Einführung
Christen tragen Verantwortung für Europa
Was ist Europa? Ist es eine Wirtschaftsunion mit allen Problemen, Krisen und Turbulenzen, die zurzeit nur schwer zu bändigen sind? Oder ist es die Vision einer Solidar- und Wertegemeinschaft, die sich auf dem Weg zur Versöhnung untereinander, zum Respekt voreinander, zur Freundschaft miteinander auf dem Weg zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit befindet? Europa hat eine lange Geschichte hinter sich, die vornehmlich von christlicher, aber auch von jüdischer und islamischer Tradition geprägt wurde. Europa ist ein Schmelztiegel der Konfessionen und Religionen, die heute mehr denn je gefordert sind, mit ihren eigenen Werten ein humanes und sozialethisch geprägtes Europa zu bauen. Es ist ein gemeinsamer Prozess des Voranschreitens und der Wandlung. „Denn dieser Prozess der europäischen Einigung ist wahrlich keine europäische Selbstbezogenheit. Er ist vielmehr das größte Wagnis an Solidarität, das seit 60 Jahren in der gesamten Welt eingegangen wurde und das nicht aufgehört hat, die Augen zur Welt hin offen zu halten. Jenseits noch des ‚Internationalen‘ ist es der Sinn für das Umfassende, das Universale, der das europäische Bewusstsein seit langem antreibt.“ (Francois-Xavier Dumortier SJ, Rektor der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom).
Wir reden, schreiben und diskutieren viel und oft auch gegensätzlich über Europa. Dabei haben etliche unter uns anscheinend schon vergessen, dass die Europäische Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat. In der Begründung des Nobelpreiskomitees hieß damals unter anderem, dass die EU und ihre Vorgänger über mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen haben. Das ist mindestens ein Argument dafür, dass wir weniger Verächter, Zweifler und Ankläger brauchen, sondern vielmehr Frauen und Männer, die für die Zukunft Europas Verantwortung tragen. Natürlich wissen wir, dass die augenblickliche Lage in Europa mit ihren erheblichen Turbulenzen die größte Gefahr für die innere Friedfertigkeit der Mitgliedsstaaten ist. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich zu einer großen Vertrauenskrise ausgeweitet. Es ist in der Tat so, dass in den letzten Jahren die Europäische Union von der Politik in sträflicher Weise überwiegend auf eine ökonomische Dimension und auf ein Zentralbanksystem reduziert wurde. Hinzu kommen die Vorstellungen der Gesellschaft, dass die Europäische Union ein riesiger Krake sei, der immer mehr Zuständigkeiten an sich reißt. Das ist die Wahrnehmung vieler Menschen, und diese schafft eine große Distanz zu Europäischen Institutionen. Zusätzlich droht die soziale Schere weiter auseinander zu gehen. Lippenbekenntnisse für ein soziales Europa reichen nicht aus. Ein soziales Europa ist möglich, und es steht nicht im Widerspruch zu wirtschaftlichem Erfolg.
Welche Aufgaben haben nun in einer solchen Situation die Kirchen in Europa? Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern wird auch getragen von einem gemeinsamen Wertefundament und ist von einem christlichen Menschenverständnis geprägt. Es ist eine der Verpflichtungen der Kirchen, dies in die politischen Diskussionen und Debatten einzubringen. Dazu gehören kirchliche Kernanliegen wie die Förderung von Frieden und Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Deshalb müssen die Kirchen Verantwortung dafür übernehmen, den europäischen Kontinent und seine sozialpolitische Ordnung weiter zu entwickeln. Zumal sich die Kirchen Europas in der Charta Oecumenica verpflichtet haben, sich auf Grund ihres christlichen Glaubens für ein humanes und soziales Europa einzusetzen, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen.
Trotz aller kritischen Stimmen ist Europa bis heute eine Erfolgsgeschichte. Noch nie hat es in der langen und oft blutigen Geschichte Europas so viel Freiheit und Chancen, so wenig Kriegsgefahr und trennende Grenzen, so viel Frieden gegeben wie heute. Umso mehr Zündstoff birgt die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Staaten Europas und die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Nationen in sich. Zudem sind die wirtschaftlichen Krisen, mit denen wir derzeit zu tun haben, keine Krisen der Staaten, sondern Krisen der Banken und ungezügelter Spekulationen an den Börsen. Durch die Krise und ihre Auswirkungen für viele Menschen darf die Solidarität zwischen den Ländern Europas nicht zu kurz kommen. Wenn die Europäische Gemeinschaft schon daran scheitern würde, dass einzelne Länder die Solidarität mit kriselnden Staaten aufkündigen, dann wäre das europäische Haus von Anfang an auf Sand gebaut worden. Nur ein solidarisches Europa hat auch Zukunft. Deutschland hat dem europäischen Wirtschaftsraum einen großen Teil seines Wohlstands zu verdanken. Und es ist auch an der Zeit, davon wieder etwas an das gesamte Europa zurück zu geben. Für die Kirchen ist es Teil ihrer christlichen Verantwortung, an dem Projekt „Soziales Europa“ mit und weiter zu arbeiten. Die Kirchen haben eine immense Verantwortung im zusammenwachsenden Europa. Das setzt voraus, dass sie auch zu einem offenen Dialog mit den anderen christlichen Konfessionen und mit den anderen Religionen bereit sind.
Für die Jahre 2007 bis 2013 hat die EU das Programm „Europa für Bürger und Bürgerinnen“ ausgerufen. Die EU unterstützt mit einem Budget von 250 Millionen Euro Projekte und Aktivitäten, welche das Ziel haben, den 500 Millionen Einwohnern der EU eine größere Rolle und stärkeres Gewicht bei der Entwicklung der EU zu verleihen. „Durch die Finanzierung von Projekten und Aktivitäten, an denen Bürger teilnehmen können, fördert das Programm ein gemeinsames europäisches Bewusstsein, gemeinsame Werte und die Identifikation mit der Entwicklung der EU. Die durch das Programm geförderten Projekte werden von lokalen Behörden, Nichtregierungsorganisationen (NRO), Denkfabriken (Think-Tanks), Gewerkschaften, Universitäten u. a. durchgeführt. Die Projekte bringen Menschen zusammen, um über die Integration, die Politik und die Werte der EU zu diskutieren und um gegenseitiges Verständnis zu fördern. Außerdem dienen diese Projekte dazu, ihr Bewusstsein über die gesellschaftlichen Auswirkungen von EU-Maßnahmen zu schärfen und sie dazu zu ermutigen, an der Gestaltung der Zukunft der EU mitzuwirken.“ (Quelle: EU Bürgerschaft. http://eacea.ec.europa.eu/citizenship/index_de.php)
Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission, auch im Blick auf die Europawahl im Jahr 2014, die Kirchen eingeladen, ihre Meinung zu diesem Thema im Rahmen eines Dialogseminars, das am 20.06.2013 in Brüssel stattfand, darzulegen. Hierzu einige von den auf dieser Tagung geäußerten Merkmalen der Bürgerschaft aus christlicher Sicht:
- Der orthodoxe Erzbischof Jeremiasz von Wroclaw und Stettin hob die Bedeutung der Heimat hervor, nicht nur im Sinne einer engen Beziehung oder eines geographischen Ortes, sondern in einer tiefen geistigen Dimension. In der orthodoxen Theologie bedeutet dies Verantwortung für die Divination (theosis). In diesem Sinne befähigt die enge Beziehung zu einem besonderen Ort auf dieser Erde die Menschen dazu, verantwortliche Bürger in der Gemeinschaft der Nationen zu sein.
- Der protestantische Vertreter, Dr. Peter Schreiner, Präsident der InterEuropean Commission on Church and School, formulierte: „Der Dialog ist ein Wert in sich selbst, der der Fortführung bedarf. Es ist erstrebenswert Meinungen auszutauschen, aber es ist nicht notwendig, in allen Punkten übereinzustimmen. Auch ist ein Perspektivenwechsel von ‚wir zuerst‘ zu ‚wir zusammen‘ notwendig, um zum Wohle aller Menschen in Europa gemeinsame Aktivitäten weiterzuführen, unter anderem die Bildung.“
- Bürgerschaft scheint drei Dimensionen zu haben: Zugehörigkeit, Sein, Werden. Der Begriff des Werdens bezieht sich auf eine Schicksalsgemeinschaft. Europäer gehören zu einer jungen politischen Struktur, die sich stetig weiterentwickelt. „Wir Christen sind die Architekten, Stützen und Ingenieure eines ehrgeizigen Projekts, das noch vollendet werden muss“, fasste Pater Patrick Daly, Generalsekretär der COMECE, zusammen.
Im Prozess der Entwicklung eines vereinten Europas spielt das Engagement der europäischen Jugend eine entscheidende Rolle. Sie wird und muss am Bau des Hauses Europa für Zukunft wesentlich beteiligt sein. Deshalb soll sie die Möglichkeiten zu einer qualifizierten und umfassenden Bildung erhalten. Nicht nur die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch die europäischen Institutionen wie Europäisches Parlament, die EU-Kommission und die Politik, die in und durch Europa betrieben wird, müssen ihr vertraut sein; dazu sollte sie Kenntnisse über religiöse, ethische und sozialpolitische Aspekte und das damit verbundene Verständnis füreinander entwickeln. Und für die ganz praktische Arbeit europaweit z. B. in den sozialen und gesundheitsökonomischen, ethischen und kirchlich-diakonischen Berufen, in der Medizin, in Betriebswirtschaft und Unternehmensführung wissenschaftlich auf einem hohen Niveau ausgebildet sein. In der Diakonie Neuendettelsau führt das im Jahr 2001 gegründete „Europa-Institut der Diakonie Neuendettelsau“ (http://www.diakonieneuendettelsau.de/diakonie-neuendettelsau/internationales-engagement) wichtige EU-Projekte durch. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Ausbildung der jungen Generation für die konkreten Herausforderungen...