Teil I: Die Kunst des (Neu-)Anfangens:
Alles beginnt mit genau hinschauen
Manchmal wird bereits das »Anfangen« zu einem Stolperstein in einem Veränderungsprozess. Wie sich dies äußern kann und wie es auch dann möglich ist, auf gute Weise den (Neu-)Anfang zu finden, erfahren Sie in den folgenden drei Kapiteln.
1 »Wo fange ich hier nur an?!«
Bei zu vielen »Baustellen« einen guten Anfang finden
»Bist du in Eile, so geh langsam.«
Chinesisches Sprichwort
In diesem Kapitel geht es um Veränderungssituationen, die unübersichtlich sind und bei denen unklar ist, wo man am besten beginnt. Etwa, weil so vieles gleichzeitig ansteht, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht.
Je anspruchsvoller die Situation ist, desto wichtiger ist es, einen klaren Kopf zu bewahren und sich ans oben zitierte Sprichwort zu halten: »Bist du in Eile, so geh langsam.«
Doch wie kommt man zu einem »klaren Kopf«, wenn dieser so voll ist, wenn man von Herausforderungen überrollt wird und Handlungsbedarf besteht? Im Kern geht es darum, erst einmal nichts zu tun! Bzw. mental in einen Helikopter zu steigen und sich die Situation genau anzuschauen: Was ist hier eigentlich los? Und was ist jetzt in welcher Reihenfolge wichtig? Das schafft Überblick und fördert Ruhe im Kopf. So können Ideen entstehen, wo anzufangen ist. Dieses Kapitel handelt davon, wie dies gelingt.
»Wo fange ich hier nur an?!«
Herr Müller sitzt im Schlamassel: Seine Partnerin hat sich entschieden, sich von ihm zu trennen. Sie haben zusammen ein Geschäft. Für Herrn Müller bricht nicht nur eine Welt zusammen; er muss auch Wege finden, zu einer Wohnung, einer neuen Stelle zu kommen, Einkommen zu generieren. Er weiß nicht, wo anfangen. Er kontaktiert mich. Er ist überrumpelt, traurig, unter Druck, aber auch motiviert, das alles anzupacken – die Frage ist nur: Wo beginnen?
Das kann es immer geben: mehrere »Baustellen« gleichzeitig. Man hat etwa die Kündigung erhalten, die Hypothek aufs neue Haus erhöht den Stress, und nun kommt auch noch die Krankheitsdiagnose der Frau. Oder auch: Seit Längerem stapeln sich Unerfreuliches, Belastendes. So gibt es etwa gesundheitliche Beschwerden, in der Beziehung kriselt es, am Arbeitsplatz führt eine Umstrukturierung zu Überstunden sowie zur Ungewissheit, ob die eigene Stelle sicher ist. Manchmal sind die »Baustellen« nicht so klar benennbar; es macht sich ein diffuses Gefühl allgemeiner Unzufriedenheit breit. Eine innere Stimme sagt: »So kann es nicht weitergehen!«
Es ist sinnvoll, sich dann als Erstes ein Bild der Ausgangslage zu machen. Falls Sie sich gerade in einer solchen Situation befinden, können Sie dies anhand der Fragen in Abbildung 5 tun.
Die Ausgangslage klären: Mit welchen »Baustellen« habe ich es zu tun?
- Wie ist es zu dieser Situation gekommen?
- Was sind die wichtigsten Fakten?
- Haben die einzelnen »Baustellen« miteinander zu tun? Wenn ja: Wie? Gibt es einen »roten Faden«?
- Was haben Sie bisher unternommen? Resultat?
- Wo sind für Sie jetzt Lösungen am dringendsten?
In Abbildung 6 finden Sie einige Anhaltspunkte, wann es besonders ratsam ist, bei mehreren »Baustellen« sich Überblick zu verschaffen, um einen guten Anfang finden zu können. Vielleicht wollen Sie gleich überprüfen, ob es Bezüge gibt zu Ihrer Situation?
In komplexen Situationen einen guten (Neu-)Anfang finden: Anhaltspunkte, wann überlegtes Vorgehen besonders ratsam ist
- Sie sind atemlos am »Feuerlöschen«.
- Sie schleppen sich von Tag zu Tag.
- Innerer und / oder äußerer Druck, Lösungen zu finden, nimmt zu.
- Bisherige Lösungsstrategien haben nicht zu Verbesserung geführt, sondern zu »mehr desselben«.
- Sie spüren zunehmend Hilflosigkeit, Frustration, Panik, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Resignation.
- Sie fühlen sich zunehmend körperlich und / oder psychisch erschöpft, möglicherweise gibt es gesundheitliche Probleme.
- Sie können sich nicht vorstellen, dass es einen Ausweg gibt.
- Sie spüren: »Wenn ich so weitermache, tut mir das nicht gut.«
- Sie sind ratlos, wie Sie das alles (anders) anpacken sollen.
Im Kern sind es zwei Dinge, die Sie in solchen Situationen dazu veranlassen sollten, innezuhalten. In Abbildung 7 ist dies als Faustregel zusammengefasst. Trifft einer der Punkte bei Ihnen zu?
In komplexen Situationen einen guten (Neu-)Anfang finden:
☞ Faustregel
Es ist entscheidend, in komplexen Veränderungssituationen überlegt vorzugehen, wenn
- innerer und / oder äußerer Druck und Ratlosigkeit zunehmen;
- bisherige Strategien statt zu Verbesserung zu »mehr desselben« geführt haben.
Sich in komplexen Veränderungssituationen Zeit zu nehmen, um Überblick und Klarheit zu gewinnen, hat zum Ziel, dass Sie fokussiert Schritte machen können, die zu echter Verbesserung führen. Letztlich »sparen« Sie so Zeit und Energie und erhöhen wesentlich die Wahrscheinlichkeit, in ruhigere Gewässer zu kommen.
Dazu ist es hilfreich zu verstehen, was sich in solchen Situationen häufig abspielt und wo anzusetzen ist.
Hintergrund und Ansatzpunkt
Der Knackpunkt in Situationen, in denen plötzlich oder auch schleichend mehrere »Baustellen« darauf warten, angepackt zu werden, ist es meist nicht, dass es keine Lösungen gibt. Der Knackpunkt sind oft ungünstige Strategien. Häufig erschöpfen sich Menschen dann mit »Feuerlöschen« oder – umgekehrt – erstarren wie die Maus vor der Katz vor dem Vielen.
Im ersten Fall eilt man atemlos von »Baustelle« zu »Baustelle«. Das war zu Beginn auch die Strategie von Herrn Müller, von dem oben die Rede war: Er wollte eine Stelle suchen, doch wenn er sich daranmachte, einen Lebenslauf zu verfassen, dachte er plötzlich daran, dass er seinen Steuerberater anrufen musste, mit dem er die finanzielle Situation anschauen wollte. Er vereinbarte einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung, um kurz danach festzustellen, dass es eine Kollision gab mit einem Arzttermin. Er erwachte mitten in der Nacht und konnte nicht mehr einschlafen; in seinem Kopf wuchs die Liste, was er noch alles tun musste.
Im anderen Fall verharrt man im Unangenehmen. Man dreht sich etwa mental endlos darum, wie es nur so weit hat kommen können, und lähmt sich mit Zweifeln, ob man es je schaffen wird, aus dieser Misere hinauszukommen. Wie Herr P.: Der ist seit Längerem unglücklich in seiner Arbeit als Lehrer. Er braucht viel Kraft, um bei den immer unruhiger werdenden Schülern klar zu bleiben, Grenzen zu setzen. Die Gespräche mit Eltern, die immer mehr fordern, nerven. Dann der endlose Papierkram; immer mehr muss dokumentiert werden. Herr P. ist oft müde, spielt kaum mehr Klavier. Die Freunde kommen zu kurz. Mit seiner Frau gibt es praktisch nur noch ein Thema: die Schule. Und nun macht ihm ein Hörsturz zu schaffen. Er weiß, dass er etwas ändern muss, hat aber keine Idee, wo und wie anzufangen. Er kreist weiter um die unbefriedigende Situation.
Jeder kennt wohl solche Strategien. Gerade in komplexen Veränderungssituationen werden sie oft zum eigentlichen Problem. Statt dass sie zu guten Ideen, effektiven Lösungsschritten, Erfolgserlebnissen und positiven Wendungen führen, bewirken sie ein Kreisen an Ort und Stelle, rauben Kraft und Zuversicht und begünstigen auf Dauer Frustration, Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Versagensgefühle.
Wie kommt es dazu? Meist überlegt man sich nicht, warum man einer Situation so begegnet, wie man es tut. Man greift auf vertraute, gewohnte Sicht-, Denk- und Handlungsweisen zurück. Für den einen ist es die Flucht nach vorn; mit Aktivität, auch wenn sie wenig bringt, hat man zumindest zu Beginn das Gefühl, die Situation in den Griff zu bekommen. Für eine andere Person ist Verharren zur Gewohnheit geworden; so jemand macht sich über alles viele Gedanken, auch Sorgen, und findet nicht ins Entscheiden und Handeln. Wir haben aufgrund unserer Persönlichkeit, Geschichte, Erfahrungen meist während vieler Jahre unsere typischen Muster und Gewohnheiten entwickelt, wie wir Situationen begegnen Diese können durchaus einmal nützlich und sinnvoll gewesen sein. Doch gerade in Situationen, in denen es darum geht, vieles auf die Reihe zu bekommen, können sie produktives Handeln enorm erschweren.
Das Wesentliche ist nun: erkennen, wenn bisherige Strategien nicht zu Verbesserung führen. Das ist meist nicht so schwierig: Resultate und Befindlichkeit lassen zu wünschen übrig. Es gilt, sich einzugestehen: »So komme ich nicht weiter.« Punkt. Das Hamsterrad stoppen, in das man geraten ist. Und aussteigen. Nicht »mehr desselben« machen, was nicht vorwärtsführt: Nicht einen Zacken drauflegen und sich dabei Dinge einreden wie: »Es muss hier jetzt sofort eine Lösung geben.«, »Wenn ich mich noch etwas mehr anstrenge, wird es gelingen.«, »Nur noch diesen Monat, dann wird es ruhiger.«, oder auch »Wenn ich hier stoppe, bricht alles zusammen.« Auch nicht weiter graben in möglichen Ursachen, warum Dinge sind, wie sie sind, und sich verstricken in elende Gefühle. Stopp. Man muss noch nicht...