Einleitung
Schlendern, trödeln
und flanieren
Metro fahren und Pistazieneis schlecken. Das waren für mich als Kind die größten Sehnsüchte und Freuden, die ich mit Prag verband. Mit meiner Familie war ich als gebürtiger Dresdner etwa einmal pro Jahr in der Tschechoslowakei, und besonders die „Goldene Stadt“ hat mich bei jedem Besuch schwer begeistert. Vor allem der Wenzelsplatz war ein Muss, denn hier gab es gleich zwei Metro-Stationen und außerdem zwei, drei über den Platz verteilte Softeisstände, die Pistazieneis verkauften – giftgrün, sahnig-süß und total exotisch für ein Kind der DDR.
Damals hätte ich nicht im Traum gedacht, dass ich einmal für fast ein Jahr in Prag leben und studieren würde. Während meiner zwei Semester an der Prager Karlsuniversität 1994 / 95 nahm ich mir viel Zeit, mir meine vorübergehende Heimat sehr genau anzuschauen, was meine Liebe zu Prag nur verstärkt hat. Ich bin danach immer und immer wieder ausgiebig durch die Stadt gestromert, die ich inzwischen sogar zu meinem Zweitwohnsitz erklärt habe. Auf den Spaziergängen in diesem Buch war ich entweder allein unterwegs oder habe mir von Pragerinnen und Pragern die unterschiedlichsten Gegenden aus ihrem persönlichen Blickwinkel zeigen lassen und dabei wieder einmal atemberaubende Ecken dieser herrlichen Stadt entdeckt.
Was gibt es zu sehen?
Mich fasziniert jedes Mal wieder die Urbanität, die Dichte, das Kompakte. Aber mit den überraschend zahlreichen Parks und Grünflächen hat Prag auch etwas Großzügiges. An der Topografie der Stadt lässt sich viel über ihre Geschichte ablesen, was ich in diesem Buch immer wieder zeigen möchte.
Über weite Strecken ist die Stadtstruktur des frühen 20. Jahrhunderts erhalten geblieben. Alle Architekturstile finden sich hier, angefangen bei den romanischen Rotunden über Gotik, Renaissance und Barock im Stadtkern und Historismus, Jugendstil und Art déco (mit der tschechischen Spielart des Rondokubismus) in den ehemaligen Vorstädten bis hin zu allen Stilen des 20. und 21. Jahrhunderts. Typisch für Prag sind die vielen Gebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit (die in Deutschland beispielsweise ihren Ausdruck in der Bauhaus-Architektur fand). Nach dem 1. Weltkrieg herrschte ein enormer Bauboom und sowohl das Zentrum als auch die Vorstädte wurden zum Spielplatz für Architekten von Weltrang, zum Beispiel Adolf Loos mit der Villa Müller in Střešovice, Jan Kotěra und seine Villa Trmal in Strašnice oder Josef Gočár, der für den Baumeister František Strnad ein Haus in Bubeneč entworfen hat (das ist heute Sitz der mongolischen Botschaft und wurde leider stark verändert); die beiden erstgenannten Villen sind in hervorragendem Zustand und können besichtigt werden. Bemerkenswert ist auch die Mustersiedlung Baba im Norden von Prag, deren Häuser ab 1932 von Architekten wie Pavel Janák, Mart Stam oder Ladislav Machoň für ihre Besitzer regelrecht maßgeschneidert wurden.
Eine der schönsten Aussichten auf
Prag bietet der Park von Letná;
hier der Blick Richtung
Petrská čtvrť und Žižkov
mit dem Fernsehturm.
Allerdings ist in allen Epochen der Geschichte auch genauso viel an alter Bausubstanz vernichtet worden. So manches gotische oder barocke Anwesen mag sicher den Ansprüchen der neuen Zeit nicht mehr genügt haben, aber es gab auch immer schon Spekulanten, die vor allem Geld verdienen wollten und dann schnell mit der Abrissbirne zur Hand waren und Tatsachen schufen. Der 2. Weltkrieg hingegen hat sich nur marginal auf die Prager Bausubstanz ausgewirkt, und das hat in Mitteleuropa Seltenheitswert. (Nicht umsonst werden hier dauernd Filme gedreht, die in einer deutschen oder österreichischen Stadt der Vorkriegszeit spielen sollen.) Es gab drei Luftangriffe, die sich überwiegend gegen Industrie- und Verkehrsanlagen richteten. Am 14. Februar 1945 jedoch flogen kurz nach 12 Uhr über 60 amerikanische Bomber einen Angriff gegen dicht besiedelte Bereiche südlich der Innenstadt (Radlice, Vyšehrad, Vinohrady, Nusle, Pankrác). In nur fünf Minuten kamen 700 Menschen ums Leben, 1 200 wurden verletzt und zahlreiche Gebäude zerstört oder schwer beschädigt, etwa das Emmauskloster und das Faust-Haus beim Karlsplatz oder die riesige Synagoge von Vinohrady. Es gibt Vermutungen, dass die Piloten dieser Staffel durch einen Navigationsfehler Prag mit Dresden verwechselt haben, das ja zwischen dem 13. und 15. Februar intensiv bombardiert worden ist. Ich sage mir an dieser Stelle: Wer weiß, vielleicht wäre eine der Bomben, die auf Prag gefallen ist, sonst kurze Zeit später über dem Haus in Dresden ausgeklinkt worden, in dessen Keller meine damals fünfjährige Mutter mit ihrer Familie das Ende der Angriffe herbeigesehnt hat …
Auch die letzten Jahrzehnte sind nicht spurlos an den Fassaden vorübergegangen: Sei es die vernachlässigte Sanierung historischer Gebäude zugunsten von Neubauten, vor allem in den großen Plattenbauvierteln, aber auch direkt in der Innenstadt, etwa in Žižkov, seien es brachiale Eingriffe in die Stadtstruktur wie die Magistrála, die Stadtautobahn aus den 1970ern und 1980ern, sei es die massive Renovierungswelle seit den Neunzigerjahren, die ganze Viertel in Bonbonfarben getaucht und viele Wohnungen in Büros, viele Läden des alltäglichen Bedarfs in Souvenir-, Glas- und Modegeschäfte verwandelt hat. Die Einwohnerzahl im Zentrum, etwa die der Altstadt, geht auch deswegen kontinuierlich zurück – Anfang der 1960er-Jahre wohnten hier gut 24 000 Menschen, Anfang der Neunziger waren es rund 13 000, aktuell sind es noch etwa 9 000.
Das Palais Clam-Gallas
in der Husova, mein
Lieblings-Barockprachtbau.
Wie gelange ich von A nach B?
Im innerstädtischen Bereich kommt man am besten zu Fuß voran. Das ist die angemessene Geschwindigkeit, um alles wahrnehmen zu können. Nur so erschließen sich die Reize der Stadt, nur so versteht man, wie sie tickt. Man braucht viel Zeit, denn jede Möglichkeit zu einem Umweg, einem Abzweigen, einem Eintauchen in eine Passage, einen Innenhof oder ein kleines Seitengässchen sollte unbedingt genutzt werden, auch wenn man dann nicht dort ankommt, wo man hinwollte. Und ohne es zu merken, legt man enorme Entfernungen zurück – mit Pflastermüdigkeit ist unbedingt zu rechnen.
Da im Zentrum Fußgänger ein Massenphänomen sind, fahren viele Autos eher defensiv. Die in den letzten Jahren in großer Zahl angelegten Zebrastreifen sind inzwischen wirklich sichere Orte, um die Straßen zu überqueren. Nur Obacht auf die Straßenbahn! Die hat immer Vorfahrt, auch an Zebrastreifen.
Apropos: Die Straßenbahn, deren Gleise als dichtes Netz über der Stadt liegen, ist eine angenehme Alternative zum Gehen. Man kommt dank günstig geschalteter Ampeln und beherzten Fahrstils flott voran und kann bequem die Gegend betrachten.
Die Metro bietet sich für längere Strecken an. Die Bahnhöfe liegen teilweise tief unter der Erde, sodass man durchaus eine Minute auf der Rolltreppe verbringen kann. Wenn man nur ein, zwei Haltestellen weit will, dauern der Weg vom und zum Bahnsteig und das Warten auf den Zug wahrscheinlich länger als die eigentliche Fahrt. Die Stationen sind allerdings sehenswert.
Das Fahrrad fängt gerade an, als Fortbewegungsmittel eine größere Rolle zu spielen, allerdings lässt die Infrastruktur noch sehr zu wünschen übrig. Zudem reagieren Prager Autofahrer eher verstört bis aggressiv auf die zweirädrigen Eindringlinge in den heiligen Straßenraum. Hinzu kommt, dass die Stadt einiges an Steigungen aufzuweisen hat, was das Radeln zu einer sportiven Fortbewegungsart macht.
Sehr angesagt bei Prag-Besuchern sind momentan Segways, die es an vielen Orten auszuleihen gibt. Sie bewegen sich jedoch überwiegend durch sowieso schon völlig verstopfte Gässchen, was zu nicht immer begeisterten Reaktionen seitens der Passanten führt. (Auch ich zeige solchen Grüppchen immer mein grimmiges Gesicht.)
Aufs Schifffahren kann man in Prag getrost verzichten. Zwar bietet es eine etwas andere Perspektive auf die Stadt, allerdings können Blicke von den Ufern und den zahlreichen Brücken da auf jeden Fall mithalten.
Typisches Siebzigerjahre-Design in der Metrostation Náměstí Míru (Linie A).
Vom Auto ist – zumindest im Innenstadtbereich – abzuraten, obwohl die in den Blechlawinen feststeckenden Einheimischen das genaue Gegenteil zu behaupten scheinen. Die Straßen sind meist schmal und oft nur in eine Richtung zu befahren, vor allem sind sie aber in der Regel verstopft. Außerdem ist es nahezu unmöglich, einen Parkplatz zu finden, da die ganze Stadt ausschließlich aus Anwohnerparkzonen zu bestehen scheint (gekennzeichnet durch einen blauen Strich). Parkverbote werden intensiv überwacht und Verstöße mit saftigen Strafen geahndet, im schlimmsten Fall mit Abschleppen oder einer...