Prolog: Ein «Ich» erwacht
Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens erwachte. Für einen Moment wusste ich nicht, wer ich war und wo ich war. Ich war. Daran erinnere ich mich. Aber ich wusste nicht, wer erwachte. Dieses Gefühl bewussten Erlebens hielt nur einen gefühlten Augenblick. Dann erwachte ich vollends, bekam Zugang zu meinen Erinnerungen und wusste wieder, wer ich bin und wo ich war.
Das Erlebnis, beim Aufwachen in der Dunkelheit nicht zu wissen, wo man sich befindet, ist nicht so selten. Noch schlaftrunken, befinden wir uns in einem vergangenen Lebensabschnitt, vielleicht im Bett und im Zimmer der Jugend. Einmal erwachte ich in meinem Zimmer in Freiburg und war für einige Sekunden davon überzeugt, in San Diego zu sein, wo ich einige Jahre zuvor gelebt hatte. Ich wusste um die Position des Bettes in dem Haus in San Diego, ich hatte die räumliche Lage der Fenster und der Straße draußen präsent und erwartete im Zuge des Aufwachens, mich dort zu befinden, so real war die Vorstellung – ich war für kurze Zeit mein vergangenes San-Diego-Ich. Aber ich wachte in meiner Wohnung in Freiburg auf.
Dass es manchmal einige Sekunden dauert, bis man sich über seine Lebenszeit und den Raum, in dem man sich befindet, klar wird, geschieht manchmal. Nur ein einziges Mal ist es mir jedoch bisher passiert, dass ich nicht wusste, wer ich war. Ich forschte nach möglichen Erinnerungen, aber sie wollten sich nicht aktualisieren. Für einen Augenblick war ich mir meiner selbst beraubt. Bis ich meiner selbst wieder gewahr wurde – in der Form des Wissens um mich, als Erinnerung dessen, der ich bin. Das Erlebnis währte nur einen kurzen Augenblick und es war nicht beängstigend. Der schwedische Dichter Tomas Tranströmer hingegen erlebte seinen Ich-Verlust beim Aufwachen als entschieden belastender:
Der Name
Ich werde schläfrig während der Autofahrt und fahre unter die Bäume neben der Straße. Rolle mich auf den Rücksitz zusammen und schlafe. Wie lange? Stunden. Das Dunkel ist schon eingefallen.
Plötzlich bin ich wach und erkenne mich nicht wieder. Hellwach, aber das hilft nicht. Wo bin ich? WER bin ich? Ich bin etwas, das auf einem Rücksitz erwacht, in Panik umhertobt wie eine Katze in einem Sack. Wer?
Endlich kehrt mein Leben wieder. Mein Name kommt wie ein Engel. Außerhalb der Mauern ertönt ein Trompetensignal (wie in der Leonorenouvertüre), und die rettenden Schritte kommen rasch rasch die viel zu lange Treppe herunter. Das bin ich! Das bin ich!
Aber unmöglich, die fünfzehn Sekunden Kampf in der Hölle des Vergessens zu vergessen, ein paar Meter von der Landstraße entfernt, wo der Verkehr mit angeschalteten Lichtern vorbeigleitet.[1]
Wo bin ich? Wer bin ich? Das geschilderte Erlebnis erschüttert die Grundfesten des Alltagsverständnisses unseres Selbst. Ich bin in der Welt und erlebe die Welt. Ich weiß natürlich, dass ich mich über die Sachverhalte der Welt täuschen kann. Es gibt Wahrnehmungstäuschungen. Wie schon René Descartes ausführte,[2] kann ich halluzinieren oder träumen, eine Welt kann mir vorgegaukelt werden, aber ich bin es doch, der das halluziniert oder träumt. Ich bin es, der sich täuscht oder der getäuscht wird. Dabei bin ich meiner selbst stets gewiss.
Am Beispiel des Erwachens zeigt sich, dass die Erinnerung, das autobiographische Gedächtnis, vorhanden sein muss, damit ich weiß, wer ich bin. So ist für Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Erinnerung konstitutiv für das Ich und die gefühlte Lebenszeit. Die Suche nach der verlorenen Zeit findet im Roman letztendlich ihre Erfüllung im umfangreichen und detaillierten Wiedererinnern der Ereignisse im Leben des Ich-Erzählers, der seine Lebensgeschichte aufschreibt. Die Zeit wird wiedergefunden in der erinnerten und niedergeschriebenen Lebenszeit. Eine Quelle dieses Gedankens ist für Proust ebenfalls der Übergang vom Schlafen zum Wachen. Prousts Erzähler schildert das Erlebnis des kurzzeitigen Ich-Verlustes, der erst durch das Einströmen von Erinnerungen überwunden wird:
[…] wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand, ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl, das ein Tier im Inneren verspüren mag: ich war hilfloser ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt hatte und an denen ich hätte sein können – gleichsam von oben her zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können; in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem zusammen.[3]
Das Ich setzt sich nach diesen Ausführungen aus der Erinnerung zusammen. Dieses Ich wird häufig als narratives Selbst bezeichnet, das sich aus den Geschichten zusammensetzt, die wir über uns erzählen. Aber es gibt auch ein Ich-Gefühl, das ohne autobiographisches Wissen als «das bloße Seinsgefühl» existent ist. Dies ist das minimale Selbst oder «Kern-Selbst».[4] In den Sekunden des Erwachens, da sich das narrative Selbst nicht aktualisiert, ist das Bewusstsein dennoch auf etwas ausgerichtet: Es ist das körperliche Selbst, das im Zentrum der Wahrnehmung und des Denkens ist, das die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich ermöglicht. Wir sind uns normalerweise unserer Erlebnisse, Erinnerungen und Erwartungen bewusst, den Objekten unseres Bewusstseins. Untergründig aber haben wir auch ein minimales Selbst, der egozentrische Anker aller Erfahrung, der in der geschilderten Situation des erinnerungslosen Erwachens auf einmal prononciert erlebt wird, da die gewöhnlichen Objekte unseres Bewusstseins, Wahrnehmungen und Erinnerungen, fehlen. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen.[5]
Das Ich-Erleben kann dabei als «Ich-Pol» verstanden werden. Mein «Ich-Subjekt» ist auf ein «Ich-Objekt» ausgerichtet: Ich nehme mich wahr. Dabei gibt es aber ein grundsätzliches Problem, da das Ich-Objekt grundsätzlich etwas anderes ist als das Ich-Subjekt. Wenn wir uns selbst-referentiell beobachten, also das Ich-Subjekt sich selbst beobachtet, beobachtet es sich immer als Ich-Objekt. Diese Problematik hat in der Subjektphilosophie des 19. Jahrhunderts zu großen Gedankengebäuden geführt. Die Unmöglichkeit, sich selbst als Ich-Subjekt wahrnehmen zu können, hat Thomas Bernhard auf pointierte Weise in seiner Erzählung Gehen beschrieben:
Wenn wir uns selbst beobachten, beobachten wir ja immer niemals uns selbst, sondern immer einen andern. Wir können also niemals von Selbstbeobachtung sprechen, oder wir sprechen davon, daß wir uns selbst beobachten als der, der wir sind, wenn wir uns selbst beobachten, der wir aber niemals sind, wenn wir uns nicht selbst beobachten, und also beobachten wir, wenn wir uns selbst beobachten, niemals den, welchen wir zu beobachten beabsichtigt haben, sondern einen Anderen. Der Begriff der Selbstbeobachtung, also auch der Selbstbeschreibung ist also falsch.[6]
Die geschilderten Erfahrungen beim Aufwachen, dem Ich-Erwachen, können als Bewusstseinszustände durchaus außergewöhnlichen Charakter haben. Marcel Proust beschreibt massive Veränderungen der Zeitwahrnehmung: «… in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation». Veränderte Bewusstseinszustände gehen, wie noch gezeigt werden wird, sehr häufig mit einer veränderten Wahrnehmung von Zeit und Raum einher. Unsere Wahrnehmung und unser Denken sind schließlich in Raum und Zeit organisiert. Außergewöhnliche Bewusstseinszustände müssen daher auch Raum und Zeit betreffen. Beim Erwachen schaue ich schlaftrunken auf die Uhr. Ich schlafe wieder ein und habe einen mächtig beeindruckenden und komplexen Traum voller Dramatik und gefühlt langer Dauer. Als ich wieder erwache, sind beim Blick auf die Uhr nur drei Minuten vergangen. Subjektiv, im Rückblick, habe ich aber erinnerte Eindrücke in Spielfilmlänge. Subjektive und objektive Zeit weichen drastisch voneinander ab.
Im Übergang von Schlafen und Wachen erfahren wir die Grenzen unseres gewöhnlichen Ich-Zustandes.[7] Beim Erwachen werden wir unser selbst jedes Mal erneut bewusst, wir werden in unseren Wachzustand eingeblendet. Aber in einzelnen Fällen verläuft der Prozess der Bewusstwerdung nicht ganz reibungsfrei – wenn sich das Ich nicht selbst erkennt. Dank solcher Momente haben wir die Möglichkeit, dem Rätsel des Bewusstseins auf den Grund zu gehen. Es zeigt sich dann, wie das bewusste Ich von zu ergründenden Faktoren abhängig ist, die konstitutiv für das Selbstbewusstsein sind.
Über solche und andere Phänomene außergewöhnlicher Bewusstseinszustände, die vom normalen Erleben stark abweichen, erlangen wir einen Zugang zu einer der großen Fragen: was Bewusstsein und was Selbstbewusstsein ist. Hierbei ist die Frage der Entstehung der subjektiven Zeit von besonderer Bedeutung. Subjektive Zeit und Bewusstsein, gefühlte...