Einführung
Das erste Kapitel ist den Entwicklungsmöglichkeiten und vor allem den Chancen von Wachstum in den späteren Lebensphasen gewidmet. Diese zeigen sich in den Herausforderungen, die Wendezeiten uns anbieten. So können wir uns auf den verschiedensten Ebenen unserer Persönlichkeit verändern und neue Möglichkeiten ergreifen.
Für den Weg zur Reife nach fünfzig sind unsere besten Begleiter Ressourcen, die wir geschenkt bekommen, und solche, die wir im Laufe unseres Lebens ausgebildet haben. Sie helfen uns, Übergänge zu gestalten und die eigene Resilienz als Standfestigkeit verbunden mit Flexibilität einzusetzen. So können wir immer wieder neu die nötige Wachstumszuversicht entwickeln, eine Kraft, die uns erlaubt, unser eigenes Potenzial ins Leben zu bringen und einzusetzen. Diese Entwicklung ist immer ein ganzheitlich-leibhafter Prozess, in den alle Ebenen unserer Persönlichkeit einbezogen sind.
So vermögen wir das gelebte Leben zu integrieren – mit allen Umwegen und Krisen, die wir erlebt haben. Beides, Herausforderungen aus eigener Kraft zu bestehen sowie Hilfe anzunehmen, ermutigt uns, den Weg in die eigene Zukunft zu gehen und den persönlichen Reichtum zu erweitern und zu vertiefen.
Phasen von Wendezeiten – Wachstumsschritte im Leben
Von dem Mann, der sich schützen wollte
Es war einmal ein Mann, der wollte sich vor den Gefahren der Welt schützen. Er ließ sich eine eiserne Rüstung machen, die er immer anzog, wenn er nach draußen ging. Sie war ein bisschen schwer, und er wurde müde beim Gehen, aber er fühlte sich sicher in der Rüstung. Allein, die Zeiten wurden schlechter und der Mann beschloss, die Rüstung auch im Haus zu tragen. Er legte sie nur noch nachts ab und hängte sie dann an einen Nagel über seinem Bett. Eines Nachts wurde die Rüstung dem Nagel zu schwer. Er fiel von der Wand, und die Rüstung erschlug den Mann.
Elisabeth Schlumpf
Wendezeiten sind wichtige Wachstumschancen: Wir entwickeln uns weiter, indem wir Aspekte unserer Persönlichkeit, die nicht mehr so wichtig sind wie in früheren Phasen, in den Hintergrund treten lassen, um neue Persönlichkeitsschichten zu kreieren und in den Vordergrund zu rücken. Wenn wir versuchen, uns Veränderungen und damit persönlichem Wachstum zu entziehen, verpassen wir vielleicht Qualitäten unseres Lebens, wie es die Geschichte am Anfang des Kapitels Von dem Mann, der sich schützen wollte zum Ausdruck bringt. Es ist eine natürliche Funktion, uns zu schützen – sowohl gegen Einflüsse von außen wie auch von innen. Ein perfekter und lückenloser Schutz jedoch ist, wie in der Geschichte, tödlich. Durch einen solchen Schutz schottet sich eine Person zunehmend ab und opfert die eigene Lebendigkeit. Die Geschichte lässt sich auch wie ein Traum interpretieren und zeigt vielleicht, dass jemand oder wir selber immer mehr erstarren– symbolisiert in der Rüstung. Wenn wir uns auf uns selbst und unsere Entwicklung einlassen wollen, geht es aber genau darum, unseren Schutz ein wenig abzubauen, weicher werden zu lassen, um uns mit dem, was in uns auftaucht, zu empfangen, willkommen zu heißen. In den späteren Jahren wird dies besonders wichtig.
Erfüllung im Leben hängt zu einem großen Teil davon ab, dass wir uns auf Wandlung und Wachstum einlassen.
Wendezeiten und Wandlungen im Leben sind also der Schlüssel zu unserer Entwicklung und zu unserem persönlichen Wachstum. Immer wieder – beispielsweise in Mythen und Träumen – werden sie in Bilder von Stirb und werde gefasst. Der Philosoph und Psychologe Erich Fromm drückte dies sehr pointiert aus: Leben bedeutet, jede Minute neu geboren zu werden.
Es kommt im ganzen Leben und ganz besonders in den Phasen der zweiten Lebenshälfte darauf an, dieses Stirb und werde zu vollziehen.
»Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.«
J. W. Goethe2
Doch was hat es mit diesem Stirb und werde auf sich? Ist es nicht etwas Beunruhigendes, vielleicht auch Bedrohliches, dem man ausweichen sollte? In unserer Gesellschaft haben wir es ständig mit von außen kommenden Veränderungen auf den verschiedensten Ebenen zu tun, müssen uns immer wieder anpassen, sollen flexibel bleiben. Schon dies sind große Herausforderungen, die auch Angst wecken mögen. Doch Wandlungen bedeuten nicht nur Anpassung, sondern Wachstumsschritte, die unsere Persönlichkeit berühren. Altes und Gewohntes will verabschiedet werden, damit Neues Gestalt annehmen kann – stirb und werde. Ohne Unsicherheit gibt es kein Wachstum.
Dies ist eine Entscheidung, die wir immer wieder neu treffen müssen: Wage ich es, gewohnte Wege zu verlassen und mich auf die sich ergebende Unsicherheit einzulassen? Vertraue ich dem Leben genügend, dass ich das, was mir entgegenkommt, nicht im Vorhinein definieren und werten muss, sondern aufnehmen kann, was kommt, Hoffnung bewahre, anstatt das Lebendige und Aufblühende um mich und in mir selber zu beschneiden, weil es auch Risiko und Unsicherheit gibt, denen wir ausgesetzt sind? Ein hawaiianisches Sprichwort bietet eine Perspektive, wie man mit dem Leben umgehen kann, wenn man sich ihm öffnet:
Preise die Gegenwart,
vertrau dir selber,
erwarte das Beste.
Den Wendezeiten, den Zeiten von Wandlung, liegt eine gemeinsame Dynamik zugrunde, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde:3
Gewohnte Form | Enden | Mittelphase | Neuformung |
Vertrautheit | Abschied | Fremdheit | Vertrautwerden |
Gewohnheit | Ablösung | Unbekanntheit | Gewöhnung |
Sicherheit | Risiko | Unsicherheit | Einübung |
Für diese Dynamik möchte ich zunächst ein Bild anbieten, das zum Verständnis beitragen mag:
Stellen Sie sich vor, dass Sie per Schiff auf eine große Reise auf dem Meer gehen. Bis jetzt waren Sie auf dem Land und konnten sich sicher fortbewegen. Nun haben Sie den Entschluss gefasst, eine Reise ins Unbekannte zu unternehmen. Vielleicht machen Sie sich auf zu einem neuen Kontinent oder zu einer Insel. Sie nehmen Abschied von den Menschen, vom Land, das Ihnen vertraut ist. Vielleicht drehen Sie sich noch einige Male um und winken, bevor Sie mit Ihrer Crew die Segel hissen und auslaufen. Da sind vielleicht Wehmut, Abschiedsschmerz und auch Neugier und Entdeckerlust.
Dann wird die Küste langsam versinken, und irgendwann befinden Sie sich auf hoher See. Das vertraute Ufer ist nicht mehr sichtbar und das neue noch nicht in Sicht. Vielleicht kommen nach strahlendem Wetter auch Stürme auf, und Sie wissen kaum weiter und bekommen Angst, kämpfen gegen die tobenden Wellen. Oder der Autopilot fällt aus und Sie müssen allzeit selber wachen und das Schiff steuern. Mag sein, dass Sie sich nach den Sternen richten und sie nach dem Weg fragen. Sie sind unsicher.
Tage und Nächte vergehen. Sie können sich kaum vorstellen, dass die Reise einmal enden wird, Verzweiflung und Ohnmacht tauchen auf, dann gibt es wieder Hoffnung, Vertrauen in den inneren Kompass.
Irgendwann taucht ein schmaler Streifen am Horizont auf. Eine neue Perspektive öffnet sich: »Land in Sicht!« Sie segeln zur unbekannten Küste, wissen nicht, was genau Sie erwartet. Ihre Geschicklichkeit ist gefragt, all Ihre Fähigkeiten, die Sie schon erworben haben, und solche, die Sie eben jetzt erlernen. Es wird Zeit brauchen, an Land zu gehen und sich mit dem Neuen vertraut zu machen …
Immer wieder verändern wir die bisher vertraute und gewohnte, Sicherheit bietende Form unserer Lebensmuster und unserer Lebensgestaltung. Es gilt, von ihnen Abschied zu nehmen und das Risiko, das mit dem Verlust von Sicherheit zusammenhängt, anzunehmen. Die Mittelphase oder der Mittelgrund 4, in welcher die alte Form nicht mehr und die neue noch nicht da ist, bringt Fremdheit und Unsicherheit, aber auch Neugier und Entdeckerlust mit sich....