Einleitung
Zur abendländischen Wissenschaftsgeschichte
Die Darstellung von Religionen gemäß ihrem Selbstverständnis, gar der Versuch, diese Religionen als menschliche Denkmöglichkeiten darzustellen, entspricht der Auffassung abendländisch-neuzeitlicher Wissenschaft. Diese Auffassung setzt eine besondere wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung voraus. Deshalb ist die Besonderheit dieses abendländisch-neuzeitlichen Denkens, wie es sich von vorherigen abendländischen und von anderen außereuropäischen Denktraditionen unterscheidet, zu erhellen. Deutlich zeigt sich dadurch, dass die Frage nach Religion und Religionen, also auch der Versuch einer nicht bewertenden oder gar abwertenden Darstellung derjenigen Religionen, die nicht der eigenen entsprechen, erst im Denkgefüge der abendländischen Neuzeit möglich wird. Weder in der Antike noch im Mittelalter ist es in der europäischen Tradition üblich oder auch nur erwünscht, „fremde“ Religionen und Kulturen ihrem Selbstverständnis nach und ohne Bewertung zu erkunden und zu beschreiben. Weshalb?
Die Antwort auf diese Frage wird durch einen Blick auf die abendländische Wissenschaftsgeschichte deutlich – ein Blick, der auch in der Kürze notwendig ist. Denn dieser Blick macht auch klar, dass die in den großen Epochen dieser abendländischen Wissenschafts- und Geistesgeschichte erkennbaren Prinzipien des Denkens von Antike, Mittelalter und Neuzeit eine Verwandtschaft zu den Prinzipien des Denkens großer Religionen haben. Daher ist das Verständnis dieser Prinzipien auch für das Verstehen der großen Religionen, sofern sie hinsichtlich ihrer jeweiligen Denkmöglichkeit betrachtet werden, unerlässlich.
Was bewegt nun diese abendländische Wissenschaftsgeschichte? Es ist die Frage nach einem sicheren Wissen, einem Wissen, das nicht nur einem einzelnen Menschen als sicher erscheint, sondern das so ist, dass es jeder Mensch von Einsicht teilen muss. Nun hat ja jedes Wissen Voraussetzungen, und sind diese Voraussetzungen nicht sicher, wie könnte es dann das Wissen sein? Folglich müssen die allerersten Voraussetzungen jeglichen Wissens als sicher und notwendig für jedes folgende Wissen erkannt werden: die Prinzipien. Aus deren gewusster Sicherheit heraus allein entfaltet sich ein menschenmögliches und unter Menschen teilbares Wissen: „Was können wir sicher wissen?“ ist demnach die Frage, die durch Antike, Mittelalter und Neuzeit die abendländische Wissenschaftsgeschichte bewegt.
Und wozu ist diese Frage, wozu ist eine Antwort auf diese Frage sinnvoll oder gar nötig? Wo wünschen, wo benötigen wir Menschen ein mitteilbares sicheres Wissen? Ein solches Wissen ist keineswegs nur theoretisch interessant, sondern von größter Bedeutung auch für die Praxis des menschlichen Zusammenlebens. Sehr wohl wünschenswert ist sicheres, mitteilbares Wissen bei der Wahrheitsfindung vor Gericht, sehr wohl wünschenswert bei den Diagnosen und Therapien der ärztlichen Kunst. Wünschenswert wäre ein solches sicheres Wissen gewiss auch bei dem alle Menschen betreffenden, die allermeisten Menschen auch berührenden Rätsel nach dem Woher und dem Wohin des Menschen: „Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? … Was ist der Tod …? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“1 Hier „erwarten die Menschen Antwort von den verschiedenen Religionen“2, und gerade deren Verschiedenheit zeigt, dass diese Religionen verschiedene Denkmöglichkeiten als Antworten anbieten. Daraus ergibt sich, dass sie ein Wissen vortragen, das nicht von allen Menschen gleichermaßen geteilt wird, ein Wissen, das auf unterschiedlichen Prinzipien beruht und daher prinzipiell unterschiedlich ist.
Menschen benötigen aber auch ein sicheres Wissen, das allen Menschen mitteilbar ist und nicht in Frage gestellt werden kann. Ein solches übereinstimmendes Wissen könnte ein „Weltethos“ begründen, das seinerseits Garant für friedliches menschliches Zusammenleben und Überleben sein könnte. Einen Versuch, ein solches Wissen aus einer Anzahl von Religionen und Kulturen zu erheben, hat Hans Küng mehrfach unternommen.3 Mag man auch daran Kritik üben können, so bleibt doch, dass menschliche Gemeinwesen ein übereinstimmendes und nach Möglichkeit sicheres Wissen in Gesetzgebung und Rechtsprechung haben sollten, um einheitlich zu sein und dadurch fortbestehen zu können.
Daher: die Frage nach einem sicheren und mitteilbaren Wissen treibt die abendländische Wissenschaftsgeschichte in Theorie und Praxis voran, zumal diese Frage keine endgültige Antwort zu erhalten scheint, wie dies auf manchen Wissensgebieten seinerzeit noch gedacht wurde. Noch Immanuel Kant erklärt in der Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Jahr 1781 hinsichtlich der Metaphysik: „Ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden.“4 Und doch schreitet die Wissenschaftsgeschichte weiter fort, indem sie den Geltungsbereich überkommener Erkenntnisse und Aussagen einschränkt und somit Platz schafft für neue Forschung.
Man kann, wie es ja auch allgemeiner Sprachgebrauch ist, die abendländische Geschichte in drei Epochen einteilen: Antike, Mittelalter, Neuzeit. Dies ist auch eine Möglichkeit, die abendländische Geistesgeschichte zu betrachten.5 Dabei ist zu fragen, wie sich diese Epochen unterscheiden – und dabei können unterschiedliche Prinzipien des Wissens bemerkt werden, wobei das mittelalterliche Prinzip das der Antike, das neuzeitliche Prinzip das von Antike und Mittelalter voraussetzt.
Antike
Die erste Erpoche dieser Wissenschaftsgeschichte, die Antike, findet die sichere Voraussetzung allen sicheren Wissens im „Satz vom zu vermeidenden Widerspruch“, also im Prinzip des ausgeschlossenen Selbstwiderspruchs, das Aristoteles so formuliert: „Dass nämlich dasselbe demselben gemäß desselben gleichzeitig zukommen und nicht zukommen kann, ist unmöglich.“6 Dies kann man auch anders ausdrücken: es ist unmöglich, einem Subjekt oder einer Sache zu gleicher Zeit und in gleicher Hinsicht einander widersprechende, gegensätzliche Prädikate zuzuordnen. So kann ein Sachverhalt nicht zu gleicher Zeit und in gleicher Hinsicht selbstwidersprechend sein – ein Trinkglas ist entweder voll oder leer. Ist es zunächst gefüllt, sodann ausgetrunken und leer, so ändert man den Zeitpunkt der Betrachtung; blickt man auf ein halbvolles Glas und betrachtet die untere gefüllte Hälfte, dann aber die obere leere Hälfte, so ändert man Zeitpunkt und Hinsicht der Betrachtung. Gleichzeitig und in gleicher Hinsicht aber kann das Glas unmöglich voll und leer sein. Dieser Satz gilt als vollkommen sicheres Wissen, zumal der Widerlegungsversuch, der den ganzen Satz als Sachverhalt nimmt und ihn für falsch erklären will, nicht gleichzeitig und in gleicher Hinsicht den Satz für richtig halten kann. Der Satz wäre aber nur dadurch zu widerlegen, dass einem und demselbem Sachverhalt Widersprüchliches zugesprochen werden kann. Nimmt man also den Satz selbst als Sachverhalt, müsste ihm „wahr“ und „falsch“ gleichzeitig und in gleicher Hinsicht zugesprochen werden können. Das aber will der, der den Satz für falsch – und nur für falsch – hält, gerade nicht, sondern er möchte nur „falsch“ zuschreiben, nicht aber auch „wahr“. Wollte er beide Zuschreibungen gleichzeitig und in gleicher Hinsicht, also „wahr und falsch“, trifft er keine Aussage. Das Trinkglas kann nicht „voll und leer“ sein. So ist die Unmöglichkeit der Widerlegung dieses Satzes gezeigt, weil der Widerlegungsversuch den Inhalt des Prinzips selbst voraussetzt, nicht gegenteilige selbstwidersprüchliche Aussagen sinnvoll machen zu können. So setzt sogar der Widerlegungsversuch den...