Unsere wahre Natur finden
In einer seiner Lehrreden spricht Buddha von den vier Arten von Pferden: dem ausgezeichneten Pferd, dem guten Pferd, dem schlechten Pferd und dem sehr schlechten Pferd. Das ausgezeichnete Pferd, so heißt es im Sutra*, bewegt sich schon, bevor die Peitsche seinen Rücken überhaupt berührt; der bloße Schatten der Peitsche oder das geringste Geräusch vom Kutscher reicht aus, um das Pferd anzutreiben. Das gute Pferd rennt bei der geringsten Berührung der Peitsche auf seinem Rücken. Das schlechte Pferd rennt erst, wenn es Schmerz empfindet, und das sehr schlechte Pferd rührt sich nicht von der Stelle, bis der Schmerz ihm nicht durch Mark und Bein gegangen ist.
Wenn Shunryu Suzuki in seinem Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist diese Geschichte erzählt, sagt er, daß seine Schüler, wenn sie diese Geschichte gehört haben, immer das beste Pferd sein wollen, daß es aber, wenn wir sitzen, im Grunde völlig gleich ist, ob wir das beste Pferd oder das schlechteste Pferd sind. Er sagt dann auch, daß das wirklich schlechte Pferd im Sinne der Übung dennoch das beste ist.
Was ich im Laufe meiner Meditationspraxis erkannt habe, ist, daß es nicht darum geht, das beste Pferd oder das gute Pferd oder das schlechte Pferd oder das sehr schlechte Pferd zu sein. Es geht vielmehr darum, unsere wahre Natur zu finden und aus dieser heraus zu sprechen und zu handeln. Was auch immer unsere besondere Eigenschaft ist, darin besteht unser Reichtum, unsere Schönheit; darauf reagieren andere Menschen.
Einmal hatte ich Gelegenheit, mit Chögyam Trungpa Rinpoche darüber zu sprechen, daß ich es nicht schaffte, meine Meditationspraxis richtig durchzuführen. Ich hatte gerade mit den Vajrayana*-Praktiken begonnen und sollte beim Üben visualisieren. Ich konnte aber überhaupt nichts visualisieren. Ich bemühte mich noch und noch, aber es tat sich überhaupt nichts; ich fühlte mich bei der Übung wie eine Betrügerin, weil sie mir so unnatürlich vorkam. Ich war ganz unglücklich, weil alle anderen offenbar alles mögliche visualierten und sich dabei anscheinend nicht schwer taten. Dazu sagte Rinpoche: »Ich bin immer mißtrauisch bei denen, die sagen, daß alles gut läuft. Wenn du meinst, es laufe alles gut, kommt das meistens von irgendeiner Art von Arroganz. Wenn es dir allzu leicht fällt, dann entspannst du dich zu sehr. Du bemühst dich nicht wirklich, und so erfährst du nie, was es bedeutet, voll und ganz Mensch zu sein.« Er ermutigte mich also, indem er mir sagte, daß man gut übt, solange man solcherlei Zweifel hat. Wenn man aber anfängt zu meinen, alles sei perfekt, und sich selbstgefällig und den anderen überlegen fühlt, dann ist Vorsicht geboten!
Dainin Katagiri Roshi erzählte einmal eine Geschichte über seine eigene Erfahrung, das schlechteste Pferd zu sein. Als er das erste Mal aus Japan in die Vereinigten Staaten kam, war er ein junger Mönch Ende zwanzig. Er war lange Zeit in Japan Mönch gewesen – wo alles sehr genau, sehr sauber, sehr ordentlich zugeht. In den U.S.A. waren seine Schüler lauter barfüßige Hippies mit langen, ungewaschenen Haaren und zerlumpten Kleidern. Er mochte sie nicht. Er konnte nichts dafür, aber er konnte diese Hippies einfach nicht ausstehen. Ihre ganze Art beleidigte ihn zutiefst. Er sagte: »Den ganzen Tag hielt ich also Vorträge über Mitgefühl, und abends ging ich nach Hause und heulte, weil ich erkannte, daß ich überhaupt kein Mitgefühl hatte. Weil ich meine Schüler nicht mochte, mußte ich viel härter arbeiten, um mein Herz zu entwickeln.« Wie Suzuki Roshi mit seinem Beispiel klarmacht, geht es um genau diesen Punkt: Wenn wir uns selbst in der Rolle des schlechtesten Pferdes wiederfinden, werden wir inspiriert, uns stärker zu bemühen.
In Gampo Abbey hatten wir einmal einen tibetischen Mönch, Lama Sherap Tendar, der uns beibrachte, wie man die tibetischen Musikinstrumente spielt. Uns standen 49 Tage zur Verfügung, um das Instrumentenspiel zu lernen; und wir sollten während dieser Zeit, so dachten wir, auch vieles andere lernen. Wie es sich aber herausstellte, taten wir 49 Tage lang zweimal am Tag nichts anderes, als zu lernen, wie man die Zimbel und die Trommel schlägt und wie man die beiden zusammen spielt. Wir übten und übten, jeden Tag. Wir übten allein, und dann spielten wir dem Lama Sherap vor, der immer dasaß und so eine kleine, gequälte Miene machte. Dann nahm er unsere Hände und zeigte uns, wie man richtig spielt. Dann machten wir es wieder alleine, und dann seufzte er immer. Und so ging es 49 Tage lang. Er sagte nie, daß wir es gut machten, aber er war sehr liebenswürdig und sehr sanft. Zum Schluß, als alles vorbei war und wir unser letztes Vorspiel gegeben hatten, prosteten wir uns gegenseitig zu und hielten kleine Reden, und dann sagte Lama Sherap: »Eigentlich habt ihr sehr gut gespielt. Ihr habt von Anfang an sehr gut gespielt, aber ich wußte, wenn ich euch sage, ihr spielt gut, dann bemüht ihr euch nicht mehr.« Er hatte recht. Er hatte eine so sanfte Art, uns zu ermutigen, daß wir deswegen keine Wut auf ihn bekamen und den Mut nicht verloren. Wir bekamen einfach das Gefühl, daß er wußte, wie man die Zimbel richtig spielt, daß er diese Zimbel seit seiner frühesten Jugend gespielt hatte und daß wir uns einfach weiterhin bemühen mußten. Während der 49 Tage arbeiteten wir also sehr hart.
In der gleichen Weise können wir auch an uns selbst arbeiten. Wir müssen nicht hart mit uns sein, wenn wir beim Sitzen das Gefühl haben, unsere Medition oder unser oryoki oder unsere Art, in der Welt zu sein, sei in der Kategorie des schlechtesten Pferdes. Wir könnten damit großes Mitgefühl haben und daraus die Motivation für unsere Bemühungen ziehen, uns weiterzuentwickeln, unsere wahre Natur zu finden. Dabei werden wir nicht nur unsere wahre Natur finden, sondern wir werden auch viel über andere Menschen lernen, denn im Grunde ihres Herzens kommen sich die meisten von uns wie das schlechteste Pferd vor. Vielleicht hältst du dich oder einen anderen für einen arroganten Menschen, aber jeder, der auch nur einen Augenblick lang Arroganz verspürt hat, weiß, daß sie nichts anderes ist als eine Tarnung für das Gefühl, daß man in Wirklichkeit das allerschlechteste Pferd ist, und der Versuch, ständig das Gegenteil zu beweisen.
In seinem Vortrag sagt Suzuki Roshi, daß die Meditation und der ganze Prozeß der Suche nach der eigenen wahren Natur eine einzige Kette von Fehlern ist und daß das kein Grund zur Depression oder zur Entmutigung sein soll, sondern vielmehr die Motivation zum Weitermachen darstellt. Wenn man sich in der Meditation beim Zusammensacken ertappt, ist das die Motivation, sich stärker aufzurichten, nicht, um das eigene Selbst schlechtzumachen, sondern vielmehr aus einem Gefühl des Stolzes auf alles, was einem widerfährt, aus Stolz darauf, wer man ist, so, wie man gerade ist, aus Stolz auf die eigene Güte oder Gerechtigkeit oder Schlechtigkeit – wie man sich eben vorfindet –, aus einem Gefühl heraus, daß man den Stolz nimmt und ihn einsetzt, um sich selbst anzuspornen.
Die Karma Kagyü-Übertragungslinie des tibetischen Buddhismus, in der die Schüler von Chögyam Trungpa ausgebildet werden, wird manchmal die »Übertragungslinie des Mißgeschicks« genannt wegen der Abenteuerlichkeiten, in die sich die weisen und ehrwürdigen Lehrer dieser Linie immer wieder stürzten. Am Anfang war Tilopa, der ein Verrückter war, völlig irre. Sein wichtigster Schüler war Naropa. Naropa war dermaßen intellektuell und verkopft, daß er zwölf Jahre des Zermalmens, der schwersten Prüfungen durch seinen Lehrer über sich ergehen lassen mußte, damit er überhaupt begann aufzuwachen. Er war dermaßen in der Begrifflichkeit gefangen, daß er immer, wenn jemand ihm etwas erzählte, erwiderte: »O ja, aber damit meinen Sie doch sicher dieses.« So funktionierte eben sein Kopf. Sein wichtigster Schüler war Marpa, der berüchtigt war wegen seiner schrecklichen Wutanfälle. Er geriet ständig in Rage und schlug und schrie auf Menschen ein. Überdies war er ein Säufer und auch dafür bekannt, unglaublich dickköpfig zu sein. Sein Schüler war Milarepa. Milarepa war ein Mörder! Rinpoche sagte immer, daß Marpa Schüler des Dharma wurde, weil er meinte, viel Geld machen zu können, indem er Texte aus Indien mitbrachte und sie ins Tibetische übersetzte. Sein Schüler Milarepa wurde Dharma-Schüler, weil er Angst hatte, in der Hölle zu landen, weil er Menschen umgebracht hatte.
Milarepas Schüler hieß Gampopa (nach ihm ist Gampo Abbey benannt). Weil ihm alles leicht fiel, war Gampopa arrogant. Hierzu ein Beispiel: Am Abend, bevor er Gampopa zum ersten Mal traf, sagte Milarepa zu einigen seiner Anhänger: »Morgen kommt einer, der dazu bestimmt ist, mein wichtigster Schüler zu werden. Wer ihn zu mir bringt, soll davon großen Nutzen haben.« Als Gampopa in der Stadt ankam, lief eine alte Frau, die ihn gesehen hatte,...