KAPITEL 1
ANHALTEN UND STILL SEIN.
Ein Interview mit Christian Meyer, geführt von Christian Salvesen. Holzkirchen, September 2009
Als ich Christian Meyer in der alten Bibliothek des von Willigis Jäger geleiteten Benediktushofs in Holzkirchen bei Würzburg gegenübersitze, sehe ich in seinen blauen Augen innere Ruhe und forschende Intensität, eine Kombination von Qualitäten, die mir schon bei früheren Gesprächen mit einigen bedeutenden spirituellen Lehrern und Lehrerinnen unserer Zeit aufgefallen ist. Doch sieht er sich selbst als einen spirituellen Lehrer? Ich frage ihn:
Verstehst du dich als einen spirituellen Lehrer und wenn ja, was lehrst du?
Ja, ich verstehe mich als einen spirituellen Lehrer und ich lehre, sich für die Gnade des Aufwachens öffnen zu können. Meine Arbeit soll Menschen darin unterstützen, zum Aufwachen zu finden.
Und was ist deine innere Basis dafür – die muss ja von irgendwoher kommen?
Die innere Basis ist natürlich das eigene aufgewachte Sein. Aber ich glaube, dass das nicht ausreicht. Ich glaube, dass viele Lehrer zu schnell nach dem Aufwachen Satsang geben und nicht realisieren, dass man auch lernen muss, wie man mit Menschen arbeitet, wie man das Psychische und das Spirituelle berücksichtigt und wie man Menschen wirksam begleiten kann, mit welchen Prozessen vor dem Aufwachen und mit welchen Prozessen nach dem Aufwachen zu rechnen ist. Sie sollten sich um die psychischen Entwicklungsschritte und auch die möglichen Schattenseiten kümmern. Auf dem Weg zum Aufwachen tauchen viele zuvor verdrängte und kompensierte biografische Themen auf. Nicht umsonst nennt man den Weg des Aufwachens eine immer tiefere und vorbehaltlose Selbsterforschung und Selbsterkenntnis.
Heißt das, spirituelle Lehrer sollten womöglich eine „Schule“ wie deine besuchen, um das zu lernen?
Ja, diejenigen, die andere spirituell begleiten möchten. Ich glaube, dass das Lehrersein sehr viel mit wirklichem Arbeiten, Verstehen, Erfahrung usw. zu tun hat. Ich hatte vor meinem Aufwachen schon 20 Jahre therapeutisch gearbeitet und war da auch auf dem spirituellen Weg. Ich hatte einen guten spirituellen Lehrer, Leland Johnson († 2003), ein amerikanischer Psychotherapeut und Schüler von Muktananda, der den Siddha-Yoga-Weg lehrte. Ich hatte also eine lange Erfahrung mit Yoga, Meditation, Gestalt- und Körpertherapie und Trancearbeit und habe das miteinander verbunden. Das war mein Hintergrund, bevor ich anfing, spirituell zu lehren, und so konnte ich auf vieles zurückgreifen. Darüber hinaus bin ich auch nach meinem Aufwachen bei meinem endgültigen Lehrer auf Jahre hinaus „in die Lehre gegangen“, um zu lernen, um das Aufwachen zu integrieren und zu vertiefen und auch, um eben das Lehren zu lernen.
Wie ist denn das Erwachen bei dir passiert?
Ich bin zu Eli Jaxon-Bear gekommen und hörte dort zum ersten Mal, dass Aufwachen in diesem Leben möglich ist. Im Siddha-Yoga dauert das viele Leben. Ich habe für mich gemerkt – und das ist auch etwas sehr Wichtiges in meiner Arbeit geworden –, dass diese innere Öffnung für die Möglichkeit, hier und jetzt aufzuwachen, plötzlich auch die Energien ganz anders ausrichtet. So war ich dann auf zwei Retreats bei Eli. Wir haben mit dem Enneagramm gearbeitet, zusammenhängende spirituelle Fragen damit bearbeitet und dann ist das Aufwachen folgendermaßen geschehen:
Ich saß am vorletzten Tag eines Sommer-Retreats bei ihm. Es gab dort eine Bewusstheitsübung, die ich nun auch in meinen Retreats und Seminaren vermittle, in der es darum geht, sich immer tiefer nach innen fallen zu lassen in das, was gerade gefühlt wird. Man kann da ein inneres Fallen erleben. Als am nächsten Tag das Retreat zu Ende war, habe ich mich auf eine Terrasse gesetzt – eine sehr schöne Terrasse mit weitem Blick über den See (lacht) – und die Augen geschlossen und da setzte das Fallen wieder ein. Bei dem Fallen fühlte es sich so an, als würde ich durch einen sehr engen Schacht gleiten – nicht als Bild, sondern als Erfahrung von Enge. Der Atem geht dabei sehr zurück. Der Körper scheint nur noch auszuatmen. Inzwischen haben mir Dutzende von Schülern von einer ganz ähnlichen Erfahrung berichtet. Es ist also typisch und ein wichtiger Schritt in diesem Prozess.
Der Körper atmet aus und nur noch ganz zart ein und manche haben Angst, zu ersticken. Glücklicherweise konnte ich es geschehen lassen – auch weil ich mich an die Yogatechnik des Feueratmens erinnerte. Ich fiel durch die Enge hindurch in einen sich weitenden Raum, wo das Fallen in ein Schweben übergeht. Aus dem Schweben wird dann ein Fliegen und daraus wird schließlich das Erleben, dass man nicht mehr im Raum, sondern der grenzenlose Raum selbst ist. Das ist ein typischer Prozess, wie Aufwachen geschieht. Ich erlebe bei meinen Schülern, dass sie es genauso beschreiben. Einige lassen es geschehen und wachen auf, andere stoppen. Aber mit der Bewusstheitsübung kann man sich sehr genau vorbereiten. Sie hat mit dem Atem und einer besonderen Durchlässigkeit des Körpers zu tun, dieses besondere Atmen zuzulassen – mit Hingabe.
Dieses Fallen nach innen und die Enge, erinnert das nicht auch an Beschreibungen von Nahtoderlebnissen, die ja mittlerweile sehr gut erforscht sind?
Ja, das ist mir auch schon vor vielen Jahren aufgefallen, und wir erforschen das in einer umfangreichen Studie. Man fühlt nämlich nicht nur, wie man fällt, sondern erfährt zugleich einen starken Sog in die Tiefe. Das ist zum Teil wie beim Nahtoderleben, wo man sich wie durch einen Tunnel hindurch gezogen fühlt. Ich bin auch deshalb darauf gekommen, weil eine Frau nach einer Nahtoderfahrung und nach dem erfolglosen Besuch bei einigen Therapeuten zu mir gefunden hat. Sie ist nach ganz kurzer Arbeit mit mir vollständig aufgewacht.
„Vollständig aufgewacht“ – hast du ein Kriterium dafür? Was ist das, was meinst du damit?
Das Kriterium ist, dass jemand vollständig im gegenwärtigen Augenblick lebt, und das bewirkt, dass der Verstand still ist. Gedanken sind da, wenn sie gebraucht werden, aber überwiegend herrscht Stille. Diese Fähigkeit, sich mit stillem Geist in diesem Augenblick zu erfahren als diese Stille, Weite, Unendlichkeit, Frieden, unendliche Liebe und immer wieder auch als diese Glückseligkeit, das ist für mich das aufgewachte Sein – Sat-Chit-Ananda – Leere Bewusstsein Liebe, und dies nicht als eine zeitgebundene Erfahrung, sondern als das sich vertiefende Sein.
Nun höre ich von einigen heutigen radikalen Advaita-Vertretern wie Tony Parsons, Karl Renz oder Richard Sylvester, dass Erwachen keine Erfahrung sei, eher eine „Nicht-Erfahrung“, jenseits von Raum und Zeit. Ist es nun eine Erfahrung oder nicht?
Vor dem Aufwachen machen Menschen Erfahrungen mit dem aufgewachten Sein, die zeitlich begrenzt und, wie ich glaube, auch nicht vollständig tief sind. Eine halbe Stunde erfahren sie sich still und in dieser Leere, und dann ist es wieder weg. Vielleicht auch länger, aber jede Erfahrung hat einen Anfang und ein Ende. Oder sie fühlen sich so nur in der Präsenz des Lehrers. Das sind Erfahrungen. Das aufgewachte Sein durch diesen Durchbruch – wie die christlichen Mystiker das früher sehr schön genannt haben – ist deswegen keine Erfahrung mehr, weil es weder aufhört noch anfängt. Und es ist niemand da, der die Erfahrung macht. Es ist das Sein in diesem Augenblick. Und insofern würde ich da Tony Parsons zustimmen: Es ist nicht – wie Erfahrungen – auf Zeit bezogen, mit Anfang und Ende. Es ist vielmehr eine Seinsweise, ein Dasein in diesem Augenblick, und darum kann ich nicht sagen, dass es eine Erfahrung ist.
Es ist ja auch so, dass es bei der Erfahrung, die viele Menschen vor dem eigentlichen Erwachen machen, ein Subjekt und ein Objekt gibt. Das Subjekt kann über die Erfahrung berichten und reflektieren. Nach dem Erwachen gibt es dieses Subjekt nicht mehr. Insofern gibt es auch keine Erfahrung, die jemandem zukäme. Es ist einfach das Sein an sich.
Das heißt, du würdest dem zustimmen, dass nie jemand da gewesen ist, der irgendeine Erfahrung gemacht hat?
Natürlich. Es ist nie jemand da gewesen. Das ist ganz richtig. Es ist wirklich lustig, dass die Menschen glauben, dass da jemand ist, der Entscheidungen treffen und Dinge erledigen muss.
Gut, aber nun bietest du ja trotzdem einen recht ausgetüftelten Weg der Übungen an. Wenn da niemand ist, wer übt denn da?
Niemand.
Sagst du das auch deinen Schülern?
Ja. Vor allem mache ich ihnen einen grundlegenden Unterschied deutlich: Es gibt Übungen, in denen ich etwas lerne, und es gibt Übungen, in denen ich aufhöre, etwas zu tun. Ich kann mich zum Beispiel in ein Mantra einüben oder eine Sprache erlernen. Aber ich kann mich auch darin entwickeln, anzuhalten und nichts zu tun.
Obwohl kein Ich da ist, das etwas tut, geschieht in diesem...