2. Humanistische Ethik als angewandte Wissenschaft der Kunst des Lebens
Sussja betete einst zu Gott: „Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Mache, dass ich dich fürchte wie einer deiner Engel, die dein furchtbarer Name durchfährt!“
Alsbald erhörte Gott das Gebet, und der Name durchfuhr dem Sussja das verborgene Herz, wie es den Engeln geschieht. Da kroch Sussja unter das Bett wie ein Hündchen, und die Angst des Tieres erschütterte ihn, bis er aufheulte: „Herr, lass mich dich wieder lieben wie Sussja!“
Und Gott erhörte ihn zum andernmal.
(Chassidische Legende, in: N. N. Glatzer, 1946, S. 62)
a) Humanistische Ethik im Gegensatz zu autoritärer Ethik
Wenn wir nicht wie der ethische Relativismus darauf verzichten wollen, nach objektiv gültigen Normen der Lebensführung zu suchen, welche Kriterien können wir dann für derartige Normen finden? Die Art der Kriterien hängt vom Typus des ethischen Systems ab, dessen Normen wir untersuchen. Notwendigerweise sind die Kriterien in einer autoritären Ethik grundsätzlich verschieden von denen in einer humanistischen Ethik. In einer autoritären Ethik bestimmt eine Autorität, was für den Menschen gut ist, und stellt die Gesetze und Normen der Lebensführung auf; in einer humanistischen Ethik gibt sich der Mensch seine Norm selbst und unterwirft sich ihr aus eigenem Willen. Er ist Ursache, Gestalter und Gegenstand der Norm.[5]
Die Verwendung des Ausdrucks „autoritär“ fordert eine Klärung des Begriffes Autorität.[6] In Bezug auf diesen Begriff herrscht eine derartige Verwirrung, dass weithin die Auffassung gilt, es existiere nur die Alternative zwischen diktatorischer, irrationaler Autorität und dem völligen Fehlen jeglicher Autorität. Diese Alternative ist jedoch falsch. Das eigentliche Problem besteht darin, von welcher Art die Autorität ist. Wenn wir von Autorität sprechen, meinen wir dann rationale oder irrationale [II-011] Autorität? Rationale Autorität hat ihren Ursprung in Kompetenz. Der Mensch, dessen Autorität respektiert wird, handelt kompetent in dem ihm zugewiesenen Bereich, den ihm andere anvertraut haben. Er braucht weder einzuschüchtern, noch muss er durch magische Eigenschaften Bewunderung erregen. Solange und in dem Maße, in dem er kompetente Hilfe leistet, anstatt auszubeuten, beruht seine Autorität auf rationalen Grundlagen und braucht keinerlei irrationale Furcht. Rationale Autorität lässt nicht nur ständige Prüfung und Kritik seitens derer zu, die ihr unterworfen sind, sondern fordert diese geradezu heraus.
Rationale Autorität ist immer zeitlich begrenzt. Ihre Anerkennung ist davon abhängig, wie die Aufgabe erfüllt wird. Irrationale Autorität dagegen hat ihren Ursprung stets in der Macht über Menschen. Diese Macht kann eine physische oder eine psychische sein, sie kann tatsächlich vorhanden sein oder aber in der Angst und Hilflosigkeit des Menschen, der sich dieser Autorität unterwirft, ihren Grund haben. Macht auf der einen, Furcht auf der anderen Seite, das sind stets die Stützen irrationaler Autorität. Kritik an dieser Art von Autorität ist nicht nur nicht erwünscht, sondern verboten. Rationale Autorität beruht auf der Gleichheit desjenigen, der die Autorität besitzt und dessen, der sich ihr unterstellt. Beide unterscheiden sich lediglich im Grad des Wissens oder in der Befähigung auf einem bestimmten Gebiet. Irrationale Autorität beruht ihrer Natur nach auf Ungleichheit und das heißt gleichzeitig, auf einem Wertunterschied. Der Begriff „autoritäre Ethik“ bezieht sich immer auf irrationale Autorität, gemäß dem herkömmlichen Sprachgebrauch des Wortes „autoritär“ als einem Synonym für totalitär und antidemokratisch. Der Leser wird bald erkennen, dass humanistische Ethik und rationale Autorität durchaus vereinbar sind.
Autoritäre Ethik unterscheidet sich von humanistischer Ethik durch zwei Kennzeichen, ein formales und ein materiales. In formaler Hinsicht leugnet autoritäre Ethik die Fähigkeit des Menschen, zu wissen, was gut und was böse ist. Der Normgeber ist stets eine Autorität, die das Individuum transzendiert. Ein solches System gründet nicht in Vernunft und Wissen, sondern in der Furcht vor der Autorität und in dem Gefühl der Schwäche und der Abhängigkeit des Untergebenen. Die magische Kraft der Autorität bewirkt, dass man es ihr überlässt, Entscheidungen zu treffen. Ihre Entscheidungen können und dürfen nicht in Frage gestellt werden. In materialer oder inhaltlicher Hinsicht beantwortet autoritäre Ethik die Frage nach Gut und Böse primär vom Standpunkt der Interessen der Autorität und nicht der Interessen des Individuums.
Sie beutet immer aus, auch dann, wenn der Untergebene beträchtlichen psychischen oder materiellen Gewinn aus ihr zu ziehen vermag.
Sowohl die formalen wie die materialen Kennzeichen der autoritären Ethik treten in der Genese ethischer Werturteile beim Kinde und unreflektierter Werturteile des durchschnittlichen Erwachsenen in Erscheinung.[7] Die Grundlagen unserer Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, werden im Kindesalter geschaffen. Dies gilt zunächst hinsichtlich physiologischer Funktionen, dann aber auch in Bezug auf komplexere Fragen des Verhaltens. Das Kind erwirbt bereits ein Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse, noch ehe es mit Hilfe der Vernunft zu unterscheiden lernt. Seine Werturteile sind das Ergebnis freundlicher oder unfreundlicher [II-012] Reaktionen jener Menschen, die für sein Leben bedeutungsvoll sind. In Anbetracht seiner völligen Abhängigkeit von der Fürsorge und Liebe der Erwachsenen kann es nicht überraschen, dass schon ein Ausdruck der Billigung oder Missbilligung im Gesicht der Mutter genügt, dem Kind den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. In der Schule und in der Gesellschaft wirken ähnliche Faktoren. „Gut“ ist das, wofür man gelobt wird, „böse“ ist das, wofür man von gesellschaftlichen Autoritäten oder von der Mehrzahl seiner Mitmenschen missbilligend angesehen oder auch getadelt wird. In der Tat scheint es so zu sein, dass die Furcht vor Tadel und der Wunsch nach Anerkennung die mächtigste und beinahe ausschließliche Motivierung für ethisches Urteilen ist. Dieser intensive emotionale Druck hindert das Kind, später auch den Erwachsenen, kritisch zu fragen, ob „gut“ etwas Gutes für ihn selbst oder für die Autorität bedeutet. Diese Unterscheidung wird deutlich, wenn wir Werturteile in Bezug auf Dinge betrachten. Sage ich, ein Auto sei „besser“ als ein anderes, dann ist selbstverständlich, dass ich das eine Auto darum als „besser“ bezeichne, weil es mir mehr nützt als das andere. Gut oder schlecht bezieht sich hier auf den Gebrauchswert, den ein Gegenstand für mich hat. Hält der Besitzer eines Hundes seinen Hund für „gut“, dann bezieht er sich auf bestimmte Eigenschaften des Hundes, die für ihn von Nutzen sind, zum Beispiel, dass er den Ansprüchen des Besitzers an einen Wachhund, Jagdhund oder an ein anhängliches Schoßhündchen entspricht. Ein Ding wird dann als gut bezeichnet, wenn es für die Person gut ist, die es gebraucht. Das gleiche Wertkriterium lässt sich auch auf den Menschen anwenden. Der Arbeitgeber bezeichnet einen Arbeitnehmer als „gut“, wenn dieser ihm von Nutzen ist. Der Lehrer wird einen Schüler vermutlich dann „gut“ nennen, wenn er gehorsam ist, den Unterricht nicht stört und ihm alle Ehre macht. Ein Kind wird man gleichfalls „gut“ nennen, wenn es lernwillig und gehorsam ist. Das „gute Kind“ ist vielleicht eingeschüchtert und unsicher und hat nur das Bestreben, seinen Eltern zu gefallen, indem es sich ihrem Willen unterwirft, während das „böse Kind“ seinen eigenen Willen und eigene Interessen hat, die jedoch den Eltern missfallen.
Die formalen und materialen Aspekte der autoritären Ethik sind offensichtlich nicht voneinander zu trennen. Wenn die Autorität den ihr Unterworfenen nicht ausbeuten wollte, hätte sie keine Veranlassung, ihn durch Furcht und emotionale Unterwürfigkeit zu beherrschen. Sie könnte jedes vernunftmäßige Urteil und jede Kritik fördern, müsste dann aber das Risiko eingehen, als nicht kompetent befunden zu werden. Da jedoch ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen, gilt für die Autorität das Gesetz, dass Gehorsam die höchste Tugend und Ungehorsam die Kardinalsünde ist. Rebellion ist in der autoritären Ethik eine unverzeihliche Sünde. Sie stellt das Recht der Autorität in Frage, Normen aufzustellen; und sie stellt ihr Axiom in Frage, dass die von ihr aufgestellten Normen den Interessen der ihr Unterworfenen am besten dienen. Ein Sünder wird dadurch, dass er die Strafe hinnimmt und sich schuldig fühlt, wieder ein „guter Mensch“, denn er beweist damit, dass er die Überlegenheit der Autorität anerkennt.
In den Erzählungen über die Anfänge der menschlichen Geschichte gibt das Alte Testament eine Illustration dessen, was autoritäre Ethik ist. Die Sünde von Adam und [II-013] Eva wird nicht durch die Tat als solche erklärt. Vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen war nicht an sich schlecht; tatsächlich stimmen sowohl die jüdische wie die christliche Religion darin überein, dass die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, eine Grundtugend ist. Die Sünde bestand im Ungehorsam, in der Herausforderung der göttlichen Autorität. Gott fürchtete deshalb: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!“ (Gen 3,2) Die humanistische Ethik kann ebenso wie die...