»Der Mensch grüßt mit Leidenschaft den Menschen,
der er sein könnte.«
N. N.
Älter werden heißt nicht zwangsläufig klüger werden. Allein das Erleben und Durchleben vielfältiger Situationen sowie die damit verbundenen Erfahrungen machen noch nicht weise. Erst dann, wenn wir diese Erlebnisse und Erfahrungen reflektieren und uns damit auseinandersetzen, können daraus echte Erkenntnisse werden.
Portia Nelson zeichnet mit dem Text »There’s a hole in my sidewalk«26 ein gutes Bild dafür, wie bedeutsam die Reflexion von Erfahrungen ist: Sie erzählt von der Erfahrung, auf einer Straße in ein tiefes Loch zu fallen; sie fühlt sich verloren, aber sie erlebt es ist nicht als die eigene Schuld. Und wieder kommt die Erzählerin dieselbe Straße entlang, sieht das Loch im Gehsteig, tut aber so, als sähe sie es nicht – und fällt wieder hinein; aber sie sieht immer noch keinen Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und dem Geschehnis. Als sie später wieder dieselbe Straße entlang geht, sieht sie das Loch, fällt aber aus Gewohnheit wieder hinein, mit geöffneten Augen – und sie realisiert, es ist ihre eigene Schuld. Dann geht sie dieselbe Straße entlang, in der immer noch dieses tiefe Loch im Gehsteig ist. Sie umgeht es. Letztendlich wählt sie eine andere Straße.
Eine gute Übersetzung des Textes von Portia Nelson finden Sie bei Sean Covey.27
Selbstreflexion ist die Voraussetzung für gelingendes Selbstmanagement.
Der Begriff des Selbstmanagements ist keineswegs neu und wird in vielen Kontexten mit unterschiedlichen Bedeutungen benutzt. Schon 1927 hat der Psychologe und Ökonom Gustav Großmann, ein Wegbereiter der methodischen Arbeits- und Lebensgestaltung, die Grundlagen gelegt für viele Gedankenmodelle der Selbstorganisation, der persönlichen Zeitplanung und Selbstführung.28 Nietzsche, Schopenhauer und viele andere Geisteswissenschaftler haben sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. In den letzten Jahrzehnten kamen unter immer wieder neuen Namen und Vermarktungskonzepten die Grundideen von Philosophen und Ökonomen etwas aufgehübscht auf den Markt. Werden diese alten philosophischen und manchmal auch pragmatisch orientierten Grundsätze in stark vereinfachte Form gefasst, suggerieren sie Menschen, dass sie durch die Anwendung bestimmter »Techniken« die Zeit managen, sich selbst optimieren und so ganz schnell zu ihrem Glück finden könnten. Verführerisch, aber unwahr.
Ein gelingendes Älterwerden im Beruf ist aus unserer Sicht untrennbar verbunden mit einem proaktiven Selbstmanagement. Das bedeutet,
- den Willen und die Fähigkeit einzusetzen, über sich selbst, die eigenen Werte, Ansprüche, Gefühle, Verhaltensweisen und äußeren Rahmenbedingungen zu reflektieren;
- individuelle und situationsgerechte Veränderungen bei Bedarf einzuleiten und umzusetzen, Veränderungen immer wieder zu üben;
- die Verantwortung für sich selbst – das eigene Denken, Fühlen und Handeln – zu übernehmen.
Es geht also nicht um die Anwendung von Instrumenten im Sinne einer Gebrauchsanweisung. Aus der Fülle der Gedankenmodelle des Selbstmanagements beschreiben wir im Folgenden exemplarisch einige, die im Prozess des Älterwerdens von vielen unserer Klienten als hilfreich und unterstützend erlebt wurden. Diese Modelle geben keine Lösungen vor. Sie erleichtern lediglich das Nachdenken. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Ausrüstung des Bergsteigers, der Steigeisen und Seile mit auf den Weg nimmt: Klettern müssen Sie schon selbst.
Einfluss- und Interessenbereich: Wirken oder Wollen?
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern,
die ich ändern kann, und die Weisheit,
das eine vom anderen zu unterscheiden.«
Dieser Satz wird dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugeschrieben und auch häufig unter dem Namen »Gelassenheitsgebet« zitiert. Die Anonymen Alkoholiker nutzen es ebenso wie die Bundeswehr und viele andere Vereinigungen als Wahlspruch. Der Gedanke geht allerdings nicht nur auf Niebuhr zurück, sondern er hat viele Väter: Man findet ihn bei den alten Griechen ebenso wie in der klassischen Literatur, beispielsweise bei Friedrich Schiller: »Wohl dem Menschen, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann.« Der bekannteste Vertreter der positiven Psychologie, Martin Seligman und auch viele andere Therapeuten, Trainer und Autoren arbeiten mit diesem Ansatz. Stephen Covey, Dozent für Selbstmanagement, nutzte diese gedankliche Vorarbeit und integrierte sie in seine Theorie zum Einfluss- und Interessenbereich.29
Die Wahlfreiheit nutzen
Jeder Mensch hat Lebensbereiche, in denen er unmittelbar Einfluss ausüben kann. Sie können jetzt beispielsweise das Buch zusammenklappen, um Ihre Zeit und Energie auf andere Dinge zu verwenden. Sie können sich entscheiden, heute Abend Sport zu treiben oder fernzusehen. Ja, Sie können morgen entscheiden, ob Sie zur Arbeit gehen oder zu Hause bleiben. Selbstverständlich müssten Sie dann auch die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen. Bei vielen Dingen im Leben haben Sie eine Wahl, häufig bei mehr, als Sie üblicherweise realisieren. Der Einflussbereich bezieht sich auf Ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln. Dafür können und sollten Sie Verantwortung übernehmen.
Es gibt selbstverständlich eine Grenze Ihres Einflussbereiches. Dort haben Sie vielleicht ein berechtigtes Interesse, aber keinen Einfluss mehr: »Ich wünsche mir, dass die Sonne heute scheint; ich möchte dieselbe körperliche Leistung wie vor 30 Jahren erbringen, und mein neuer Chef soll sich so verhalten wie mein alter Chef.« Hier befinden Sie sich in Ihrem Interessenbereich, der außerhalb Ihres Einflusses liegt.
Für Ihr Selbstmanagement ist es bedeutsam, in welchen der beiden Bereiche Sie mehr Energie investieren. Menschen, die sich auf ihren Einflussbereich konzentrieren, vergrößern im Laufe der Jahre ihren Einfluss, weil sie mehr Zeit und Kraft darauf verwenden, nach Lösungen zu suchen und anzupacken. Menschen, die ihre Energie und ihre Gedanken auf Lebensbereiche fokussieren, die zwar interessant für sie sind, aber nicht veränderbar, verringern den Einfluss, den sie ausüben könnten.
Den Einflussbereich vergrößern
Ein Beispiel: Ein Ergotherapeut in einer Rehabilitationsklinik hatte bei seinem Vorgesetzten mehrfach einen Weiterbildungsantrag für ein Kommunikationstraining gestellt. Immer wieder wurde dieses Ansinnen abgelehnt mit dem Hinweis, dass therapeutische Techniken wichtiger seien als Kommunikation. Wenn überhaupt, dann solle sich der Therapeut in einer spezifischen Behandlungstechnik weiterbilden. Das würde die Klinik dann auch bezahlen. Der Therapeut musste nach mehreren Versuchen erkennen, dass sein Einflussbereich hier eine Grenze hatte. Er entschied sich, seine Freizeit und sein privates Geld in die gewünschte Maßnahme zu investieren. Nach dieser Weiterbildung berichtete er bei den regelmäßigen Teambesprechungen von den dort erlernten Vorgehensweisen und über deren Nutzen im therapeutischen Alltag. Die Kollegen zeigten sich sehr interessiert und baten den Therapeuten, sein Wissen in Form von internen Weiterbildungen und Supervisionen im Team weiterzugeben. Mittlerweile gilt der Therapeut als wichtiger Ansprechpartner bei den verschiedensten kommunikativen Herausforderungen mit Patienten und deren Angehörigen, im Konfliktfall zwischen Kollegen oder auch gegenüber anderen Berufsgruppen in der Klinik. Der Vorgesetzte sowie die Klinikleitung haben mittlerweile zugestimmt, dass diese Art der Weiterbildung als festes Angebot für alle Therapeuten zur Verfügung steht. Der Ergotherapeut leitet jetzt eine eigene Abteilung und hat somit seinen Einflussbereich deutlich vergrößert.
Gelegenheit verpasst
Ein anderes Beispiel: Ein neunköpfiges Team aus der öffentlichen Verwaltung arbeitete unter chaotischen Verhältnissen. Arbeitsstrukturen und Arbeitszeiten gaben den Mitarbeitern immer wieder Anlass zu klagen. Der Einflussbereich der Mitarbeiter in ihrem Arbeitsfeld war gering. Ein neuer Vorgesetzter erreichte bei der übergeordneten Behörde, dass die Arbeit in diesem Team neu organisiert werden sollte. Er drängte darauf, die Mitarbeiter in diesen Veränderungsprozess mit einzubeziehen. Und tatsächlich, die zuständige Behörde gab grünes Licht und schlug folgende Vorgehensweise vor: Die Mitarbeiter sollten ihre Arbeitsprozesse selbst analysieren und Vorschläge dazu erarbeiten, an welcher Stelle Veränderungen sinnvoll seien. Gleichzeitig sollten die Teammitglieder ein Arbeitszeitmodell vorschlagen, in dem einerseits ihre eigenen Bedürfnisse berücksichtigt sind und andererseits eine gute Erreichbarkeit der Behörde gewährleistet ist. Außerdem sollten die Mitarbeiter einen Teamsprecher aus ihren Reihen wählen, der die Neuerungen kommuniziert und als Koordinator eingesetzt wird. Mit diesem Angebot erweiterte sich der Einflussbereich drastisch.
Das Ergebnis war allerdings niederschmetternd: Die Mitarbeiter, die schon seit Jahren über das starre Arbeitssystem schimpften, verblieben in ihrer Jammerhaltung und lehnten jegliche Beteiligung an dem Verbesserungsprozess ab. Begründung: »Das sehen wir ja überhaupt nicht ein, dass wir uns jetzt noch zusätzlich Gedanken über die gesamte Arbeitsorganisation und Zeitplanung machen sollen. Die da oben sollen uns gute Konzepte liefern, dann können wir immer noch darüber diskutieren.« Die übergeordnete Behörde...