Einleitung
Preußen um 1789
Als in Frankreich die Revolution begann, deren Wirkungen und Folgen die Geschichte Europas und mit ihr die preußische Geschichte ein Vierteljahrhundert lang maßgeblich bestimmten, erstreckte Preußen sich über knapp 200.000 km2, auf denen etwa fünfeinhalb Millionen Menschen lebten. Das Staatsgebiet setzte sich aus mehr als einem Dutzend stark regional geprägter Provinzen zusammen, die nach und nach, durch Hochzeiten, Erbschaften und Eroberungen, unter die Herrschaft des Hauses Hohenzollern gelangt waren: die Kurmark Brandenburg, das Stammland mit der Hauptstadt Berlin, (Ost)Preußen, das dem Königreich den Namen gab, Hinterpommern und ein Teil Vorpommerns, Westpreußen mit dem Netzedistrikt, Schlesien, das Herzogtum Magdeburg, das Fürstentum Halberstadt und die Grafschaft Wernigerode. Das war die zusammenhängende Ländermasse des Königreichs, über neun Zehntel davon östlich der Elbe, der Rest – die Altmark, ein Teil Magdeburgs, Halberstadt und Wernigerode – westlich der Elbe gelegen. Dazu kamen als Exklaven die kleinen Grafschaften Mansfeld und Hohnstein in Thüringen, die nicht wesentlich größeren Herzogtümer Kleve und Geldern am Niederrhein, die Grafschaft Mark an der Ruhr, das Fürstentum Minden und die Grafschaft Ravensberg, sowie die Grafschaften Lingen und Tecklenburg zwischen Weser und Ems, Ostfriesland an der Nordseeküste schließlich, alle zusammen nicht viel mehr als ein Zwanzigstel des Staatsgebiets.
Etwas weniger als die Hälfte des Landes war Eigentum des Königs, etwas mehr als die Hälfte gehörte rund 20.000 adligen Grundherren, ein kleiner Rest unabhängigen Bauern. Bis zum Beginn des Jahrhunderts war der König Obereigentümer allen Landes und die adligen Grundherren mit der größeren Hälfte belehnt gewesen. Friedrich Wilhelm I. hatte die Lehen in Eigentum verwandelt. Seither waren die Adligen nicht mehr dinglich gebundene Lehnsleute des Königs. Dem König persönlich verpflichtete Vasallen waren sie geblieben.
Die Verfügung über den Staat und die Gesellschaft blieb dem König vorbehalten. Staat und Gesellschaft galten als identisch. Der König war der Staat, auch wenn er sich erster Diener seines Staates nannte. Er herrschte monokratisch und institutionell unkontrolliert. Ein „absoluter“ – von allem, was außer ihm war, losgelöster – Herrscher war er freilich nicht. Es gab von alters her Rechte und es gab aktuelle Interessen, gegen die er nicht verstoßen konnte, ohne Widerstände hervorzurufen, die nur mit Gewalt zu überwinden wären. Derlei Rechte und Interessen sowie Möglichkeiten des Widerstandes waren auf den grundbesitzenden Adel beschränkt. Die preußischen Könige ließen es auf Gewalt nicht ankommen. Sie zogen es vor, ihr Herrschaftsinteresse mit den sozialen und wirtschaftlichen Interessen des Adels zu vermitteln. Sie verpflichteten den Adel zu praktischer Beteiligung an ihrem Staat und vergalten die Beteiligung mit gesellschaftlichen Privilegien und der Begünstigung wirtschaftlichen Wohlstands. So gingen Preußen als Militär- und Beamtenstaat und Preußen als grundherrschaftlich organisierter Agrarstaat ineinander auf.
Preußen sei kein Staat mit einer Armee, vielmehr eine Armee, die einen Staat besitze, schrieb damals Mirabeau. Das war um des Bonmots willen einseitig übertrieben, aber nicht schlechthin falsch. Natürlich stand auch die preußische Armee im Dienste des übergeordneten Staates. Sie diente Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. dazu, Preußen in der Welt „formidabel“ zu machen, es gegen Angriffe zu wappnen, für Eroberungen zu rüsten und zu einer Macht in Europa zu erheben. Zu diesem Zweck wurde der Staat aber tatsächlich nach den Bedürfnissen der Armee eingerichtet, wurden Land und Leute den Bedürfnissen der Armee unterworfen.
Die Zahl der Soldaten lag bei 200.000. Das war für ein Land mit 5,5 Millionen Einwohnern eine hohe Zahl. Nur knapp zwei Drittel der Soldaten waren „Landeskinder“, mehr als ein Drittel waren Fremde. Grundsätzlich unterlag die preußische Bevölkerung einer Pflicht zur „Landfolge“. Tatsächlich handelte es sich dabei aber nicht um eine allgemeine Wehrpflicht. Die Angehörigen privilegierter gesellschaftlicher Gruppen und für den Staat als nützlich angesehener Beschäftigungsarten waren von der Rekrutierung für die Armee ausgenommen. Von der Pflicht faktisch betroffen waren nur die klein- und unterbäuerliche Landbevölkerung und die städtischen Unterschichten. Obwohl deren Anteil an der Bevölkerung groß war, genügten die Soldaten, die ihm zu entnehmen waren, dem König nicht. Deshalb wurden viele Zehntausend mithilfe von Verlockung, Gewalt und Tücke außerhalb Preußens angeworben und nach Preußen verbracht. Deren Neigung, ihren Eintritt in die preußische Armee durch Flucht zu widerrufen, war stark und verbreitet. Gründe dafür gab es die Fülle; im Krieg die Angst um Leib und Leben, im Frieden Langeweile und Heimweh, Drill, Zucht und Ordnung, schlechte Besoldung und willkürliche Behandlung, sowie Prügelstrafen, die es auf den Tod des Delinquenten ankommen ließen, für geringe Verfehlungen. All dessentwegen lag die Neigung zur Flucht auch vielen Soldaten preußischer Nationalität nicht fern. Desertion war ein Massenphänomen. Umso härter fiel die Bestrafung eingefangener Deserteure aus. Die Unmenschlichkeit der Strafen war ein vernünftiger Grund zur Flucht und wurde wider die Vernunft als Mittel zu deren Verhinderung angesehen.
Die Soldaten waren nicht kaserniert. Der Staat sparte das Geld für Kasernen und quartierte die Soldaten bei der zivilen Bevölkerung ein, größtenteils in den Städten, die Kavallerie zum Teil noch auf dem Land. Er verköstigte die Soldaten auch nicht, sondern erwartete, dass sie sich mithilfe ihres Soldes selbst verpflegten.
Preußischer Soldat wurde man auf unbestimmte Dauer. Die Regimentskommandeure befanden darüber, ob und wann einer wegen Untauglichkeit ausgemustert wurde. Freilich waren auch die tauglichen Soldaten nur in den ersten beiden Jahren durchgängig bei der Fahne. Danach wurden sie Freiwächter. Zwei bis drei Monate im Jahr kamen sie zusammen, um nachgedrillt zu werden, zu exerzieren und in Manövern Krieg zu spielen, den Rest des Jahres gingen sie einer zivilen Beschäftigung nach, zuhause oder als Helfer in Landwirtschaft und Gewerbe. Dabei unterlagen sie als Soldaten weiterhin der militärischen Disziplin und Jurisdiktion. Sold erhielten sie währenddessen nicht. Wohl aber erhielten die Kompaniechefs genügend Geld, um sie das ganze Jahr hindurch zu besolden. Deswegen und wegen einiger anderer Möglichkeiten, Geld, das von der General-Kriegskasse zur Verfügung gestellt wurde, an den Soldaten zu sparen, war es wirtschaftlich reizvoll, Kompaniechef der preußischen Armee zu sein.
Um Kompaniechef zu werden, musste man adelig sein. Bürgerliche waren vom Offiziersdienst grundsätzlich ausgeschlossen. Friedrich II. war gegen Ende des Siebenjährigen Krieges aus Notwendigkeit vom Grundsatz abgewichen, weil mehr adlige Offiziere fielen als nachwuchsen. Die guten Erfahrungen, die er mit bürgerlichen Offizieren machte, überwanden das Vorurteil aber nicht, dass eigentlich nur Edelleute das Zeug zum Offizier hätten. Und so war er nach dem Wegfall der Notwendigkeit zum Grundsatz zurückgekehrt.
Auch unter den adligen Offizieren gab es „Ausländer“. Manche wurden – ohne List und Gewalt – angeworben, andere bewarben sich aus eigenem Antrieb. Nicht jeder Bewerber wurde genommen. Der Anteil fremder Offiziere war sehr viel geringer als der Anteil fremder Soldaten.
Die große Mehrzahl der Offiziere entstammte dem landsässiggrundbesitzenden Adel. Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. hatten dem preußischen Adel höchst wirkungsvoll die königliche Erwartung eingeimpft, dass dessen Angehörige ihrem Staat als Offiziere und Beamte dienten. Dafür verwandelten sie die einstigen Adelslehen in Allodialgüter (lehnsfreies Landeigentum) und überließen den Eigentümern die Herrschaftsgewalt in ihren Gutsbezirken. Die Grundherren übten darin vom Staat unbeeinträchtigte Herrschaft über Land und Leute aus. Die Gutsinsassen waren faktisch Untertanen der Grundherren und nur formell auch Untertanen des Königs.
Ein knappes Viertel der Hälfte Preußens, die sich im Eigentum des Adels befand, wurde auf Rechnung der Grundherren bewirtschaftet (Herrenland), eine knappe Hälfte war zur Bewirtschaftung an Bauern vergeben (Bauernland), der Rest, Wald, Wiesen und Weiden, wurde von allen Gutsinsassen genutzt (Allmende). Für das Nutzungsrecht am Bauernland waren die Bauern den Grundherren Abgaben und Dienstleistungen schuldig. Eine Minderheit relativ gut gestellter Bauern (Erbzinsbauern) kam mit einer jährlichen Geldzahlung davon, die schlechter gestellte Mehrheit (Lassbauern) musste darüber hinaus auf dem Herrenland scharwerken und andere Dienste leisten. Die Dienstleistungen für den Herren waren gewöhnlich...