Die Politik wird zum Schicksal (1836–1847)
Zwischen der Julirevolution 1830 und der Februarrevolution 1848 bewies das Metternich’sche System ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Die zentralistisch-bürokratische, anstaltsstaatlich organisierte Herrschaft erteilte jeglichen bürgerlich-liberalen Forderungen nach Verfassungs-, Rechts- und Sozialreformen eine konsequente Absage. Ebenso konsequent wurden die nationalen und liberalen Bewegungen in ihren Aktivitäten weitgehend eingeschränkt. Dennoch verstummte die Forderung nach Einheit und Freiheit der Deutschen Nation nicht mehr. Die nationale Begeisterung ergriff weite Kreise des Bürgertums, bestimmte die Diskussionen in den politischen Zirkeln wie Lese- und Museumsvereinen und kam auf den ersten gesamtdeutschen Festen der Turn-, Gesangs- und Schützenvereine auch öffentlichkeitswirksam zum Austrag. Der mitteleuropäische Kommunikations- und Wirtschaftsraum wuchs enger zusammen, nicht zuletzt dank des auch vom Württemberger Friedrich List propagierten Eisenbahnbaus, der zum wichtigsten Motor der industriellen Entwicklung wurde, die sich in den 1830er Jahren schon abzeichnete, allerdings erst nach der Mitte des Jahrhunderts voll zum Tragen kam. Der zollfreie Warenverkehr innerhalb des Deutschen Zollvereins ermöglichte nicht nur den ungehinderten Austausch von Waren, sondern gab auch der Einfuhr von Rohstoffen, Halb- und Fertigprodukten aus dem Ausland neue Impulse. Mit Macht drängten sie auf den deutschen Markt, wo vor allem die bereits mechanisch hergestellten Textilprodukte, Eisenwaren wie Haushaltsartikel, Werkzeuge und Pflüge sowie sonstige Dinge des täglichen Bedarfs dank ihrer niedrigen Produktionskosten zu konkurrenzlos günstigen Preisen bald reißenden Absatz fanden. Die massenhafte Verbreitung dieser Waren erschütterte das eher kleinräumig orientierte Wirtschaftssystem in weiten Teilen des Deutschen Bundes nachhaltig. Erste Leidtragende dieser Entwicklung waren das Heimgewerbe und die kleinen Handwerker auf den Dörfern, Weber, Seiler, Küfer, Wagner, Kesselflicker, Drechsler und Schlosser, deren Absatzmärkte wegbrachen. Die Zerstörung von Produktionsanlagen und Maschinen oder der 1844 in Schlesien ausbrechende Aufstand der Weber waren Folge dieser existentiellen Krise der traditionellen handwerklichen Produktionsverhältnisse und zugleich Vorboten der sozialen Frage, die unter dem Begriff „Pauperismus“ größere Bedeutung im politischen Diskurs gewann. Ein starkes Bevölkerungswachstum und die letzte traditionelle Hungerkrise in Mitteleuropa, als über mehrere Jahre hinweg die Ernten schlechtem Wetter, der Fäulnis oder Krankheiten zum Opfer fielen, verschärften die Wirtschafts- und Versorgungskrise Mitte der 1840er Jahre. Auch wenn die Auswanderung signifikant anstieg, wirkte sie nur in bescheidenem Maße als soziales Ventil. Die Zeit des Vormärz, die politisch vom Aufbruch des Bürgertums, seiner Selbstfindung und seinem selbstbewussten Anspruch auf Partizipation und aktive Teilhabe an der politischen wie gesellschaftlichen Daseinsvorsorge geprägt war, neigte sich mit einem tiefen Vertrauensverlust in die Problemlösungskompetenzen der Regierungen ihrem Ende zu.
Abb. 4: Friedrich Lists Entwurf für ein deutsches Eisenbahnnetz von 1833 in seiner Schrift: „Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems“.
Politische Sozialisation in Mannheim
Für einen politisch interessierten Menschen zählte Mannheim in jener Zeit sicher zu den spannendsten Städten des Großherzogtums, wenn nicht gar des Deutschen Bundes. Der lange wirtschaftliche Niedergang im Gefolge der Verlegung des kurpfälzischen Hofes nach München und der napoleonischen Kontinentalsperre an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war längst überwunden. Die Quadratestadt war seit 1831 südlicher Endpunkt der Großschifffahrt auf dem Rhein; bedeutende Handelsunternehmen und eine Vielzahl von Manufakturen trugen zur ihrer neuen wirtschaftlichen Blüte bei. Der Wunsch nach Handels- und Gewerbefreiheit war allgemein in der Stadt und durchweg positiv war 1835 der Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein als wichtiger Schritt hin zu einem wirtschaftlichen Binnenmarkt und einheitlichen fiskalisch-ökonomischen Rahmenbedingungen für den Handel begrüßt worden. Dem ökonomischen Aufschwung entsprach das neue bürgerliche Selbstbewusstsein, das sich dem Prinzip des freien und gleichberechtigten Bürgers verpflichtet sah. Das Lebensgefühl der Stadt war liberal, Neuem aufgeschlossen und bereit für Veränderungen. Diese Überzeugung musste zwangsläufig mit der bisherigen Gesellschaft, die noch weitgehend auf den Prinzipien von Untertanenschaft und Standeszugehörigkeit beruhte, kollidieren. Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft, die Überzeugung, dass der Mensch, der bisher durch seinen Stand, seine soziale Schicht, also durch sein Herkommen wesentlich bestimmt worden war, sich zukünftig als Gleicher unter Gleichen in Staat und Gesellschaft bewähren könne, gehörte zu den festen Grundüberzeugungen weiter Teile der Mannheimer Bürgerschaft. Die Stadtgemeinde wurde dabei als die Plattform angesehen, auf der die große Aufgabe der Zeit: Emanzipation für die Bereiche Staat und Politik im Kleinen vorbereitet und zum Sieg geführt werden sollte, und somit der großen Politik als nachahmenswertes Beispiel dienen konnte. Auf Unverständnis nicht nur bei den Mannheimer Liberalen stieß dabei die aus ihrer Sicht bornierte Haltung der großherzoglichen Staatsregierung, die auf die modernen Forderungen nach Teilhabe an der politischen Macht und Mitgestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit den traditionellen Methoden der Repression, der Unterdrückung und Ausgrenzung reagierte. Allerdings ohne die gewünschten Folgen. Dies hatte sich schon Anfang der 1830er Jahre bei langen Auseinandersetzungen um die Wahl des Mannheimer Bürgermeisters gezeigt. Der aus mehreren Wahlgängen als Sieger hervorgegangene liberale Kandidat wartete vergeblich auf die notwendige Bestätigung der großherzoglichen Regierung, ehe er schließlich entnervt aufgab und ein der Regierung genehmer Kandidat das Amt übertragen bekam. Aufsehen und Empörung erregte diese Entscheidung, jedoch keinesfalls Niedergeschlagenheit. Was wie ein Sieg Karlsruhes erschien, entpuppte sich im Gegenteil als motivierende Erfahrung für die liberale Gemeinde Mannheims. Denn solche Auseinandersetzungen trugen nicht unwesentlich zur inneren Kohäsion der Liberalen in der Stadt und dazu bei, dass Mannheim zum Zentrum einer entschieden liberalen Bürgeropposition gegen die autoritäre Staatsbürokratie in Baden heranwuchs, die weit über die Stadtgrenzen ausstrahlte.
Für den jungen Anwalt Friedrich Hecker galt es in erster Linie, in dieser Mannheimer Gesellschaft seinen Platz zu finden. Die gleichzeitige Zulassung zum Großherzoglichen Hofgericht und zum Hofgericht des Unterrheinkreises, Ende Dezember 1838, war ein wichtiger Schritt dahin. Weit wichtiger jedoch war im Oktober 1839 die Heirat mit der 18-jährigen Marie Josefine Eisenhardt (1821–1916), einer Tochter des wohlhabenden Mannheimer Kauf- und Handelsmannes Edmund Eisenhardt. Zum familiären Glück kam der Umstand hinzu, dass mit dieser Verbindung dem jungen Hofgerichtsadvokaten Friedrich Hecker die Tore zum Eintritt in die Mannheimer Gesellschaft nunmehr offen standen. Bis 1848 werden dem Ehepaar Hecker sechs Kinder geboren, wovon drei noch im Babyalter verstarben. Auf den ältesten Sohn Arthur Joseph Gabriel (1842–1926) folgte die Tochter Malwina (1845–?) und ein weiterer Sohn Erwin (1846–1885). In den USA, wohin 1849 Josefine Hecker ihrem Mann nachfolgt, werden noch zwei weitere Söhne geboren, Alfred (1852–1887) und Alexander Hecker (1854–1895).
Am wichtigsten sollte sich jedoch im Jahr 1839 die Begegnung mit Adam von Itzstein (1775–1855) erweisen, intellektueller Mittelpunkt der liberalen Gesellschaft Mannheims, Landtagsabgeordneter der Ämter Philippsburg und Schwetzingen und Mannheimer Ehrenbürger seit 1833. Von Itzstein erkannte schnell das politische Talent und die besonderen Fähigkeiten des frischen Hofgerichtsadvokaten, nahm ihn unter seine Fittiche und wusste den jungen Bruder im Geiste an sich zu binden. Einem Ritterschlag gleich kamen für Hecker wie für seinen Trauzeugen Alexander von Soiron (1806–1855) die Einladungen nach Hallgarten, auf das von Itzstein’sche Familiengut im Rheingau, das sich als die liberale Denkfabrik des Vormärz positionieren konnte. Hier fanden sich die Vertreter des süddeutschen Liberalismus regelmäßig zusammen, tauschten sich über die politische Lage in ihren Ländern aus und entwickelten gemeinsam Strategien, mit denen sie der liberalen Idee im Deutschen Bund zum Durchbruch verhelfen wollten. Hier trafen junge, hoffnungsvolle Talente auf erfahrene politische Urgesteine, hier wurden Bündnisse geschlossen und politische Karrieren vorbereitet. Spätestens in Hallgarten traf Friedrich Hecker auch auf alte Bekannte aus Mannheimer Schultagen, wie auf den vier Jahre älteren Karl Mathy (1807–1868) oder seinen zeitweiligen Klassenkameraden Friedrich Daniel Bassermann (1811–1855), die beide schon zum politischen Establishment dieser dynamischen Stadt an Rhein und Neckar zählten. Besonders Karl Mathy, wegen seines politischen Engagements nach 1832 verfolgt und gezwungen, als Emigrant in die Schweiz zu gehen, war nach seiner 1840 erfolgten Rückkehr als Journalist schnell zu einer der politischen Hoffnungsträger des badischen Liberalismus geworden. Sie alle scharten sich um die Galionsfigur von Itzstein, der die politische Richtung vorgab. Doch das Verhältnis von Itzsteins zu Hecker ging weit über das eines politischen Zweckbündnisses hinaus. Persönliche Sympathie herrschte zwischen ihnen, ja...