Die Entdeckung der Parallelwelt in unserem Kopf
Es ist ein ganz gewöhnlicher Montagmorgen, als ich im Flieger nach London neben einem Geschäftsmann Platz nehme. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Es ist eine Begegnung, die meine Arbeit und mein Leben ebenso wie seines verändern wird. Wir kommen ins Gespräch, und als er erfährt, dass ich Coach bin, sagt er: »Wissen Sie, ich fliege jede Woche in eine Stadt, die ich nicht mag, um einen Job zu erledigen, der mich fertigmacht. Am Wochenende bin ich dann viel zu müde, um noch etwas mit meiner Familie zu unternehmen.«
»Was würden Sie denn tun, wenn Sie die Wahl hätten? Wenn Sie einfach frei entscheiden könnten?«, frage ich. Er denkt einen Moment nach, dann beginnen seine Augen zu leuchten. »Ich würde zuerst nach Indien reisen und meiner Frau vor dem Taj Mahal einen zweiten Heiratsantrag machen. Der erste kam, obwohl sie ihn angenommen hat, nicht so gut an. Ich hatte sie gefragt, ob sie mich aus steuerlichen Gründen heiraten würde.« Wir lachen beide.
»Dann«, fährt er fort, »würden wir uns mit den Kindern in den großen Ferien die Welt ansehen. Ich würde meinem Sohn und meiner Tochter gerne zeigen, wie faszinierend Asien ist. Ich bin oft geschäftlich dort.« Ich bin ganz bei ihm, als er das erzählt, spüre, wie sehr er seine Familie liebt und wie oft er sie vermisst. »Und dann?«, frage ich weiter.
»Dann würde ich wieder ganz zurückgehen in unsere Heimat nach Süddeutschland und nicht mehr pendeln. Mich vielleicht selbstständig machen. Irgendetwas Sinnvolles tun, etwas, das ich gestalten und gemeinsam mit anderen voranbringen kann. Ich würde mich auch gerne sozial engagieren und etwas zurückgeben an andere, die es nicht so gut haben wie ich.«
Nachdem er das gesagt hat, schweigt er. Dann sagt er bitter: »Aber wissen Sie, man kann ja viel träumen, nicht wahr? Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.«
»Aber was hält Sie davon ab, Ihrem Leben eine neue, für Sie stimmige Richtung zu geben? Sie sind offensichtlich hervorragend ausgebildet, in den allerbesten Jahren und können Ihre berufliche Zukunft doch beherzt in die Hand nehmen.«
Es folgt eine eigenartige Stille. Ich habe mich mit dem, was ich sagte, offensichtlich zu weit vorgewagt. Die Atmosphäre unseres Gesprächs verändert sich. Seine Stimme bekommt einen anderen, herausfordernden Ton. Sein Blick wird streng.
»Das mag wohl Ihr Beruf sein, anderen Flausen in den Kopf zu setzen. Aber ich bin Realist. Ich habe eine Frau und zwei Kinder, die noch viele Jahre Ausbildung brauchen. Ich möchte meine Kinder auf die besten Schulen schicken können, sie sollen später eine Chance haben im globalen Wettbewerb. Die Altersvorsorge für mich und meine Frau steht auch noch nicht. Meinen Sie, wir haben Lust, irgendwann in irgendeinem drittklassigen Heim zu landen? Mit schlechter medizinischer Versorgung? Ich habe keine Wahl. Ich mache das hier nicht aus freien Stücken.«
Ich schweige und denke über das nach, was ich gerade gehört habe. Doch er setzt nach: »Wissen Sie, ich bin gar nicht so dumm, wie Sie jetzt vielleicht denken. Ich habe einen Plan. Wenn ich weiter durchhalte, bin ich mit fünfundfünfzig fertig mit allem und gehe in Rente. Dann ist immer noch Zeit für Weltreisen und solchen Kram.« Er vertieft sich in seine Zeitung, und wir sprechen bis zur Landung nicht mehr. Bei der Verabschiedung entschuldigt er sich förmlich für seinen »vielleicht wohl etwas harschen Ton« und fragt mich nach meiner Visitenkarte. »Vielleicht kann ich Sie ja mal weiterempfehlen. Manche haben ja Bedarf für einen Coach.«
Die Begegnung mit diesem Geschäftsmann, der damals etwa um die vierzig Jahre alt war und als Berater in London arbeitete, beschäftigte mich mehr als viele andere Gespräche, die ich bis zu diesem Zeitpunkt bereits geführt hatte. Was er mir damals so deutlich vor Augen führte und was ein Interesse aufkeimen ließ, mit dem ich mich wohl noch bis zum Ende meines Lebens befassen werde, war die Parallelwelt in unserem Denken, mit der wir uns von dem Leben abhalten, das wir eigentlich haben könnten. Dieser Mann brachte wirklich alle Voraussetzungen dafür mit. Er hatte einen sehr anspruchsvollen, hervorragend bezahlten Beruf, Frau und Kinder, die er liebte. Und dennoch war er unglücklich und hatte sich ein Leben eingerichtet, das ich heute als »Kreuzfahrt an sich selbst vorbei« bezeichnen würde. Ein Leben, das nach außen hin glänzt, nach innen aber eine Ansammlung fauler Kompromisse ist. Er zwang sich, in einem System zu funktionieren, das von Pflichtgefühl und Angst geleitet war. Seine Träume und echten Lebensziele tat er mit alten Weisheiten wie »Das Leben ist kein Wunschkonzert« ab. Er war, und das beschäftigte mich nachhaltig, ein Mensch, der tatsächlich die Wahl hatte, aber innerlich nicht dazu in der Lage war, eine für sich gute Wahl zu treffen. Wenn es schon den Privilegierten im Job so ging, dann war es auch kein Wunder, dass sich so viele Menschen, die tagtäglich ganz normale Jobs machten, wie in einem Hamsterrad fühlten. Ich hatte bereits Menschen aus allen möglichen Berufsgruppen gecoacht: Tischler ebenso wie Ärzte, Kfz-Mechaniker und Offiziere, Büroangestellte und Friseurunternehmer, Topmanager und Friedhofsgärtnerinnen. Selbst wenn das Leben wie ein riesengroßes, wunderbares Buffet vor ihnen ausgebreitet war, schienen sie nicht dazu in der Lage, sich einfach etwas davon zu nehmen. Niemand hätte sie daran gehindert, es hätte tausendundeine Möglichkeit gegeben, aber sie zogen es vor, innerlich unfrei und klein zu bleiben, egal welchen Beruf sie ausübten.
Mit diesem Gespräch im Flugzeug nach London begann meine akribische Suche nach dem, was wir da genau machen, wenn wir uns selbst blockieren, was in unserem Kopf vorgeht, das dazu führt, dass wir weit unter unseren eigentlichen Möglichkeiten an Sinn, Erfolg und Lebensqualität bleiben.
Mein Kollege Reinhard Sprenger sagt seit vielen Jahren zu Recht, wir hätten die Wahl, und eines seiner bekanntesten Bücher trägt den programmatischen Titel Die Entscheidung liegt bei dir!. Leichter gesagt als getan. Was mich an diesem Montagmorgen auf eine faszinierende Spur brachte, war diese eine Frage: Wie machen wir das, wenn wir denken, dass wir keine Wahl haben? Wie blockieren wir uns selbst? Wie machen wir aus unserer tatsächlichen Freiheit ein Leben voller kleiner und großer Unfreiheiten? Und wie werden wir dieses Denken wieder los? Wie kann es uns gelingen, uns innerlich davon zu befreien, um beruflich und persönlich endlich so zu wachsen, wie wir es wollen und verdient haben?
Auf meiner mentalen Expedition in die Welt unserer Selbstblockaden sind mir sechs Themen aufgefallen, die mir in Job-Coachings immer wieder begegnen.
Angst
Die meisten Menschen bewegt inmitten unserer Hightech-Welt im Job eine diffuse Angst. Angst davor, nicht zu genügen; Angst davor, den Anschluss zu verlieren; Angst davor, vielleicht sogar auf ganzer Linie zu scheitern, buchstäblich die eigene Existenz zu verlieren. In einer Welt, in der sich so vieles um Status, Geld, Konsum und äußerliche Perfektion dreht, in der scheinbar viele Menschen so smart sind und so mühelos reich werden, reduzieren wir unser in Wirklichkeit so filigranes, vielschichtiges und einzigartiges Leben auf diese eine Riesenfrage: Was muss ich tun, um alles richtig zu machen? Für viele beginnt ein ganz normaler Montagmorgen bereits mit dieser diffusen Angst im Bauch. Mit dem inneren Aufscrollen einer nicht enden wollenden To-do-Liste. Was muss ich noch erledigen? Wer könnte mir heute wieder auf die Füße steigen? Wann fliegt auf, dass ich längst nicht alles unter Kontrolle habe? Ich muss mich noch mehr anstrengen! Angst ist die Schwester von Druck. Und Sie ahnen sicher schon, dass beide schlechte Ratgeber sind.
Selbstzweifel
Andere zweifeln immer wieder an sich selbst. Sie haben das Gefühl, nicht gut genug zu sein, es vielleicht gar nicht verdient zu haben, ein glückliches, erfolgreiches...