differenziert miteinander in Beziehung setzen zu können?

2.1       Das Unbewusste in der klinischen Praxis – Ein Fallbeispiel


Mit dem folgenden Fallbeispiel soll ein fragmentarischer Einblick in die konkrete psychoanalytische Arbeit mit einer schwer traumatisierten Patientin gegeben werden, um zu illustrieren, wie auch heute noch das Entdecken idiosynkratischer unbewusster Phantasien und Konflikte und ihr Durcharbeiten in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker zu Recht als Voraussetzung zum Wiedergewinnen von inneren und äußeren Spielräumen und daher für eine Befreiung aus den Fesseln psychopathologischer Symptome gelten können. Zudem wird versucht, dem Leser einen Eindruck von der Komplexität des Zusammenwirkens verschiedener unbewusster Determinanten bei der Entstehung und Bearbeitung psychischer Symptome zu vermitteln. Schließlich wird die tastende Annäherung in dem unter 1.3 beschriebenen, zirkulären klinischen Erkenntnisprozess veranschaulicht, der eine ständige professionelle Selbstreflexion des intersubjektiven Geschehens zwischen Analysandin und Analytikerin erfordert, ein Prozess der kritischen Selbstreflexion, in dem, wie in diesem Fallbericht thematisiert wird, ständig zwischen eigenen Wahrnehmungen, Projektionen, »Wahrheiten« der Analytikerin und jenen des Analysanden unterschieden werden muss. Letztlich kann nur zusammen mit dem Analysanden bzw. in der gemeinsamen sorgfältigen, bewussten und unbewussten Reaktion auf eine Deutung, Konfrontation etc. entschieden werden, ob es wirklich unbewusste Phantasien und Konflikte des Patienten sind, die sich dem analytischen Verstehen erschließen und schließlich zu einer Symptomveränderung führen. Die Arbeit mit Träumen kann dabei immer noch eine »via regia zum Unbewussten« darstellen (vgl. dazu auch Fischmann, Leuzinger-Bohleber, Kaechele, 2012; Leuzinger-Bohleber, 2012).

Für dieses Tasten nach Erkenntnis kann der plurale Reichtum zur Erklärung des Unbewussten hilfreich sein, weil er einliniges Denken, eine »closing-up« theoretischer Erklärungen, entgegen wirkt (vgl. dazu u. a. Bollas, 1987, 1995). Schließlich dient das Fallbeispiel dazu, einzelne Konzepte zum Unbewussten in verschiedenen psychoanalytischen Schulen deutlich zu machen ( Kap. 2).

»Möchten Sie oder ich, dass ich ein Kind bekomme?« – Eine Traumserie als klinische Abstützung psychodynamischer »Wahrheiten«. Klinische Annäherungen an »unbewusste Wahrheiten« – ein fragmentarisches Beispiel4

Frau Claudia X., eine hübsche, zierliche Frau aus Südspanien, sucht in ihrem 35. Lebensjahr wegen schwerer Depressionen, begleitet von Schlaflosigkeit, Suizidgedanken und häufiger Migräne, psychotherapeutische Hilfe. In den Abklärungsgesprächen erzählt sie, dass sie seit 15 Jahren in Deutschland lebt. Ihr zehn Jahre älterer Partner, ein reicher Fabrikant, trägt sie auf Händen. Sie lebt seit 13 Jahren mit ihm zusammen und fühlt sich zärtlich freundschaftlich mit ihm verbunden. Allerdings schläft das Paar seit über zehn Jahren nicht mehr miteinander, da der sexuelle Austausch für beide offenbar nicht befriedigend war. Ein Auslöser der aktuellen Krise war, dass Frau X. aus Schuldgefühlen eine Beziehung zu einem Verkäufer in einem Sportgeschäft aufgab. Mit ihm hatte sie erstmals eine befriedigende, leidenschaftliche Sexualität entdeckt. Auf einen weiteren Zusammenhang stoßen wir im zweiten Abklärungsgespräch: Frau X. erzählt beiläufig, dass sie innerlich überzeugt sei, ihren 36. Geburtstag nicht zu überleben. Doch sei ihr dies nun alles gleichgültig: das Leben habe für sie ohnehin keinen Sinn mehr. Als ich sie bitte, spontan zu sagen, was ihr zu »36« einfalle, assoziiert sie zu unser beider Erstaunen, dass sich ihr Vater an seinem 36. Geburtstag – im 5. Lebensjahr der kleinen Claudia – mit Schlaftabletten suizidiert hat. Erst in der Psychoanalyse stellt sich sukzessiv heraus, wie traumatisch dieser Verlust für Claudia gewesen sein muss. Zusammen mit ihrem ein Jahr älteren Bruder wurde sie nach diesem Ereignis ohne Vorankündigung von der Mutter in ein Internat geschickt. Erst eineinhalb Jahre später, als die Mutter gezwungen war, ihre Kinder nach Hause zu holen, weil beide physisch (und psychisch) krank geworden waren, erzählte sie ihnen vom Suizid des Vaters.

Sukzessiv rekonstruieren wir in unseren analytischen Sitzungen, vor allem anhand neu auftauchender Erinnerungen und von eindrücklichen Träumen, wie sehr die Mutter in den anschließenden Jahren ihre Tochter als Selbstobjekt und als Partnerersatz psychisch missbrauchte und ihr kaum einen adäquaten Individuations- und Separationsprozess ermöglichte. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Als Claudia 14 Jahre alt war, suchte ihre Mutter mit ihr den Gynäkologen auf und ließ ihr eine Spirale »einbauen«, um mögliche Schwangerschaften durch ihre »erste Liebe« zu verhindern. Sie partizipierte jahrelang an der Sexualität ihrer Tochter, die im elterlichen Schlafzimmer – mehr oder weniger unter den Augen der Mutter – mit ihrem Freund schlief, eine retraumatisierende Erfahrung für die adoleszente Tochter. Als ihr Freund sie mit 19 heiraten wollte, reagierte sie erstmals mit schwerer Migräne und einem psychosomatischen Zusammenbruch, so dass ihr empfohlen wurde, sich in den Alpen in einem Sanatorium zu erholen. Sie blieb in der Schweiz, trennte sich von ihrer Jugendliebe und lernte ihren jetzigen Lebenspartner kennen, mit dem sie schließlich nach Deutschland zog.

Aus dem eindrücklichen Selbst- und Identitätsfindungsprozess, den Frau X. im Laufe der vierjährigen Psychoanalyse durchlief, möchte ich in unserem Zusammenhang nur anhand einer Serie von Träumen fragmentarisch illustrieren, wie sensibel in der Übertragungsbeziehung dieser Psychoanalyse mit dem Eigenen, dem sich vom Anderen Unterscheidenden, umzugehen war und welch hohe Anforderungen an meine professionelle Selbstreflexion damit verbunden waren, da diese Differenzierung u. a. die Voraussetzung für das Auftauchen des »wahren Selbst« der Analysandin und seiner sukzessiven Stabilisierung darstellte. Selbstverständlich war diese Übertragungsbeziehung rasch von der intensiven Wiederbelebung der pathologischen Beziehung zur intrusiven Mutter geprägt, ein Grund, warum sich in dieser psychoanalytischen Behandlung die oben erwähnte Frage nach der »Wahrheit der psychoanalytischen Deutung« besonders eindringlich stellte. So ging Frau X. von der unbewussten Überzeugung aus, dass auch ich, analog zu ihrer Mutter, sie zur Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse »missbrauchen« würde, z. B. indem ich ihr meine analytischen Auffassungen und Weltanschauungen »überstülpen« werde. Odgen (1992, S. 235) beschreibt diesen Prozess wie folgt:

»Der Patient wird von festen unbewussten Überzeugungen bestimmt (die er aber nicht artikulieren kann), die ihm seine frühinfantilen und frühen Kindheitserfahrungen...

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