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Über sich hinauswachsen

Neid und Eifersucht als Chancen für die persönliche Entwicklung

AutorVerena Kast
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783843606226
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Neid und Eifersucht sind verpönte Gefühle. Wir verdrängen sie daher gern oder projizieren sie auf andere. Doch dadurch bleiben sie eine Gefahr für unseren Selbstwert und unsere Beziehungen. Die renommierte Jung'sche Analytikerin Verena Kast legt überzeugend dar, dass wir eine große Chance für unsere Persönlichkeitsentwicklung ungenutzt lassen, wenn wir diese unangenehmen Gefühle leugnen. Sie ermutigt uns, den eigenen Neid, die eigene Eifersucht bewusst wahrzunehmen und sich mit diesen unangenehmen Gefühlen auseinanderzusetzen. Wenn wir diese Herausforderung annehmen, werden wir versöhnlicher und beziehungsfähiger. Wir lernen unsere Grenzen besser kennen und können eigene, vernachlässigte Potenziale entdecken.

Verena Kast, Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis, ist Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung- Institut Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Psychologie der Emotionen, Grundlagen der Psychotherapie, Interpretation von Märchen und Träumen.

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Leseprobe

Neidbiografien


Emotionen haben immer auch eine Geschichte in unserem Leben, deshalb hat jeder und jede auch eine Neidgeschichte. Unsere Geschichte, die wir mit dem Neid haben, ist keine schöne – aber eine wirkliche –; es geht um die Geschichte des Umgangs mit Mangel, Verzweiflung und der daraus resultierenden Hinterhältigkeit. Sie kann mehr oder weniger ausgeprägt sein. Anhand der folgenden Neidbiografien wird es möglich sein, die Psychodynamik des Neides noch differenzierter herauszuarbeiten.

Der verdeckte Neider


Helmut (der Deckname stammt von dem Mann selbst) ist 32 Jahre alt und meint von sich, er kenne Neid überhaupt nicht.

Helmut ist der Erstgeborene von zwei Söhnen, zunächst war er der ganze Stolz seines Vaters. Die Familie ist emotional sehr verschlossen, es werden wenig Gefühle gezeigt. Das wesentliche Grundthema der Familie ist: Man muss es allen recht machen. Es ist denn auch recht viel – uneingestandene – Angst in diesem Familiensystem auszumachen, Angst, es den anderen nicht recht zu machen, Angst zu versagen, Angst, nicht mehr angesehen zu sein. Der Vater hält sich für den besten Handwerker im Dorf, er ist ordentlich, und er arbeitet ordentlich. Helmut erinnert sich an einen Kernsatz seines Vaters: »Man muss halt der Beste sein.« Alle anderen, die das gleiche, vom Aussterben bedrohte Handwerk hatten, mussten ihre Betriebe schließen, nur der Vater konnte seinen Betrieb aufrechterhalten – deshalb war er nachgewiesenermaßen der Beste.

Drei Jahre nach Helmuts Geburt wurde sein Bruder geboren. Fast unmittelbar nach der Geburt wurde festgestellt – so meint Helmut sich zu erinnern –, dass dieser Bruder das absolute »Abbild« des Vaters sei, seinem Vater also wesentlich mehr gleiche als er, Helmut. Er erlebte, dass von einem Moment zum anderen sich »niemand mehr« für ihn interessierte, bloß »die Großmutter hat sich dann meiner erbarmt«. Offenbar musste Helmut eine Erklärung haben, warum das Interesse seines Vaters von ihm abgezogen wurde. Die Idee, dass der Bruder ein Abbild des Vaters sei, gibt eine Erklärung, die es Helmut möglich macht, den Verlust des Interesses nicht mit Schuldgefühlen zu verarbeiten – denn für diese Ähnlichkeit kann er ja nichts. Er ließ sich in der Folge von der Großmutter gebührend bewundern.

Die Veränderung in der Bedeutung der Beziehungspersonen ist auch anhand der vorhandenen Fotos nachweisbar. Sah man ihn vor der Geburt des Bruders meistens mit dem Vater und der Mutter auf einem Foto, in allen nur erdenklichen Situationen, selten nur mit den Groß­eltern, nach der Geburt des Bruders dann fast nur noch mit der Großmutter. Meistens steht er da als kleiner, sehr geschniegelter Bub, schön angezogen, die Haare am Kopf klebend – das ist natürlich auch die Mode einer gewissen Zeit –, neben ihm die Großmutter, und die beiden schauen sich auf vielen Fotos sehr liebevoll an. Fast wirken sie wie ein etwas ungleiches Liebespaar.

Ansonsten sagt Helmut von sich, er habe meistens allein gespielt, mit Kisten und Schachteln, die er jeweils zu Autos umfunktioniert habe. Seinen Bruder habe er nicht wirklich wahrgenommen, er habe ihn »übersehen«. Als er in den Kindergarten gekommen sei, habe er der »Tante« immer geholfen – so erinnert er sich. Die anderen Kinder fand er kindisch, außer einem Mädchen, für das er sich interessierte. Mit diesem Mädchen hätte er eine nähere Beziehung haben wollen, er bot ihr an, sie jeweils bei ihr zu Hause abzuholen. Sie lehnte ab mit den Worten, die er noch heute erinnert: »Mit dir laufe ich nicht in den ­Kindergarten, du gehörst nicht wirklich zu den Kindern.« Diese Zurückweisung traf ihn sehr – und er »übersah« in der Folge auch dieses Mädchen.

Im Schulalter wurde er der Liebling des Lehrers, die Großmutter spielte kaum mehr eine Rolle, außer dass sie die guten Noten bewundern durfte. Er versuchte, dem Lehrer dessen »Wünsche von den Augen abzulesen«. Er war ein guter Schüler, hatte aber immer den Eindruck, er müsse sehr viel dafür tun, er löste zum Beispiel jeden Tag Extraaufgaben, die er sich vom Lehrer geben ließ.

In der Klasse war auch ein Mädchen, das sehr begabt war, aber ohne größeren Ehrgeiz und ohne das Bestreben, sich durch spezielle Dienstfertigkeit besonders beliebt zu machen. Helmut erinnerte sich, dass sie über ganze Seiten »wie eine Sau« schrieb, weil sie nicht einsah, warum sie schön schreiben sollte. Dennoch übertraf sie ihn meistens in den Noten. Er kannte übrigens die Noten der Mitschülerinnen und Mitschüler – er war so etwas wie ein Notenkontrolleur. Dieses Mädchen beunruhigte ihn sehr. Er erinnert sich, dass er verschiedentlich versucht hatte, mit seinem Vater über diese Beunruhigung zu sprechen – er fühlte sich überfordert, denn wie viel Mühe er sich auch gab, sie überholte ihn immer –, lachend und ohne darauf besonders stolz zu sein, wie es ihm schien. Wenn er mit dem Vater darüber sprechen wollte, sagte dieser sehr rasch: »Ich hoffe, du bist doch der Beste in der Schule!« und: »Es wäre doch gelacht, wenn du dich von einem Mädchen überflügeln ließest.« Er blieb also mit seiner Not einer Überforderung allein, der Vater ließ es nicht zu, dass sich zwischen ihnen ein Wir-Gefühl aufbaute, das so wichtig gewesen wäre zur Stabilisierung seines Selbstwertgefühls.33 Es blieb nur die Möglichkeit, die Größenidee seines Vaters, der Beste zu sein, zu übernehmen. Diese Identifikation mit der Größenidee eines Elternteils spielt bei der Entwicklung des Neides eine große Rolle.

Eine weitere Gefahr drohte ihm von einem anderen Jungen. Dieser war auch sehr gut in der Schule und sozial viel erfolgreicher als Helmut. Er war es, der zum Beispiel die Fußballmannschaft zusammenstellte. Helmut wollte einmal auch mitspielen, war aber ungeschickt, wurde wieder weggeschickt mit den Worten: »Du bist sowieso Lehrers Arsch­leckerle.« Das Weggeschicktwerden, aber auch dieser Ausspruch kränkten ihn sehr. Er lief zum Lehrer, erzählte, wie übel es ihm ergangen war, machte den beneideten Mitschüler schlecht, erzählte aber nichts vom »Arschleckerle«. Der Lehrer meinte, er solle halt lernen, besser Fußball zu spielen. Diese Bemerkung enttäuschte Helmut zutiefst – sie bewirkte einen Einbruch in der Beziehung zu diesem Lehrer. Zum Glück – so sagt er – kam er eh bald zu einem anderen Lehrer. Von den gemeinsamen Spielen hielt er sich fern – er war doch nicht »so primitiv wie die anderen« – und verlegte sich aufs Lesen.

Er besuchte dann das Gymnasium. Er rivalisierte nicht mehr mit den anderen. Zwar wusste er immer noch über die Noten der anderen in etwa Bescheid, wusste oft auch – bevor es der betreffende Schüler selber wusste –, wer schlecht stand. Er selber war notenmäßig in einem mittleren Bereich, fühlte sich aber allen anderen haushoch überlegen.

Eine haushohe Überlegenheit gab es denn auch tatsächlich: Er entdeckte die Mädchen und hatte viele sexuelle Kontakte. Oft habe er drei und mehr Freundinnen gleichzeitig gehabt, sagte er. Das blieb natürlich nicht geheim – die Mädchen waren verletzt, wütend, traurig. Erst heute geht ihm auf, was er diesen Mädchen angetan hat, damals fand er sich einen »ganz tollen Hecht«. Er war auch ein ausgesprochen narzisstischer Neiderreger, er tat alles, damit seine Kollegen ihn mit den Mädchen sahen. Sie apostrophierten ihn als »ekelhaften Aufschneider«. Insgeheim waren sie aber doch sehr neidisch, ließen sich von ihm Ratschläge geben, wie man denn so beliebt werde bei den Mädchen. Bei den Müttern der Mädchen hatte er zunächst einen guten Ruf, er sei so anständig, so verantwortlich, so sauber. Diesen Ruf konnte er natürlich nicht sehr lange aufrechterhalten. Als sein Ruf endgültig ruiniert war, war die Zeit des Gymnasiums vorbei – er ging zum Studium in eine etwas fernere Stadt. Auffallend ist, dass er zu keinem dieser Mädchen eine längere Beziehung hatte – die längste hatte drei Wochen gedauert –, und er hatte auch keinen Freund.

Sein Bruder, der auch am Gymnasium war, wurde von Helmut als »minderbegabt« eingestuft, als einer, der nur den Fußball geliebt habe und »nur« technisch begabt sei. Helmut wollte immer seinem Vater beweisen, dass er den falschen Sohn mehr geliebt hatte.

Im Studium war er ein Einzelgänger, er kannte keine Neidprobleme, wusste aber auffallend gut Bescheid darüber, was bei seinen Mitstudenten und Mitstudentinnen schieflief. Im Übrigen wurde er zu einem Meister der Bewunderung; er entwickelte für sich eine Technik, durch die man sich »in Bewunderung hineinsteigern kann«. Durch seine Bereitschaft zu bewundern wirkte er wenig neidisch und war von vielen durchaus gern gelitten. Problematisch wurde es, als er sein Studium abschloss. Er hatte wesentlich weniger gute Noten als erwartet. Er rettete seinen Selbstwert zunächst, indem er die Ansicht vertrat, eigentlich sollten geniale Menschen nur von genialen Menschen geprüft werden. Damit idealisierte er sich selbst – er wäre eigentlich genial – und entwertete die Prüfer.

Der Zusammenbruch ereignete sich, als er für eine sich an sein Studium anschließende Spezialausbildung nicht zugelassen wurde. Er bat um ein Gespräch und sagte dem zuständigen Ausbildner, er wäre doch viel geeigneter als alle, die schon im Studiengang akzeptiert seien. Er lobte dann den Ausbildner, dass er ein so sorgfältiges Auswahlverfahren entwickelt hätte. Dadurch werde die Ausbildung noch wertvoller, noch attraktiver. Er beklagte sich aber auch, dass ausgerechnet bei ihm nun doch ein Irrtum unterlaufen sei, dass seine Qualitäten nicht gesehen worden seien. Der Ausbildner wollte wissen, wie er das denn eigentlich beurteilen könne. Daraufhin...

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