Kristian Fechtner / Lutz Friedrichs
Einleitung
„Evangelischer Gottesdienst: Sonntag 10.00 Uhr“ – so gibt eine fest installierte Tafel am Ortseingang mit der Silhouette eines Kirchengebäudes kund. Traditionell gehört beides zusammen, Sonntag und Gottesdienst. Wer vom Gottesdienst im Allgemeinen spricht, hat zumeist den Sonntagsgottesdienst im Sinn. Dies gilt für jene, die regelmäßig kommen, wie für diejenigen, die sich selten oder nie einfinden. Nun zeichnen sich seit geraumer Zeit in der Wochenendkultur, in die Sonntag und sonntäglicher Gottesdienst eingebettet sind, erhebliche Umbrüche ab. Nicht allein das Muster gottesdienstlicher Teilhabe, sondern auch die Gestaltungsformen des Sonntagmorgengottesdienstes haben sich verändert. Der Kirchgang hat in der Moderne immer stärker seinen Charakter als Sitte verloren, demgegenüber sind Gottesdienste mehr und mehr zu Veranstaltungen geworden, deren Besuch durch einen je besonderen Anlass motiviert ist. Nicht selten tragen die Gottesdienste am Sonntagmorgen einen jeweils eigenen Akzent: im ersten findet eine Taufe statt, der zweite wird durch den Gesangverein musikalisch gestaltet, der dritte wird als Familiengottesdienst gefeiert.
Das Fragezeichen, das im Buchtitel auftaucht, markiert auf mehreren Ebenen praktisch-theologische Herausforderungen. Es lässt danach fragen, ob es angesichts einer mittlerweile breit ausgefächerten gottesdienstlichen Kultur in den evangelischen Kirchen überhaupt angemessen ist, von einem „Normalfall“ zu sprechen. Ist der sonntägliche Gottesdienst „normaler“ als der Heiligabendgottesdienst, und wenn ja für wen? Oder: Ist der Sonntagsgottesdienst, anders als ein Salbungs- oder ein Einschulungsgottesdienst, deshalb „normal“, weil er nichts Besonderes zu bieten hat? Was schwingt „normativ“ mit, wenn von einem Normalfall die Rede ist, ist alles andere dann – geduldete oder erhoffte – Ausnahme? Seit den 1960er Jahren ist der „gottesdienstliche Spielplan“ (Peter Cornehl) insgesamt vielfältiger geworden. Zielgruppenorientierte Gottesdienste im Blick auf unterschiedliche Lebenslagen, -formen, -phasen und -stile fächern die liturgische Praxis hierzulande aus. Dem entspricht, dass sich die praktisch-theologische Diskussion in den letzten Jahrzehnten verstärkt mit denjenigen Gottesdiensten beschäftigt hat, die jenseits des Sonntagstaktes liegen. Längst sind Festtagskirchgängerinnen rehabilitiert, werden alternative Gottesdienstformen begutachtet oder ungewöhnliche Gottesdienste zu besonderen Gelegenheiten erkundet. Wird damit der allsonntäglich gefeierte Gottesdienst ebenfalls zu einer besonderen Gestalt unter vielen?
In der Praxis ist das differenzierte gottesdienstliche Angebot ein Gewinn, es hat neue Zugänge geschaffen und ermöglicht, Gottesdienst in unterschiedlicher Weise zu erleben. Wenn die Zeichen nicht trügen, dann gibt es aber gegenwärtig auch das Bedürfnis, sich zu konzentrieren – die Logik der Vervielfältigung zeitigt nicht selten Ermüdungserscheinungen. Welche Kraft steckt in der Normalität eines Sonntag-für-Sonntag-Gottesdienstes?
Gelegentlich begegnet die Hoffnung, man könne sich wieder neu auf eine einheitliche Form des (sonntäglichen) Gottesdienstes konzentrieren, der dann noch einmal die Mitte der Gemeinde darstellen soll. Praktisch-theologische Reflexionen sind an dieser Stelle nüchterner. Der Sonntagsgottesdienst lebt als religionskulturelle Praxis von Bedingungen, die er nicht selbst hervorbringt. Dass an ihm lediglich eine kleine Zahl der Evangelischen (regelmäßig) teilnimmt, gründet einerseits in einer Kirchlichkeit, die moderne Lebensverhältnisse charakterisiert, und andererseits in der Art und Weise, wie heute Wochenende gelebt wird. Die Einsicht in die begrenzte Reichweite des Sonntagsgottesdienstes spricht nicht gegen seine sorgsame liturgische und homiletische Gestaltung. Sie legt aber nahe, ihn nicht mit theologischen Zuschreibungen und kirchlichen Anforderungen zu überlasten, die der Wirklichkeit nicht standhalten. Der Sonntagmorgengottesdienst ist nicht der Gottesdienst schlechthin. Deshalb wird künftig durchaus darüber zu diskutieren sein, wie das gottesdienstliche Leben am Sonntag zeitgemäß zu gestalten ist, welche Rhythmen und Zeiten angemessen sind, welche besonderen Angebote an einem Ort sinnvoll sind, welche gottesdienstlichen Angebote sich andernorts überlebt haben. Bei allem wird es darum gehen, die geistliche Qualität des Gottesdienstes zu stärken.
Die Beiträge in diesem Band wollen wissen, wie es gegenwärtig um den Sonntagsgottesdienst steht. Sie erkunden und markieren das Feld, formulieren Einsichten und Perspektiven, die sich aus der praktisch-theologischen Diskussion und aus Erfahrungen kirchlicher Gottesdienstpraxis ergeben. Die Artikel gehen zurück auf ein fachwissenschaftliches Symposion, das die Gemeinsame Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der EKD gemeinsam mit dem Seminar für Praktische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz in Verbindung mit der Liturgischen Konferenz im Dezember 2006 ausgerichtet hat. Eine ganze Reihe von Beiträgen ist im Nachgang zu dieser Tagung hinzugekommen. Sie verbindet, dass sie sich jeweils auf bestimmte Aspekte des Themas konzentrieren, um ein eigenes Leitmotiv oder eine These ins Gespräch zu bringen.
Die I. Rubrik versammelt Beiträge, die den Sonntag unter kulturellen Gesichtpunkten und den Sonntagsgottesdienst auf Grund von kirchensoziologischen Studien in den Blick nehmen. Michael Ebertz eröffnet den Band, indem er deutlich macht, wie unterschiedlich sich „Wochenenddramaturgien“ in verschiedenen Milieus gestalten. Sonntagskultur gibt es heute nur im Plural. Susanne Marschall und Fabienne Liptay führen uns ins Kino und zeigen uns dramatische Sonntagsszenen, glückliche und katastrophische, aus Filmen der letzten fünfzig Jahre. Jan Hermelink gibt anhand der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsstudie zu erkennen, dass die Teilhabe am Sonntagsgottesdienst und die Erwartungen, die sich an ihn richten, vielschichtiger sind, als gemeinhin angenommen. Vor dem Hintergrund einer wissenssoziologisch angelegten Studie zu gegenwärtigen religiösen und nicht-religiösen Deutungswelten diagnostiziert Martin Engelbrecht eine dogmatische Krise des gegenwärtigen Gottesdienstes. In der Distanz zum gottesdienstlichen Leben spiegelt sich, dass viele Kirchenmitglieder mit Kernaussagen der kirchlichen Lehre nicht mehr übereinstimmen. Einsichten aus einer Schweizer pastoralsoziologischen Studie steuern Bruno Bader, Silke Harms und Ralph Kunz bei. Sie fokussieren ihre Überlegungen auf den Zusammenhang von Gottesdienst und Mission im Zusammenspiel mit anderen wesentlichen Dimensionen gottesdienstlicher Praxis.
Verschiedene praktisch-theologische Perspektiven eröffnet die II. Rubrik. Michael Meyer-Blanck formuliert sieben Thesen, in denen er entschieden dafür plädiert, den Sonntagsgottesdienst in seiner kirchlichen und kulturellen Bedeutung als Normalfall wahr- und ernstzunehmen, und dementsprechend auch in den Mittelpunkt pastoraler Ausbildung zu rücken. Wilhelm Gräb zeigt, was es bedeutet, wenn die Aufgabe des Sonntagsgottesdienstes konsequent von dem her verstanden wird, was Kasualgottesdienste ausmacht und was sie an Lebensdeutung leisten. Im Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ kommt der Frage nach der Qualität des Gottesdienstes eine wesentliche Bedeutung innerhalb der gegenwärtigen kirchlichen Reformbemühungen zu. Thies Gundlach konkretisiert Qualitätsbestimmungen homiletischer und liturgischer Praxis. Wie im katholischen Bereich die Situation des Sonntagsgottesdienstes wahrzunehmen ist, skizziert Friedrich Lurz und macht sich für eine theologisch verantwortete Pluriformität der gottesdienstlichen Kultur stark. Uta Pohl-Patalong thematisiert den Sonntagsgottesdienst im Blick auf Gemeinde und diskutiert unterschiedliche Modelle, Gemeindegottesdienste zu profilieren. Thomas Hirsch-Hüffell zeichnet den Sonntagsgottesdienst in das Feld spiritueller Praxis ein, indem er unterschiedliche Dimensionen gottesdienstlicher Erfahrung konturiert.
Die III. Rubrik widmet sich der Sonntagspredigt. Wilfried Engemann bezieht die homiletische Aufgabe auf gefährdete Freiheit als Signum der Gegenwartsgesellschaft und entwickelt Grundzüge eines homiletischen Programms, das Predigt auf christliche Lebenskunst hin auslegt. Ein Plädoyer dafür, die normale Predigt theologisch wie ästhetisch als Klassiker zu begreifen, hält Albrecht Grözinger. Predigt und Gottesdienst als Kunsthandwerk zu verstehen, mithin die Praxis des Sonntagsgottesdienstes zwischen Kunst und Handwerk anzusiedeln, regt Kristian Fechtner an und formuliert kunsthandwerkliche Maßgaben. Ulrike Wagner-Rau lotet pastoraltheologisch und -psychologisch aus, was es für Pfarrerinnen und Pfarrer bedeutet, regelmäßig eine Sonntagspredigt vorzubereiten und zu halten. Lutz Friedrichs analysiert Predigten in sog. alternativen Gottesdiensten und zeigt, wie sie in die Dramaturgie des liturgischen Geschehens verwoben sind.
Die Überlegungen der IV. Rubrik gelten den gottesdienstlichen Zeiten und unterschiedlichen sozialen Orten, innerhalb derer Sonntagsgottesdienste angesiedelt sind. Christian Grethlein weitet den Blick – über den fixierten Sonntagmorgen-Termin hinaus – für unterschiedliche liturgische Zeiten und Zeitrhythmen und deren Potenziale für gegenwärtiges gottesdienstliches (Er-)Leben. Vor welchen Herausforderungen gottesdienstliche Praxis heute im sich verändernden ländlichen Raum...