ANDEREN ETWAS ZU GEBEN ÜBERWINDET DEPRESSIONEN
Wer ehrenamtlich soziale Arbeit leistet, tut das zunächst oft aus dem Wunsch heraus, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Irgendwann aber erkennen die meisten, dass sie viel mehr bekommen als geben. Weil sie nämlich die Erfahrung machen, dass es kein Opfer ist, seine Zeit auf eine gute Sache zu verwenden, sondern eine Investition mit hoher Gewinnrate.
Unter einer Depression leidenden Menschen empfehle ich oft, sich ehrenamtlich in einem Altersheim, einem Krankenhaus oder einer sonstigen karitativen Einrichtung zu engagieren. Denn anderen etwas zu geben gibt ihrem eigenen Leben wieder mehr Bedeutung. Der freiwillige Dienst an der Gemeinschaft bringt ihnen das zurück, was sie verloren haben: Sinnhaftigkeit.
Sobald wir uns sozial engagieren, erhalten wir wohltuendes emotionales Feedback, so wie ich von meinen Freunden mit dem Downsyndrom. Die, denen wir zu helfen glauben, helfen in Wirklichkeit uns. Wir gewinnen an Selbstbewusstsein und fangen an, uns und unser Leben richtig zu mögen.
Dass man dadurch auch reich werden kann, demonstriert folgende kleine Geschichte:
Nach seiner Scheidung ist ein Freund von mir in eine kleinere Wohnung gezogen, die viel zu eng für seinen Hund war. Doch immerhin fand er bei einer netten älteren Dame, die bereits einen Hund derselben Rasse hatte, ein neues Zuhause für das Tier.
Eines Tages rief ihn die ältere Dame völlig verzweifelt an seinem Arbeitsplatz an, um zu fragen, ob er vielleicht so lieb sein könnte, sie abzuholen und in die Stadt zum Arzt zu fahren. Eine andere Beförderungsmöglichkeit hätte sie nicht.
Zu der Zeit war mein Freund als Werbeberater selbstständig und kam finanziell gerade mal so über die Runden. Doch da er sein eigener Chef war, nahm er sich die Zeit und fuhr die Frau zu ihrem Arzttermin. Danach wurde er für sie zu einer Art privatem Taxiunternehmen. Sie zum Zahnarzt oder wohin auch sonst zu kutschieren machte meinem Freund nichts aus, denn er fand Freude daran, ihr zu helfen, und eine willkommene Abwechslung zu seinem Job war es auch.
Eines Tages rief sie wieder an. Diesmal ging es um einen wichtigen Anwaltstermin. Wie üblich holte er sie zu Hause ab, um sie dann in der Stadt vor der Kanzlei abzusetzen. Höflich fragte die alte Dame, ob er vielleicht noch kurz mit reinkommen könne; er tat ihr diesen Gefallen gern. Und dann ernannte sie ihn in Anwesenheit ihres Anwalts zum künftigen Alleinerben eines nicht unbeträchtlichen Vermögens. Wenig später starb sie.
Mein Freund war völlig von den Socken. Er hatte doch nur freundlich sein wollen und Spaß hatte es ihm auch gemacht, sich ein wenig um die alte Dame zu kümmern. Und nun diese Riesenerbschaft! Er fiel aus allen Wolken. Aber so kann es eben gehen, wenn man bereit ist, anderen ein wenig von seiner Zeit zu schenken. Das Mindeste, was dabei herauskommt, ist ein gutes Gefühl. Und manchmal wartet auch noch die eine oder andere zusätzliche Überraschung auf uns!
DAS TIEFE LOCH
Bei einem Waldspaziergang entdeckte einmal ein Mann ein tiefes Loch im Erdboden. Er hielt inne und spähte hinein. Dort unten lag ein großer Sack voller Gold. Der Mann ging auf die Knie, beugte sich vor und versuchte mit den Händen den Schatz zu greifen, aber das Loch war viel zu tief. Egal, wie sehr er sich bemühte, er kam einfach nicht an das Gold heran. Also gab er auf.
Im Weitergehen begegnete er einem anderen Mann, dem er von dem Gold erzählte, das in dem viel zu tiefen Loch lag. Der zweite Mann suchte sich einen hakenförmig gegabelten Ast, ging damit zu dem Loch und holte das Gold mithilfe des Astes heraus.
Die Glückseligkeit ist nie so weit entfernt, dass wir sie nicht erreichen. Wir müssen bloß etwas mehr Weisheit und Mitgefühl aufbringen.
Dann können wir alles erreichen.
WANN DARF MAN DIE UNWAHRHEIT SAGEN?
Eines Abends erhielt ich den Anruf einer älteren Buddhistin. Sie war vollkommen verzweifelt. Wie sie mir erzählte, hatte sie am Nachmittag ihren Mann Don nach vierzigjähriger Ehe zum ersten Mal angelogen. Seither fühle sie sich schrecklich, sagte sie.
Don hatte einen Herzinfarkt überlebt. Doch nun brauchte er dringend einen Bypass und war im Krankenhaus, bis er sich soweit erholt hatte, dass der Eingriff durchgeführt werden konnte.
Er lag mit drei anderen Männern zusammen in einem Zimmer, die ebenfalls auf ihre Bypass-OP warteten. Mit Jack, einem seiner Bettnachbarn, verstand er sich besonders gut. Nach Jacks Operation fragte Don am Abend seine Frau, ob sie wisse, wie es Jack nach dem Eingriff gehe.
»Oh, Jack geht es gut«, antwortete sie. »Er liegt zur Überwachung auf der Intensivstation.«
In Wahrheit war Dons Frau im Foyer des Krankenhauses gerade den trauernden Angehörigen von Jack begegnet. Doch ihrem Mann mitzuteilen, dass Jack eben die Operation nicht überlebt hatte, die ihm selbst am nächsten Tag bevorstand, brachte sie einfach nicht übers Herz. Also hatte sie sich in eine Lüge geflüchtet.
Auch Don wäre bei der Bypass-OP um ein Haar gestorben. Er schwebte drei Tage zwischen Leben und Tod, bis er schließlich über dem Berg war. Hätte seine Frau ihm die Wahrheit gesagt, denke ich, wäre dieser zusätzliche Kummer, die Trauer um Jack, vielleicht sein Todesurteil gewesen. So aber hatte ihm ihre Lüge das Leben gerettet.
Deshalb sage ich meinen Anhängern oft, dass eine Unwahrheit hin und wieder gestattet ist. Aber höchstens alle vierzig Jahre!
WARUM WIR LÜGEN
»Ist Ihnen denn nicht klar«, sagte der Richter in einem Mordprozess zum Angeklagten, »dass auf Falschaussagen eine sehr hohe Strafe steht?«
»Doch«, entgegnete der Beschuldigte, »aber die ist lange nicht so hoch wie bei einem Tötungsdelikt.«
Das erklärt, warum die Menschen so oft lügen: weil die Strafe dafür gewöhnlich viel geringer ausfällt als die, die mit dem Sagen der Wahrheit verbunden wäre.
So suchte vor einigen Jahren einmal ein junges Mädchen meinen Rat, weil sie von ihrem Freund schwanger war.
»Warum wenden Sie sich damit nicht an Ihre Mutter oder Ihren Vater?«, erkundigte ich mich.
»Machen Sie Witze?«, gab sie zurück. »Die würden mich umbringen!«
Also belog sie ihre Eltern lieber.
Es ginge auf unserer Welt weit glücklicher und gerechter zu, wenn Ehrlichkeit so hoch bewertet würde, dass die Strafe dafür, die Wahrheit zu sagen, immer geringer ausfiele als die für eine Lüge. Die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, wäre eine allgemeine Amnestie, Straffreiheit für alles, solange nur die Wahrheit gesagt wird.
Dann könnten Söhne und Töchter ihren Eltern gegenüber auch die beschämendsten Dinge eingestehen, denn sie wüssten ja, dass sie nicht dafür bestraft, nicht einmal getadelt würden, sondern dass sie Hilfe erhielten. Wenn Kinder in Schwierigkeiten geraten, brauchen sie in erster Linie die Unterstützung ihrer Eltern. Unter den jetzigen Umständen aber haben sie viel zu viel Angst, sich ihnen anzuvertrauen. Auch Ehepartner könnten einander in vollkommener Ehrlichkeit begegnen und ihre Probleme auf diese Weise lösen, statt unter den Teppich zu kehren.
Eines möchte ich allen Eltern, die dieses Buch lesen, hinter die Ohren schreiben: Bitte sagt euren Kindern, dass ihr sie, wenn sie nur die Wahrheit sagen, nie bestrafen und ihnen auch keine Vorhaltungen machen werdet, was immer sie auch getan haben mögen.
Und dies geht an alle Paare: Versprecht einander, dass in eurer Beziehung die Ehrlichkeit über alles gehen und dass ihr nie mit Bestrafungen und Drohungen reagieren werdet, nicht einmal auf einen Seitensprung, sondern dass ihr euch eure Schwächen vergeben, gemeinsam daran arbeiten und alles dafür tun werdet, dass sich derartige Vorfälle nicht wiederholen.
Und dann haltet dieses Versprechen.
Wo Strafe droht oder auch nur eine Rüge, wird nie die Wahrheit gesagt werden.
Deshalb kennen wir im Buddhismus keine Strafen.
Nach den Jahren der Apartheid in Südafrika brauchte es den moralischen Mut und die Weisheit von Führungspersönlichkeiten wie Nelson Mandela und Erzbischof Tutu, um die erste Wahrheits- und Versöhnungskommission ins Leben zu rufen. Sie hatten verstanden, dass die Enthüllung dessen, was sich in jenen brutalen Jahren tatsächlich abgespielt hatte, wichtiger war als die Bestrafung der Täter.
In diesem Zusammenhang gibt es eine Episode, die ich auch heute noch als inspirierend empfinde. Ein weißer Polizeibeamter legte ein Geständnis ab und beschrieb in allen Einzelheiten, wie er einen politischen Aktivisten schwarzer Hautfarbe gefoltert und schließlich getötet hatte. Er machte diese Aussage in Anwesenheit der Witwe des Ermordeten.
Ihr Mann hatte als vermisst gegolten, und nun hörte die Frau zum ersten Mal, was mit dem Menschen, dem ihre ganze Liebe galt, dem Vater ihrer Kinder, wirklich geschehen war.
Während er sich zur eingehenden Schilderung der bösartigen Grausamkeit seiner Taten zwang, weinte der...