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Behinderung - Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783170234710
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
'Inklusion' bildet die Botschaft der bedingungslosen Liebe Gottes zu allen Menschen so trefflich ab, dass man geradezu von einer theologischen Grundkategorie sprechen kann. Das hat jenseits der Selbstbestätigung einer sich bereits inklusiv wähnenden Kirche allerdings weit reichende Folgen für das kirchliche Leben wie für den diakonisch-caritativen Alltag. Inklusion hinterfragt überkommene Traditionen; sie verlangt von diakonischen Einrichtungen neue Organisationsformen und die Entwicklung und Umsetzung innovativer Konzepte. Sie fordert die Überprüfung, De- und Rekonstruktion theologischer Sprache und Lehrinhalte. Praxis-Beispiele und gelungene Modellprojekte geben Mut zu der Hoffnung, dass sich die Konturen inklusiver Diakonie und Kirche zukünftig weiter schärfen lassen.

Prof. Dr. Johannes Eurich ist Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg. Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl lehrt Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin.

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Leseprobe

Beziehung und Behinderung. Zur Frage nach Gott im Kontext des Lebens mit Behinderung


Johannes von Lüpke


1.         Der lebendige Gott: „behindert und göttlich“?


Der lebendige Gott, den die Bibel bezeugt und zur Sprache kommen lässt, erweist sich darin als lebendig, dass er reden, sehen, hören, riechen, greifen, laufen kann. So menschlich, so anthropomorph von Gott zu reden ist ebenso anstößig wie problematisch, und das in zweifacher Hinsicht: zum einen wenn Gott auf diese Weise vermenschlicht wird und also in seiner Göttlichkeit unterbestimmt bleibt, zum anderen wenn mit der Vorstellung eines Gottes in Menschengestalt ein bestimmtes Bild des Menschen vergöttlicht wird – mit der problematischen Konsequenz, dass nicht alle Menschen an dem so verstandenen Göttlichen teilhaben. In diesem Sinn könnte die anthropomorphe Gottesrede, die Gottes Vollkommenheit leiblich auslegt, exklusiv verstanden und damit, wie die folgenden Überlegungen zeigen wollen, missverstanden werden. Denn der lebendige Gott ist gerade darin vollkommen, dass er sich inklusiv auf alles von ihm geschaffene Leben zu beziehen vermag. Als der Schöpfer lebendiger Wesen, die sich in unterschiedlicher und unterschiedlich eingeschränkter Weise bewegen können und in unterschiedlicher und unterschiedlich eingeschränkter Weise über Fähigkeiten der sinnlichen Wahrnehmung und der Sprache verfügen, ist der lebendige Gott in gesteigertem, alles umfassendem Maße ein sich bewegendes, wahrnehmendes und redendes Wesen. „Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?“ (Ps 94,9) Der Schöpfer, der den Menschen in dieser Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Kommunikationsfähigkeit lebendig sein lässt, vermag sich selbst in durchaus leiblicher, sinnlicher und kommunikativer Weise auf seine Schöpfung zu beziehen. Zu seiner Gottheit gehört diese Leiblichkeit wesentlich hinzu.

Der so lebendige Gott ist keineswegs „behindert“, wenn man denn unter dem Stichwort „Behinderung“ an Einschränkungen, Defizite und Verluste des Wahrnehmungsvermögens, der Bewegungsfreiheit und der Kommunikationsfähigkeit denkt. Man nehme als Beispiel die Sinnesorgane Augen und Ohren. Während diese bei Menschen unterschiedlich ausgebildet und mehr oder weniger funktionsfähig sind, ist der Schöpfer, der Augen und Ohren gemacht hat, im ‚Vollbesitz‘ seines Wahrnehmungsvermögens: er ist stets wach – „der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“ (Ps 121,4). Eben indem er vollkommen gegenwärtig und aufmerksam ist, unterscheidet er sich von allen Menschen und von allen ‚Göttern‘, die von Menschen gemacht sind. Diese Götzen haben zwar „Mäuler, Augen, Ohren, Nasen, Hände und Füße“, können aber mit diesen Organen doch nicht am Leben teilnehmen und kommunizieren (Ps 115,4–8). Was Menschen sich ausdenken und was dann in Gottesbildern sowie auch in Gottesbegriffen Ausdruck und Gestalt gewinnt, vermag das Sein des lebendigen Gottes weder zu erfassen noch zu reproduzieren. Von Menschen gedacht und gemacht, sind diese Götzen „Mängelwesen“. Zwar werden sie als Idealgestalten entworfen, um Mängel des Menschen auszugleichen. Aber als bloße Abbilder dessen, was Menschen sich als göttliches Wesen vorstellen, sind sie doch unfähig, sich auf den Menschen zu beziehen. In der Sicht der prophetischen Kritik erscheinen sie als teilnahmslos, beschränkt und in diesem Sinn als „behindert“. Eben deswegen ziehen sie den Spott auf sich. Beispielhaft sei nur an die Spottrede Elias erinnert, der die auf dem Berg Karmel versammelten Baalspriester auffordert: „Ruft laut! Denn er ist ja ein Gott; er ist in Gedanken oder hat zu schaffen oder ist über Land oder schläft vielleicht, dass er aufwache.“ (1. Kön 18,27) Dieser „Gott“ scheint gerade außer Dienst zu sein oder ist verhindert; und gerade das erweist ihn als Götzen; „da war keine Stimme noch Antwort noch einer der aufmerkte.“ (1. Kön 18,29) Da war kein lebendiger Gott, kein Gott, der Leben schafft und am Leben teilnimmt. Insbesondere im Buch des Propheten Jesaja finden sich weitere Beispiele, die das Unvermögen der „Götzen“ und die Dummheit derer, die sie anbeten, drastisch herausstellen: „Keine Erkenntnis haben, die sich abschleppen mit den Klötzen ihrer Götzen und zu einem Gott flehen, der nicht helfen kann.“ (Jes 45,20)

Die Unterscheidung zwischen dem einen Gott, der einzig und allein so genannt zu werden verdient, und den sogenannten Göttern, die es doch nicht sind, will zur rechten Gotteserkenntnis verhelfen. In ihrer Durchführung erweist sie sich freilich als schwierig. Nachdenklich muss es bereits stimmen, dass der Spott, der in den zitierten Prophetenworten den Götzen gilt, im Neuen Testament Jesus trifft und in ihm auch den Gott, den er als seinen Vater anruft und mit dem er als Sohn aufs Engste verbunden ist: „Hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist“ (Mt 27,40; Mk 15,30; Lk 23,37.39). Auch hier ist es wieder das Unvermögen zu helfen, das den Anspruch auf gottgleiche Autorität widerlegen soll. Es ist mithin keineswegs eindeutig, worin die Macht des lebendigen Gottes besteht und bei wem sie zu finden ist. Nicht nur der verspottete Baal scheint außer Landes zu sein; auch der Gott, für den Jesus in Wort und Tat eintritt, ist nicht immer zur Stelle, wo er erwartet wird. Es wäre somit wohl allzu einfach, würde man das Adjektiv „behindert“ nur auf die falschen Götter beziehen, um im Gegensatz zu ihnen das wahrhaft göttliche Sein als unbehindertes Sein zu definieren. Und wenn man den Begriff „Mängelwesen“, der in der Anthropologie zur Beschreibung des Menschen eingeführt ist, auch in theologischen Zusammenhängen verwendet, dann ist durchaus fragwürdig, auf wen dieser Begriff zutrifft und was mit ihm gemeint ist. Dass die Götzen „Mängelwesen“ sind, weil sie über die ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten nicht verfügen, ist ebenso offenkundig, wie es andererseits doch anfechtbar und umstritten ist, ob der Gott der biblischen Überlieferung frei ist von allen Mängeln, Einschränkungen und Behinderungen.

Ist der Gott, dessen Wort in der Bibel zu finden ist, wirklich unbehindert, wenn er doch den Beschränktheiten dieser irdischen, endlichen Welt keineswegs enthoben ist, sondern vielmehr in ihr wirkt und in seinem Wirken die kreatürlichen Schranken nicht einfach aufhebt? „Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will“ – heißt es in Ps 115,3. Wirkt er aber als der Vater im Himmel auch hier auf Erden und erweist er seine Macht gerade in dem Menschen Jesus bis hin zum Tode am Kreuz, dann legt es sich nahe, von einem Gott zu reden, der sich behindern lässt und darin zum „behinderten Gott“ wird. So formuliert Ottmar Fuchs: In Jesus, auf seinem Weg zum Kreuz, wird Gott „einer der Geringsten“, „lässt er sich behindern“ und ist er somit in dieser Geschichte „ein Behinderter unter Behinderten“1. Kurz: Der Gott, der den Tod am Kreuz erleidet, erweist sich als „der behinderte Gott“. Eben unter diesem programmatischen Titel hat 1994 die US-amerikanische Theologin Nancy L. Eiesland einen befreiungstheologischen Entwurf veröffentlicht, der zu einer radikalen Umkehr in der Wahrnehmung „behinderter“ Menschen und zugleich zu einem Umdenken in der Gotteslehre auffordert.2 Auch bei ihr ist das Verständnis Gottes wesentlich christologisch geprägt. Den entscheidenden Impuls verdankt sie der Erzählung vom auferstandenen Christus, der sich von seinen Jüngern an Händen und Füßen anfassen und erkennen lässt (Lk 24,36–39). Der Auferstandene wird „erkannt als Gottheit, deren Hände, Füße und Seite die Zeichen deutlicher körperlicher Versehrtheit tragen“3. Gerade als der verwundete, verletzte Christus vermag er Menschen mit Behinderung nahe zu kommen, löst er „Gottes Verheißung ein, Gott würde mit uns sein, Leib geworden wie wir sind – behindert und göttlich“4.

„Behindert und göttlich“ zugleich – man kann in dieser Formulierung aufgenommen finden, was im altkirchlichen Bekenntnis als Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus behauptet wird. Hat der Sohn Gottes in Jesus Christus den wirklichen Menschen angenommen, dann gehört dazu „auch das behinderte, kranke, schwache, hilflose und lebensunfähige Menschsein“5. Menschwerdung Gottes heißt somit nicht Vergöttlichung des Menschen als Steigerungsform menschlichen Vollkommenheitsstrebens; sie vollzieht sich vielmehr als Eingehen Gottes in die Gebrochenheit menschlicher Existenz, als Anteilnahme an...

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