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E-Book

Das Wissen der 35-Jährigen

Handbuch fürs Überleben

AutorVolker Marquardt
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl254 Seiten
ISBN9783105601570
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
35 - wenn wir jetzt nicht erwachsen werden, werden wir es nie! Warum kaufen wir zu viele Schuhe? Warum fangen wir schon wieder eine neue Beziehung an? Antworten auf diese Fragen finden Sie hier. Außerdem noch alles, was man mit 35 wissen sollte, um als erwachsen zu gelten - und vor allem, welche Ausreden nicht mehr funktionieren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Volker Marquardt, freier Journalist und Autor, wurde 1968 geboren.

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Leseprobe

Willkommen in meiner Spalte


Hand aufs Herz: Früher haben wir alle gedacht, mit 35 ist alles gelaufen. Der Job ist super, das Häuschen zwar noch nicht abbezahlt, aber solide finanziert. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, und die Liebe wächst von Tag zu Tag. Irgendwo zwischen der Spießigkeit der »Lindenstraße« und der Lockerheit der »Sesamstraße« wollten wir landen. Heute nervt der Job, die Beziehung ging letzte Woche in die Brüche. Die Kinder sind entweder ungeboren, oder du siehst sie nur am Wochenende. Obwohl du Glück und noch einen Job hast, erscheint am Ende des Monats immer ein Minusguthaben auf deinem Konto, das – und dies ist mit den einfachsten Regeln der Mathematik durchaus vorhersehbar – entsprechend von Monat zu Monat wächst. Trotzdem will es dir nicht in den Kopf, dass du pleite bist – und zwar in jeder Beziehung.

Aber deine Freunde sind auch nicht besser. Sie behaupten, sie würden seit Jahren an einem genialen Roman schreiben, von dem du noch nie eine Seite gesehen hast. Deine Nachbarin, allein erziehende Ex-Akademikerin, hat einen neuen Job im Bioladen gefunden. Peu à peu hat sie den Rückzug von der festen Universitätsanstellung angetreten, weil ihr das Büro, die Kollegen, die Aufgabe oder sonst was nicht gepasst hat. Überhaupt will sie ihr Geld eigentlich lieber mit Photographieren verdienen, obwohl sie als Alt-Historikerin vor einigen Jahren sehr gute Chancen an der Universität hatte. Deine Ex, die BWL und Sinologie studierte, lässt sich zur Hebamme umschulen, und dein bester Freund, der das Medizinstudium mit Auszeichnung bestanden hatte, bettelt gerade bei den Sparkassen um ein wenig Geld: Er will einen Cateringservice aufziehen. Einfach so. Und weil ihn seine Arbeit im Klinikum langweilt und er mal was anderes sehen will. Axel hat als Produktmanager gekündigt und lebt seit einem halben Jahr in einem Kloster in Südfrankreich. Wir sind Pleite und gleichzeitig auf der Flucht, um ja nicht anzukommen.

Auch in der Liebe. Thomas hat seine schwangere Freundin verlassen. Die Verantwortung für ein Kind ist ihm einfach zu groß. Marlies hat sich von Jürgen getrennt, weil dieser ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte und sie das mit ihren Vorstellungen von Freiheit innerhalb einer Beziehung nicht zusammenbrachte. Manche Paare leben so lange es irgendwie geht in getrennten Wohnungen. Bloß keinen Pärchenalltag aufkommen lassen. Dabei hat Tom schon seine halbe Garderobe zu Karin geschafft. Natürlich sind die beiden noch Singles, obwohl sie seit fünf Jahren nur zusammen ausgehen und obwohl beide mindestens seit drei Jahren keinen Sex mehr mit einem anderen Menschen hatten. Es gelingt uns einfach nicht, uns in eine Sache, eine Liebe voll reinzuwerfen. Nach der ersten Nacht denken wir: »Das wird was.« Aber wir halten uns Hintertüren offen – und natürlich kreuzen dahinter Möglichkeiten, Alternativen, Abzweigungen auf. Dann lassen wir uns treiben. Bis wir uns so verändert haben, dass uns unser Partner nicht mehr wieder erkennt. Und wir uns manchmal auch nicht mehr.

Früher war alles besser. Wir dachten: Wow, das Leben ist verdammt lang, und klar werden wir fünf Jahre in Berlin leben, fünf Jahre in Hamburg oder München, ein paar Jahre in Rom, Madrid, London und New York, wir werden uns aus der Studentenwohnung in eine schicke Altbauwohnung einmieten. Später werden wir eine tolle Villa am Stadtrand beziehen, den Segel- und den Tauchschein machen, mindestens einen 6000er besteigen, noch ein paar Sprachen lernen, die Kontinente bereisen und uns frühzeitig aus dem Berufsleben verabschieden. Dann werden wir im Kreise unserer Liebsten noch ein paar Jahrzehnte am Starnberger See oder auf Sylt verbringen. So haben wir uns das gedacht. Und wir glauben immer noch daran. Aber wir hocken weiterhin in unserer Studentenbude. Die ist preiswert, und so bleibt mehr Geld zum Ausgehen übrig. Aber wir haben natürlich noch alle Möglichkeiten, denn 35 ist kein Alter, mit 35 kann man noch mal ganz von vorne anfangen! Man kann zum Beispiel noch ein Jurastudium beginnen und dann in den diplomatischen Dienst gehen. Oder geht das vielleicht doch nicht mehr?

Wir schieben ständig Entscheidungen vor uns her. Wenn wir doch etwas anfangen, dann mit der Option, sofort wieder aussteigen zu können. Deshalb mieten wir auch keine schicke Altbauwohnung und finanzieren keine Villa. Vielleicht kündigen wir ja im nächsten Jahr unseren Job, da er uns vom Wesentlichen abhält. Was das Wesentliche ist, können wir nicht sagen. Wir wissen zwar, dass es drei wichtige Dinge in unserem Leben gibt, nämlich Lieben, Arbeiten und Kaufen. Aber das hilft uns auch nicht wirklich weiter, da wir uns immer wieder neu aufstellen. Geht es uns bei der Liebe, fragen wir uns, um Freundschaft, Milieu oder Leidenschaft? Sollen wir nach dem suchen, was wir noch nie oder schon immer hatten? Andauernd stellen wir Ranglisten für unsere Liebesgründe auf und werfen sie im nächsten Moment wieder über den Haufen. So sind wir.

Wir sind wie die Kinder der TV-Show »Eins, zwei oder drei?«. Wir rennen über die bunt blinkenden Felder und können uns nicht entscheiden. Schuld daran sind natürlich unsere Eltern. Wir sind aufgewachsen als Kinder einer Elterngeneration, die uns ein Meer der Möglichkeiten versprach. Für sie ging es darum, uns alles zu ermöglichen und uns vor den Sprüchen unserer Großeltern zu schützen. Denn Oma und Opa haben uns an ihren runden Geburtstagen immer zugeflüstert: »Das Leben ist kein Zuckerschlecken«, »Alles hat seinen Preis«, »Man muss sich entscheiden«, »Du kannst nicht alles haben«. Aber unsere Eltern gingen immer dazwischen und ließen uns glauben, nichts habe seinen Preis, wir müssten uns nie für oder gegen etwas entscheiden. Alles sei schon da und wir könnten natürlich alles haben. Wenn wir sie fragten »Warum?«, dann sagten sie »Weil du unser Kind bist«. Das klang überzeugend. Dass diese Antwort falsch war, wollen wir bis heute nicht wahrhaben.

Wir hätten ja den Traumpartner geheiratet, die Kinder gezeugt, den grandiosen Job angenommen, die Villa bezogen, den Tauchschein gemacht und das Bollhagen-Geschirr für das Wochenendhaus bestellt, wenn man uns all das auf dem Silbertablett präsentiert hätte. Ohne Wenn und Aber. Ohne sich darum bemühen zu müssen. Wenn all das wie in unserer Kindheit schön verpackt und mit einer roten Schleife versehen unter dem Weihnachtsbaum gelegen hätte. Wir es also gleich als Geschenk erkannt hätten. Wenn uns das Nicken von Mama und Papa dazu gedrängt hätte, uns auf dieses Paket zu stürzen und die Verpackung aufzureißen. Wir wussten immer: Wenn Mama und Papa uns zulächeln, kann es nicht ganz falsch sein.

Heute aber müssen wir feststellen, dass Mama und Papa nicht mehr nicken. Sie haben nämlich selbst keine Ahnung davon, wo heute das rettende Ufer verläuft. Sie wurden in einer normierten Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre erwachsen, die es so heute nicht mehr gibt. Und sie waren deshalb auch nicht in der Lage, uns die Kenntnisse mitzugeben, die wir heute benötigten, um im Leben klarzukommen. Sie wollten nur unser Bestes. Sie haben uns unser Pausenbrot geschmiert und sich schützend vor uns gestellt, wenn es Ärger gab. Sie haben uns keine Vorschriften gemacht – außer: »Mach, was du willst.« Das war zwar eine ungeheure Befreiung, aber auch ein Freischwimmer für eine endlose Suche – nach dem richtigen Partner, nach dem richtigen Job, nach der richtigen Umhängetasche. An dieser erzieherischen Wassersuppe verschlucken wir uns bis heute.

Das ist dumm. Weil der richtige Partner manchmal vor der Tür steht, weil man sein Konto nicht wirklich überziehen muss, ein guter Job ab und an auch in den schlimmsten Zeiten zu finden ist. Vor allem aber, weil einfach eine Menge echtes Leben im Leben auf uns wartet. Zumindest dann, wenn wir nicht ständig damit beschäftigt wären, zu überlegen, welche Tür diese oder jene Entscheidung verschließen könnte. Wir wollen nicht anerkennen, dass es mit Mitte 30 nicht mehr darum gehen kann, sich gegen etwas zu entscheiden, sondern für etwas. Und da wir genau diese Kunst überhaupt nicht beherrschen, werden wir lieber nicht erwachsen. Wir wollen ewig Kind bleiben. Wir suchen uns Nischen, in denen wir weiterhin Teenager sein dürfen – und vielleicht dafür bezahlt werden. Wenn das nicht klappt, kaufen wir uns nach Feierabend wenigstens eine G-Star-Hose mit Knieschonern. Damit, so hoffen wir, sehen wir aus wie ein 19-Jähriger Hip-Hopper aus der Vorstadt. Diese Vorstellung gefällt uns.

Trotzdem rutschen wir mit dem 35. Geburtstag demographisch in eine andere Spalte. Vorher fielen wir, wenn es gut lief, in die Spalte »18 bis 34 Jahre«, und Marktforscher interessierten sich für uns, weil sie herausfinden wollten, wie unsere MTV-Sehgewohnheiten sind. Oder in die Spalte »25 bis 34 Jahre«. Das war auch gut. Dann tauchten wir in Studien zum Thema »Frequenz Geschlechtsverkehr pro Woche« auf. Damit ist jetzt Schluss. Jetzt sind wir 35, und die neue Spalte nennt sich »35 und älter«. Ab jetzt heißen die Studien, zu denen wir befragt werden »Der Einfluss des Marathonlaufs auf den Kreislauf von Senioren zwischen 35 und 60«. Das hört sich nicht wirklich gut an. Mit einem Geburtstag auf den anderen sollen wir aus der MTV-Generation in den Vorruhestand durchstarten. Dabei sind wir doch im besten Alter. Wofür eigentlich? Na, für alles!

Solche kleinen Veränderungen sollen uns aber signalisieren: »Du bist jetzt 35,...

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