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E-Book

Das Jahrhundert meines Vaters

AutorGeert Mak
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783641171957
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Eine mitreißend lebendige Familiengeschichte um einfache Leute vor dem Hintergrund der großen historischen Ereignisse
Am Mikrokosmos seiner Familie schildert Geert Mak das 20. Jahrhundert in den Niederlanden: das Landleben um 1900, den Ersten Weltkrieg, die Not und Entbehrungen, die Zwischenkriegszeit, die Zerstörung Rotterdams, die deutsche Besetzung 1940, und schließlich den Aufstieg des Landes zwischen Meer und Marsch zu einem Musterland Europas.

Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach drei großen Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Amsterdam« (1997), »Das Jahrhundert meines Vaters« (2003) und »In Europa« (2005). Zuletzt erschienen »Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (2013) sowie »Die vielen Leben des Jan Six« (2016). Für sein Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

KAPITEL 1


Zwart Nazareth


Gerüche. Teer und Taue, das müssen die ersten Dinge gewesen sein, die mein Vater gerochen hat. Frische, neue Taue, Segeltuch und Teer. Außerdem war da der Geruch von Salz und Wellen, von Großsegeln, Vorsegeln, Focksegeln, Bramsegeln, Rahsegeln und Sturmfocken, die in der Werkstatt zum Trocknen hingen. Es gab eine Küche, in der es nach Milch und Brot roch und später am Tag nach Grieben und gebratenem Fisch. Und schließlich war da noch ein Hauch von Holz und von der Kälte des Stahls.

Die ersten Geräusche. Im Haus war manchmal aus der Werkstatt das Rattern eines Flaschenzugs zu hören oder das Schleppen einer Segeltuchrolle. Hin und wieder die Stimmen meines Großvaters und seiner beiden ältesten Söhne, Koos und Arie. Draußen hörte man die Schritte auf der Straße, das Rumpeln der Karren und das Bimmeln der Pferdebahn.

Und da waren all die in der Nähe arbeitenden Menschen, in der Schmiede und der Blockmacherei, ein Stückchen weiter, wo der Bruder meines Großvaters Masten und Flaschenzüge herstellte, oft draußen, auf dem Kai, weil seine Werkstatt zu klein war.

Abends dann die Schritte der wenigen späten Spaziergänger, die Stimme des Blockmachers, der zu einem kleinen Schnack herübergekommen war, der Wind in den Kastanien, das Scheuern der Schoner und Kutter an der Kaimauer, das Tuten eines kräftigen Horns, zweimal, in der Ferne das Flüstern von Heckwellen und Dampfmaschinen, ein merkwürdiges, fernes, hell erleuchtetes Schloss, das vorüberfuhr, auf dem Weg in eine andere Welt.

 

Mein Vater wurde am 28. September 1899 in Schiedam geboren, besser bekannt als Zwart Nazareth, einem nasskalten, verräucherten Nest an der Mündung der Maas, das man kaum als Stadt bezeichnen konnte. Es war vielmehr die Ansammlung kleiner Gemeinschaften mit jeweils eigener Färbung und Beschränkung.

Die Leute lebten zum größten Teil von der Geneverherstellung. In Reisebeschreibungen kann man lesen, die Stadt liege inmitten des saftiggrünen Weidelands wie ein »speiender Vulkan«, überall Feuer von Brennereien und Flaschenfabriken, umringt von Dutzenden von turmhohen Mühlen mit sich schnell drehenden Flügeln, als würde im Innern der Mauern nicht schon genug geschuftet.

Manchmal hatte man den Eindruck, Schiedam sei eine einzige Spelunke. Brennereiarbeiter füllten, wenn sie nach Hause gingen, ihre Trinkflaschen mit Schnaps, um sich den Feierabend zu versüßen. Am Waschtag, wenn die Frauen beim Kessel der Brennereien warmes Wasser holen durften, kam statt Wasser Genever in die Eimer, die dann mit einem dampfenden Aufnehmer zugedeckt wurden. Hunde tranken Genever, die Kühe soffen ihn mit dem Abwasser und torkelten über die Weide.

Die meisten Viertel waren verfallen. Die Verarmung, die zuerst in der Innenstadt grassierte, hatte sich wie eine Krankheit ausgebreitet und war scheinbar durch nichts und niemanden aufzuhalten.

Die Fabrikmauern sonderten einen lauen Gestank ab, die Kanäle dampften, die Augen der Arbeiter schwammen im Alkohol, die Frauen waren mager und schwanger, die Kinder husteten sich die Lungen aus dem Leib – das war das Zwart Nazareth von 1899.

 

Die Niederlande waren damals im Vergleich zu heute menschenleer, und die Welt war voller Gewissheiten. Dreiviertel der fünf Millionen Einwohner lebten auf dem Land; in ganz Europa waren es über neunzig Prozent. Auf der mit Klinkern gepflasterten, kaum vier Meter breiten Straße von Amsterdam nach Haarlem kam dann und wann ein Auto vorbei. Städte und Dörfer waren morsch. Zahlreiche Häuser, Bauernhöfe und andere Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert wurden immer noch genutzt.

Straßenbahn und Fahrrad waren noch nicht allgemein verbreitet. Die Infrastruktur von Stadt und Land orientierte sich an Entfernungen, die zu Fuß bewältigt werden konnten: Jedes Dorf war das Zentrum eines Gebiets, das man in einer Stunde durchqueren konnte, in jeder großen Stadt lebten viele Menschen auf engstem Raum. Jeder Landstrich hatte bis 1909 sogar seine eigene Zeit: Zwischen dem Osten und dem Westen der Niederlande gab es mindestens fünfzehn Minuten Zeitunterschied. Insgesamt gab es 12 000 Telefone.

Europa war das selbstverständliche Zentrum der modernen Welt. Der Zar regierte über Russland, der Kaiser über Deutschland und Abraham Kuyper »der Gewaltige« über die kleinen Niederlande. Der Schnellzug Paris – Calais war mit 93 Stundenkilometern das schnellste Fortbewegungsmittel auf dem Kontinent. In 32 Tagen konnte man einmal um die Erde reisen. Es sollte noch neun Jahre dauern, bis zum ersten Mal ein Flugzeug seine Runden über niederländischem Boden drehte, noch dreizehn Jahre, bis der Untergang der Titanic das Ende des alten Europa ankündigen würde.

 

Mein Vater hatte eine Zwillingsschwester. Catrinus und Catrien waren das sechste und siebte Kind einer am Ende zwölfköpfigen Familie. Abgesehen von der Zeit im Schoß meiner Großmutter, hatten Bruder und Schwester nichts gemein. Vom Moment der Geburt an verliefen ihre Lebenslinien in unterschiedlicher Richtung, und sie berührten sich erst wieder am Schluss, wie eine Ellipse die Welten umspannt.

Das Rotterdamsch Nieuwsblad, das an diesem Tag erschien, berichtet über den Atjeh-Krieg, die Affäre Dreyfus, die Yagui-Indianer, die sich in Los Angeles eine Schlacht mit der mexikanischen Armee lieferten, und über eine Versammlung des Allgemeinen Niederländischen Zuavenverbands, auf der dagegen protestiert wurde, dass man dem Papst die Gewalt über die Stadt Rom entzogen hatte. Und dann stoße ich, in einer Reportage über eine Bootsfahrt der jungen Königin Wilhelmina auf der Maas, auf eine Beschreibung der hellen Seite von Zwart Nazareth: die zum Wasser hin gelegene. »Vor uns der leuchtend graue Fluss mit grünen, silbernen und goldenen Tönen und weißen Schaumkronen, auf dem sich die Boote und Schiffe wiegen. Und in der Ferne, in sehr großer Ferne, im Nebelschimmer, die ragenden Brücken, die Riesenbrücken mit ihren hohen Pfeilern. Links die Stadt, in düsteren, braunen und dunklen Farben, dann plötzlich hier und da von einem dünnen Strahl der Sonne beleuchtet.«

Ein kräftiger Wind wehte von Westen her, der große Schaumflocken von den Wellen des Flusses aufwirbelte. In der Ferne sah der Reporter die kleine Stadt liegen, den Hafen, die schlanken Schiffe, einen Wald von Masten, ein Netz aus Rahen, Tauen und Schoten. Dazwischen standen träge, gemütliche Dampfschiffe, an deren Top dann und wann etwas Rauch zu sehen war. Und überall waren Flaggen, Hunderte, »in der Ferne vor dem grauen Himmel zu einer harmonischen Farbmischung verschmelzend«.

So muss es an dem Nachmittag gewesen sein, als mein Vater 1899 geboren wurde.

 

Anhand der im Gemeindearchiv von Schiedam aufbewahrten Erinnerungen einer seiner Schwestern, meiner Tante Maart, kann man die frühe Kindheit meines Vaters recht gut rekonstruieren. Was sah er als zwei- oder dreijähriges Kind?

Zunächst die Segelmacherei meines Großvaters, ein niedriges Haus mit einer Glastür, auf beiden Seiten große Fenster und dahinter eine Werkstatt, die bis zum Garten reichte. Oben gab es Segelspeicher und Schlafzimmer und hinten eine hübsche Kammer, der Stolz meiner Großmutter. Ein Badezimmer hatte man nicht; die Jungen wuschen sich sommers wie winters draußen auf dem Hof, wo sie das Wasser aus einem Hahn über Kopf und Nacken laufen ließen.

Der Nachbar war ein Wasserwärmer, jemand, der ausschließlich mit heißem Wasser handelte und mit glühenden Kohlen, mit denen man das Feuer im Ofen anzündete. Daneben lag eine große Wäscherei, aus deren Fenster es immer dampfte. Davor standen ein Karren, mit dem die Wäsche ausgefahren wurde, ein Pferd und ein Kutscher, dahinter befanden sich ein Stall für das Pferd und eine Wohnung für den Kutscher, denn den Begriff Rationalisierung kannte man damals noch nicht. Dann gab es noch einen Petroleumhändler, einen Zigarrenladen, einen Schmied, der fast immer draußen Pferde beschlug, eine Brennerei, eine Kneipe mit betrunkenen Männern, ein Mützengeschäft, einen hübschen Laden mit Kaffee und Tee, wieder ein paar Brennereien – Schauermänner schulterten die Getreidesäcke und trugen sie über Leitern auf den Speicher, wo die Gerste gären sollte – und schließlich einen Bäcker, der samstags für drei Cent Teilchen mit Eischnee verkaufte.

Auf der anderen Seite der Segelmacherei stand ein kompletter Bauernhof. In vielen Städten gab es damals noch Reste von Ländlichkeit, und das war auch hier der Fall. Der Bauer wohnte mit seinen Töchtern vorne, in einem Haus mit einer großen, etwas höher gelegenen Vorratskammer, die vollkommen leer war, wenn man von draußen hineinsah. Erst wenn man reinging, entdeckte man die Milchkannen, die Butter und die Käse, die hier gemacht wurden. Hinter dem Haus lag das Hofgelände, mit Heuböden, Karren und Misthaufen, wie bei jedem Bauernhof. Das Weideland war nur ein paar Minuten entfernt, am Deich.

Neben dem Hof war ein Pferdestall, wo die Kinder oft zuschauten. Die Pferde gehörten einem Fuhrunternehmer, der ein paar Häuser weiter wohnte. Wenn dort ein Pferd ausgespannt wurde, dann lief es ganz allein in den Stall. Das wunderte die Kinder immer: ein Pferd, das einfach so durch ein Tor zwischen den Häusern lief, das einem plötzlich entgegenkommen konnte, und dann stand man auf einmal so einem großen, einsamen Tier gegenüber. Etwas weiter befand sich ein Teegarten, in dem Frauen in langen Kleidern und Männer mit Strohhüten saßen und auf den Fluss hinaus sahen, auf dem Tisch eine bauchige Flasche für fünf Cent. Und auf der Ecke, gleich am Deich, stand das »Schreiershuisje«, ein kleiner Schuppen, in dem sich die...

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