2. Vorlesung Die USA – Anpassung und Aufbruch Ich-Psychologie und die amerikanische Dissidenz
Einleitung
Freuds Botschaften fielen nach der Jahrhundertwende in den USA auf einen fruchtbaren Boden. Das hatte vor allem zwei Gründe:
- Es gab mit dem einflussreichen Psychologen William James (1842–1910) an der Universität Harvard schon um die Jahrhundertwende einen Wegbereiter für die Ideen Freuds in der damals kulturell bedeutsamen Region Neuengland. James entwarf eine vorfreudianische Theorie, in deren Mittelpunkt bereits die Idee eines dynamischen Unbewussten stand. Er nahm starken Einfluss auf die „Bostoner Schule“ der dynamischen Psychiatrie, in der die Psychoanalyse bis 1910 Fuß fasste.
- Mit der „Progressiven Bewegung“ (progressive movement) entstand nach 1900 in den USA eine politisch-soziale Reformbewegung, die dem psychodynamischen Denken offen gegenüberstand. In ihrem Umfeld bildete sich ab 1905 eine Psychotherapie, die durch Offenheit für psychodynamische Ideen geprägt war und Einfluss auf die Psychiatrie gewann.
Es herrschte in diesen Kreisen eine idealistische Einstellung. In diesem Umfeld fanden Freuds Ideen allerdings eine recht selektive Aufmerksamkeit. Während seine optimistische Sichtweise der Erweiterung des Bewusstseins interessiert aufgenommen wurde, riefen seine „anstößigen“ Vorstellungen Skepsis und Ablehnung hervor oder wurden einfach übergangen. James J. Putnam, Professor an der Harvard Medical School und später die Leitfigur der Psychoanalyse in den USA, sprach sogar von „widerwärtigen Details“. Sie betrafen insbesondere die Libidotheorie, die Bedeutung der kindlichen Sexualität und der Aggression. Freud wurde missverstanden und so gedeutet, als ginge es ihm darum, das Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und den Forderungen der Gemeinschaft abzubauen.
Auch nach der Etablierung der Psychoanalyse blieb diese Auslegung bestehen. So hat Freud sich mit der amerikanischen Version der Psychoanalyse niemals wirklich anfreunden können. Sie war durch einen Kulturoptimismus geprägt, der ihm fremd war, und verleugnete die „dunklen“ Seiten des Seelenlebens, die ihm besonders am Herzen lagen.
So wurde die Entwicklung der Psychoanalyse in den USA von Anfang an von einer gewissen Distanz gegenüber den Strömungen in Wien und in Europa beherrscht, die schließlich an der Frage der Laienanalyse eskalieren sollte.
Die Entwicklung von den Anfängen bis 1940
Die ersten Keime für eine Etablierung der Psychoanalyse wurden von Psychiatern nach 1905 in Boston und New York gelegt, verbunden mit den Namen Meyer, Hoch, Prince und Putnam. Auch in der Psychologie entstand Interesse.
So kam es, dass Freud mit seinen damaligen Vertrauten C. G. Jung und Sándor Ferenczi 1909 zu den Festlichkeiten zum 20-jährigen Bestehen der Clark-Universität in Worcester bei Boston reiste und dort Vorlesungen hielt. Bei diesem Anlass wurde er mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.
So ehrenvoll diese Einladung auch war und so willkommen die Gelegenheit, die Psychoanalyse aus erster Hand vorzustellen – sie machte die inhaltlichen Divergenzen zwischen der strengen Wiener Auffassung und der eklektischen amerikanischen Richtung recht deutlich. Freuds Konzepte wurden im Sinne der progressive movement verharmlost. Einige – wie der bedeutende Psychiater William Alanson White – übernahmen später lieber die entsexualisierte Libidotheorie von C. G. Jung. Der Gipfel war, dass Abraham Brill bei seiner Übersetzung der Freud’schen Schriften kritische Passagen einfach ausließ oder eigene einfügte.
Abb. 7: Auf der Reise zum Jubiläum der Clark University im September 1909 konnten die europäischen Psychoanalytiker die neue Lehre erstmals in den USA vorstellen. Vorne: Sigmund Freud, Granville Stanley Hall, der Gründungspräsident der Universität, und C. G. Jung. Hinten: Abraham A. Brill, der zur Leitfigur der amerikanischen Psychoanalyse wurde, Ernest Jones, später Mitbegründer der APA, und Sándor Ferenczi.
Man muss dabei allerdings bedenken, dass die Amerikaner keinen direkten Kontakt zu den Europäern hatten, sondern ihre Kenntnisse aus Korrespondenzen und von Kongressen und Besuchen bezogen. Sie hatten im Allgemeinen auch keine Gelegenheit zur Lehranalyse.
In den 1920er Jahren erlebte die Psychoanalyse in den USA eine ungeahnte Blüte. Zwar hatte die progressive Bewegung mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 ein jähes Ende gefunden. Die Botschaften der Psychoanalyse wurden in der breiten Öffentlichkeit nach Kriegsende dennoch populär und unter Intellektuellen zur Mode. Sie galten nun als Legitimation für die narzisstischen und exzentrischen Tendenzen der wilden Zwanziger.
In Fachkreisen verbreitete sich in den 1920er Jahren das neue ichorientierte Denken Freuds, nachdem eine Reihe von Analytikern Studienaufenthalte in Europa gemacht hatten, die damals zur Pflicht in der amerikanischen Medizinerausbildung gehörten. Einige unterzogen sich dort einer Lehranalyse. Vor allem in psychiatrischen Kliniken fanden psychoanalytische Konzepte nun Aufmerksamkeit. So entstanden psychoanalytische Psychosenbehandlungen z. B. im John Hopkins Hospital in Baltimore und im Chestnut Lodge in Rockville in Maryland, das sich zur bedeutendsten psychoanalytisch ausgerichteten Klinik entwickelte.
Tab. 2: Die Etablierung der Psychoanalyse in den USA
Um 1905 entstand ein deutliches Interesse am psychodynamischen Denken in New York und Neuengland, das den Ideen Freuds den Boden bereitete.
1909 reisten Freud, C. G. Jung und Sándor Ferenczi zum Jubiläum der Clark-Universität nach Worcester bei Boston, wo Freud auch die Ehrendoktorwürde verliehen bekam.
1911 Gründung einer psychoanalytischen Vereinigung in New York. Präsident war von 1911 bis 1913 und von 1925 bis 1936 Abraham Brill (1874–1948). Er hatte um 1905 in Zürich Kontakt zu dem psychoanalytisch orientierten Psychiater Eugen Bleuler und seinem Mitarbeiter C. G. Jung aufgenommen und 1908 in Wien Freud besucht.
1919 Gründung der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APA) unter Mitwirkung des Briten Ernest Jones, der sich damals in Kanada und den USA aufhielt. 1919/1920 und von 1929 bis 1935 war Brill Präsident der APA.
Ab 1920 Blütezeit der Psychoanalyse in den USA bis zur Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre.
Ab 1925 zunehmende Distanzierung der amerikanischen Psychoanalytiker von der IPV wegen des Streites um die Laienanalyse, 1932 informeller und 1938 formeller Rückzug aus der IPV. Der Kontakt wurde erst wieder 1949 erneuert.
Zu einem Markstein der weiteren Entwicklung wurde in den 1920er Jahren der Streit um die Laienanalyse. Es ging dabei um die Frage, ob auch Nicht-Ärzte den Beruf des Psychoanalytikers erlernen und ausüben sollten. Um ein hohes Niveau der Ausbildung zu wahren, wurden ab 1923 in den USA nur noch Ärzte zur Ausbildung zugelassen. Darüber kam es zu heftigen Diskussionen, zumal die Frage auch in Europa strittig war.
Freud bezog 1926 ausdrücklich für die Laienanalyse Stellung24. Die Mehrheit der Amerikaner widersetzte sich jedoch dieser Auffassung. Im Streit lösten sie sich ab 1932 schrittweise von der IPV25.
Mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und dem New Deal26 Anfang der 1930er Jahre verblasste das Ansehen und die Bedeutung der Psychoanalyse. Sie konnte zur Lösung der drängenden sozialen Probleme nichts beitragen und geriet zudem nun auch in Konkurrenz zum aufkommenden Behaviorismus.
Entwicklungen ab 1940
Nach Freuds Tod 1939 sah sich die Psychoanalyse in den USA mit mehreren Herausforderungen konfrontiert. Bereits ab 1930 waren die ersten Immigranten aus Deutschland und Österreich in die USA gekommen. Die meisten aber kamen ab 1936. Sie ließen sich vor allem in New York, Boston und Chicago nieder.
Damit veränderte sich das Klima der Psychoanalyse in den USA. Durch die Europäer entstand in der Tradition von Wien und Berlin eine Orthodoxie, wie die Amerikaner sie bis dahin nicht gekannt hatten. Da viele Nicht-Ärzte unter den Immigranten waren, entstanden zudem weitere Spannungen um die Laienanalyse. Sie bewirkten 1938 den Austritt der Amerikaner aus der IPV und führten über Jahre zu einer relativen Isolierung, die durch die Kriegswirren noch verstärkt wurde.
Weitere Herausforderungen entstanden aus neuen psychoanalytischen Konzepten, die den Stellenwert der Freud’schen Tradition veränderten. Teilweise bewegten sie sich im Referenzrahmen Freudscher Konzepte, wie die Ich-Psychologie von Heinz Hartmann. Teilweise sprengten sie diesen jedoch. Das galt insbesondere für die neopsychoanalytischen Schulen, die angetreten waren, um von Freuds Libidotheorie Abstand zu nehmen.
Durch diese Veränderungen geriet auch die bisher recht homogene psychoanalytische Behandlungstechnik in Fluss.
Darüber hinaus entstanden neue Anwendungen der Psychoanalyse, die das Gesamtfeld stark veränderten. Dazu zählen die analytische Psychosomatik mit Franz Alexander in Chicago als Promotor und die empirische analytische Entwicklungsforschung, die von René Spitz begründet und von Margaret Mahler zur Blüte gebracht wurde. Auf beide Gebiete kann hier allerdings nicht näher eingegangen werden.
Amerikanische Dissidenz
Die Neigung, abweichende Auffassungen und Konzepte als Abspaltungen in selbstständigen tiefenpsychologischen Schulen zu organisieren, hat die...