KAPITEL 2
einfach beziehungsstark
Sich stärken lassen
Wie habe ich mich auf diesen Urlaub gefreut! Pfingstferien in Pollença, einem kleinen, verträumten Ort im Norden Mallorcas. Morgens auf der Finca einen Espresso im Korbstuhl am Pool trinken. Dann mit dem Rad in den Ort fahren, durch enge Gassen bummeln und frisches Gemüse auf dem Markt kaufen. Die 365 flachen Stufen zum Kalvarienberg hinaufsteigen und den Blick auf das blau schimmernde Meer genießen. Nachmittags am Strand liegen und genüsslich ein Buch lesen. Herrlich!
Endlich der erste Ferientag. Nach einem kurzen Flug landeten wir bei strahlendem Sonnenschein in einer anderen Welt – relaxt, sehr quirlig, spanisch temperamentvoll. Alles war so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Schon eine Stunde nach der Ankunft saßen wir unter Palmen im Café, nippten am Cappuccino und streckten die Füße in den Sand. Da passierte es: urplötzlich türmten sich dicke, grauschwarze Wolken am Gebirgsrand auf. Dumpf grollte der Donner. Wir zogen uns entspannt in unser Ferienhaus zurück. Kann ja mal passieren, so ein Gewitter. Ich bin Optimistin. Das Trommeln des Regens an den Fensterscheiben am Abend war dann auch eher gemütlich als störend. Doch als am nächsten Morgen die Berge vor lauter Wolken kaum zu sehen waren und der Landregen nicht die kleinste Pause machte, wackelte meine Stimmung dann doch. Ich erspare Ihnen eine ausführlichere Beschreibung und mir die detaillierte Erinnerung, aber die nächsten vier Tage waren schrecklich. Weniger wegen des Regens, der durch die Decke tropfte und unsere Betten klamm machte. Das eigentliche Drama war meine Stimmung. Wieso muss sich ausgerechnet während unseres Urlaubs über der Sonneninsel ein Mittelmeertief einnisten? Ich war ungehalten, unausgeglichen und voller Selbstmitleid. Und das wurde beim Blick auf die Titelblätter der deutschen Zeitungen, die es in jedem Café und Kiosk gab, nicht besser: »Deutschland stöhnt unter der Jahrhunderthitze«, »Pfingsten bei 30 Grad im Biergarten«. Überflüssig zu erwähnen, dass meine Laune dadurch ins Bodenlose fiel. Wäre ich allein gewesen, ich hätte frustriert die Koffer gepackt.
Doch ich war nicht allein und das war mein Glück.
Die Kinder staunten, ihre Mutter so deprimiert zu sehen. Sie fanden die Pfützen und die überschwemmten Straßen recht lustig. Also platschten sie zum Bäcker und organisierten frische Croissants. Mein Mann, der Held, versuchte im offenen Kamin unseres Hauses ein Feuer zu entzünden. In Anbetracht des feuchten Holzes war es eine erstaunliche Leistung, dass schließlich die Flammen knisternd am Holz fraßen. Mann und Kinder taten alles, um mir zu helfen, mein Gleichgewicht wieder zu finden. Kein Vorwurf, ich sei selbst schuld an meinen idealisierten Urlaubsfantasien. Keiner ließ sich von mir anstecken, über das Wetter zu jammern. Als der Regen nach vier Tagen schließlich aufhörte, fand auch ich zurück zu Wanderlust und Lebensfreude, obwohl die Sonne auch weiterhin nur mäßig schien.
Ich habe erfahren, wie gut es ist, wenn Menschen mir Brücken bauen, statt mich zu kritisieren. Dafür bin ich meiner Familie von Herzen dankbar. Es tut gut, Ärger, Angst, Sorgen, aber auch tiefe Freude zu teilen. Wir brauchen Mit-Menschen: Familie, Freundinnen und Freunde, Partner, Vertraute.
Sie können uns stark machen durch den Rückhalt, den sie uns bieten. Es ist erstaunlich, wie ermutigend ein wertschätzendes Wort, ein ehrlicher Dank und eine aufrichtige Meinung von nahestehenden Personen wirkt. Umso tragischer, wenn das Gute, das Menschen einander sagen können, viel zu selten oder viel zu spät gesagt wird – am Grab zum Beispiel. Genau diese Beobachtung greift der amerikanische Autor Mitch Albom in seinem Roman »Dienstags bei Morrie« auf. Morrie ist der Name seines Protagonisten, ein humorvoller, kluger, allerdings sterbenskranker alter Professor.
Morrie kommt eines Tages deprimiert von der Beerdigung eines Kollegen heim, der plötzlich an einem Herzanfall starb, und sagt: »Was für eine Verschwendung. All diese Leute, die all diese wunderbaren Dinge sagen, und Irv hat nichts davon hören können.« Daraufhin hat Morrie die Idee, eine »lebendige Beerdigung« für sich zu feiern. Es wird ein Fest der Begegnung mit guten Freunden, bei dem jeder erzählt, was ihn mit Morrie verbindet und was er an ihm schätzt. »Morrie weinte und lachte mit ihnen. Und all jene tiefen Gefühle, die wir denen gegenüber, die wir lieben, niemals äußern, brachte Morrie an jenem Tag zum Ausdruck.«6
Mich inspiriert der alte Professor Morrie. Ich möchte von ihm lernen. Nicht nur, dass ich dankbar für Menschen bin, die mir nahe sind, sondern vor allem, dass ich ihnen bewusst sage oder aufschreibe, was sie mir bedeuten. Ich will damit nicht auf den besten Moment warten. Vielleicht kommt der ja nie.
Beziehungsweise – vom Ich zum Du
Gute Freunde, tragende Beziehungen, aufmerksame Mitmenschen bereichern das Leben des Einzelnen. Martin Buber beschreibt dies aus philosophischer Perspektive: An einem zugewandten Du kann sich der Mensch selbst neu entdecken und dadurch ein Stück mehr zum Ich werden. Der Religionsphilosoph Buber wurde als kleines Kind von seiner Mutter verlassen und von den Großeltern aufgezogen. Statt Begegnung spricht er in seiner Biografie von der Erfahrung der »Ver-Gegnung«. Der andere entzieht sich der Begegnung. Wie schmerzhaft das sein muss, lässt sich nur erahnen. Sein Leben lang beschäftigt sich Buber mit dem Thema der Begegnung. Er prägte den viel zitierten Satz: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«
Familie ist etwas Gegebenes, während Freunde bewusst ausgesucht werden. Wenn das Du so bedeutsam ist, dann stellt sich die Frage, wie lässt sich das familiäre Beziehungsnetz um den Kreis von Freunden erweitern. Wo und wie finden sich gute Freunde?
Mitunter sind es eher zufällige Rahmenbedingungen, die den Beginn einer freundschaftlichen Beziehung ermöglichen. Die Schauspieler George Clooney und Brad Pitt beispielsweise kamen sich nahe, weil sie zufällig im gleichen Film spielten und über Wochen gemeinsam arbeiten mussten. Damit sind sie ein treffendes Beispiel für die Erkenntnis aktueller Forschungen. Diese besagen, dass Freundschaft oft durch physische Nähe entsteht. Zwei Menschen besuchen zufällig den gleichen Kindergarten, die gleiche Tagung, sitzen im Flugzeug oder auf dem Spielplatz nebeneinander. Hinzu kommt der Sympathiefaktor, ein Gefühl persönlicher Nähe, ausgelöst von Ähnlichkeiten, die wir im anderen entdecken. Wissenschaftler würden sagen, dass wir Ähnlichkeiten im anderen nicht erkennen, sondern vor allem annehmen. Bei einer Untersuchung unter Studienanfängern, die zufällig in der ersten Vorlesung eines Semesters nebeneinander saßen, stellte sich heraus, dass diese auch ein Jahr später noch stärker miteinander befreundet waren, als entfernter sitzende Kommilitonen. Unter Stress, in unbekannter Umgebung, in neuen beruflichen Konstellationen spielt diese physische Nähe offensichtlich eine Rolle bei der Bildung von Freundschaften.
Prüfen Sie einmal gedanklich Ihr Freundesnetz. Gibt es alte Schul- oder Studienfreunde darunter? Können Sie sich noch erinnern, wie Ihre Freundschaft begonnen hat? Waren Sie sich körperlich, räumlich besonders nahe? Wenn dies das Entstehen der Freundschaft gefördert hat, wie hat sich diese Beziehung dann weiter entwickelt? Was schätzen Sie heute an dieser Freundin, diesem Freund? Bietet diese Freundschaft zum Beispiel einen Hafen, in dem Sie emotional Ruhe im Sturm der Herausforderungen Ihres Lebens finden?
Oft versprechen wir uns von Freunden einen Nutzen. Im Stillen, häufig unbewusst, fragen wir uns: »Ist das eine Person, die mir Halt geben kann? Wird sie mich emotional stützen oder auffangen, wenn ich Sorgen habe?« Extrovertierte, zuversichtliche Menschen, die andere mitreißen oder aufheitern, erregen schneller Aufmerksamkeit und geraten dadurch rasch auf die Auswahlliste potenzieller Freunde. Aber auch ein Wissensvorsprung, vielfältige soziale Netzwerke oder psychische Stabilität sind Elemente, die für die eigene Situation bereichernd sein können. Wir wählen potenzielle Freunde gerne nach Ähnlichkeiten und Nutzwert aus. Das klingt berechnend, ist allerdings evolutionär betrachtet ganz normal. Sich mit anderen Menschen zu verbünden war immer schon ein Mittel, um Situationen zu bewältigen, die für einen Mensch allein zu schwierig sind. Je vertrauter wir uns in einer Beziehung sind und je mehr Erlebnisse wir geteilt oder bewältigt haben, desto intensiver wird die Freundschaft. Bei Freundschaften geht es nicht um die Anzahl der Freunde, sondern um die Qualität des Miteinander. Gute Freunde treffen wir nach langer Zeit wieder und können fast nahtlos an Gesprächsthemen anknüpfen. Ihre Meinung und Fragen sind uns extrem wichtig.
Vertraute Freunde tun gut. Umfragen und Studien zeigen, dass solche Freunde unser Selbstbewusstsein stärken. Ihre Nähe mindert nachweislich Angst und Stress. In Krisen suchen Menschen bevorzugt nach Nähe. Wenn wir diese finden, belohnt uns unser Gehirn mit der Ausschüttung von Oxytocin. Dieses Hormon löst Ängste, entspannt und ermöglicht Vertrauen. Sicher kennen auch Sie das gute Gefühl, wenn Sie aufmunternd gestreichelt, fest umarmt oder beruhigend an den Schultern massiert werden. Dann entspannt sich unser Körper, dank des Menschen, der es gut mit uns meint, und dank des Oxytocins. Das erlebt das kleine Kind, das nach dem Fahrradsturz tröstend in den Arm genommen wird, genauso wie der Student, dem die Kommilitonen vor der Prüfung stärkend die Hand auf die Schulter legen. In beiden Situationen wird Angst reduziert und Vertrauen...