Prolog
«Ich glaube, das Schlimmste ist vorbei»
Rätselhafte Anschläge und ein jungenhafter Sektenführer
Die Belagerung von Kano, die Nigeria erschüttern sollte, lief schockierend schnell ab: Junge Männer sprengten sich in mit Bomben beladenen Autos in die Luft, schleuderten mit Sprengstoff gefüllte Getränkedosen durch die Gegend und erschossen Polizisten mit Kalaschnikows – und das innerhalb nur weniger Stunden. Doch für Wellington Asiayei spielte sich das Grauen im Zeitlupentempo ab.
Es war ein Freitag in Kano, der größten Stadt in Nigerias überwiegend muslimischem Norden. Die Gebetsstunde in den Moscheen war zu Ende gegangen, und die Gläubigen waren hinaus auf die Straßen geströmt, auf denen mitten in der Trockenzeit wegen der Nähe zur Sahara eine dicke Staubschicht lag. Die Bewohner der überfüllten, alten Metropole waren unterwegs nach Hause. Sie manövrierten sich durch den Verkehr oder stiegen auf den Rücksitz von Motorradtaxis, die sich zwischen den Autoschlangen hindurchlavierten. Im Polizeihauptquartier in einem Viertel namens Bompai beendete Wellington Asiayei seine Arbeit und machte sich auf den kurzen Weg zu seinem Zimmer in der Kaserne, um sein Abendessen zuzubereiten.
Als der achtundvierzigjährige stellvertretende Polizeichef sein Zimmer erreichte, hörte er Explosionen. «Alle in der Kaserne rannten um ihr Leben», erzählte mir Asiayei drei Tage nach den Anschlägen vom 20. Januar 2012. Die Kaserne war bald leer, doch trotz des Durcheinanders wollte er noch schnell die Tür zu seinem Zimmer abschließen, bevor er floh. Da fiel ihm ein junger Mann in den Zwanzigern auf, der eine Polizeiuniform trug und eine Kalaschnikow in den Händen hielt. Asiayei wusste, dass Mitglieder einer bestimmten Abteilung der Polizei oft dazu eingeteilt wurden, die Kasernen zu bewachen, und nahm an, der junge Mann gehöre zu ihnen. Er brüllte ihm zu, dass sie beide zum Hauptquartier laufen sollten. «Ich sah, wie er das Gewehr hob und auf mich richtete, und dann war es schon passiert.»
Der erfahrene Polizist, der immer noch versuchte zu begreifen, was los war, spürte, wie etwas, das sich wie eine Gewehrkugel anfühlte, seinen Körper durchbohrte. Er fiel zu Boden, mit dem Gesicht nach unten. Unter ihm sammelte sich Blut. Er wusste nicht, wohin der junge Mann mit dem Gewehr als Nächstes ging. Er blieb mit dem Gesicht nach unten so lange dort liegen – es kam ihm wie Stunden vor –, bis eine Gruppe von Frauen ihn auf ihrem Weg durch die Kaserne entdeckte und seinen Vorgesetzten alarmierte, der seine Rettung veranlasste. Asiayei überlebte und lag drei Tage später zwischen unzähligen anderen Opfern derselben Anschlagsserie in einem völlig überfüllten Raum eines Krankenhauses in Kano. Die Kugel hatte sein Rückgrat und seine Lunge verletzt. Er konnte nicht mehr gehen.
Als auf Asiayei geschossen wurde, war eine beispiellose Belagerung von Nigerias zweitgrößter Stadt im Gange. Dutzende oder vielleicht Hunderte von jungen Männern, von denen etliche eine Polizeiuniform trugen, schwärmten in die Stadtviertel von Kano aus, ohne Erbarmen mit ihren Opfern. Ziel des ersten Anschlags war ein regionales Polizeipräsidium, vor dem sich ein Selbstmordattentäter mit seinem Auto in die Luft sprengte, wobei ein Großteil des Hausdaches weggerissen wurde. Die Explosionen, die dann in der Stadt zu hören waren, ließen sich kaum noch zählen. Bewohner von Kano sagten, es seien mehr als zwanzig gewesen, doch nach der Menge der nicht explodierten selbstgebastelten Bomben zu urteilen, die die Polizei später entdeckte, könnte dies stark untertrieben sein. Ein Arzt, der half, die Verwundeten zu behandeln, sagte, mindestens ein Haus sei durch die Wucht der Explosionen eingestürzt. Zeugen und die Polizei berichteten, die Angreifer seien auf Motorrädern, in Autos und zu Fuß unterwegs gewesen. Unter ihnen befanden sich mindestens fünf Selbstmordattentäter. In einem Viertel warfen sie selbstgebastelte Bomben auf ein Passamt und eröffneten das Feuer. Sie griffen auch eine nahe gelegene Polizeistation an und zerstörten sie vollständig: Das Blechdach des Gebäudes stürzte ein, im Inneren brannte es, die davorstehenden Autos waren von Ruß geschwärzt. Gewehrschüsse krachten, Leichen wurden im Leichenschauhaus des größten Krankenhauses der Stadt aufeinandergestapelt oder bis zum nächsten Morgen auf den Straßen liegen gelassen. Die offizielle Zahl der Todesopfer belief sich auf 185, doch wurde allgemein vermutet, dass mindestens 200 Menschen ihr Leben verloren. Es war der bis dahin schwerste Anschlag der islamistischen Terrorgruppe, die als Boko Haram bekannt geworden ist.
Dieser Anschlag ereignete sich lange vor der Entführung von fast 300 Mädchen aus ihrer Schule im Nordosten Nigerias, eine Gräueltat, die die Aufmerksamkeit der Welt auf einen Aufstand lenken sollte, der bereits eine so entsetzliche Spur der Zerstörung hinterlassen hatte, dass so mancher sich fragte, ob Nigeria auf einen weiteren Bürgerkrieg zusteuere. Um zu verstehen, wie es zu den Entführungen kam, muss man wissen, was in Kano geschehen ist. Und um das zu begreifen – die in den Straßen liegenden Leichen und eine Polizei, die nicht in der Lage war, eine Bande marodierender junger Männer aufzuhalten, die Selbstmordattentate verübten und ein entsetzliches Blutbad anrichteten –, um das Massaker von Kano zu begreifen, muss man weiter in die Vergangenheit zurückblicken. Man muss nicht nur die Gründung von Boko Haram betrachten, sondern auch die komplizierte Geschichte Nigerias und des Islams in Westafrika sowie die tiefverwurzelte Korruption, die den größten Ölproduzenten, die größte Volkswirtschaft und das bevölkerungsreichste Land Afrikas an jeglicher Entwicklung gehindert hat, sodass die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor in bitterer Armut lebt. Man muss sich mit der Kolonisierung und den kulturellen Unterschieden zwischen dem Norden und dem Süden Nigerias beschäftigen, mit der Brutalität seiner Sicherheitskräfte und den Auswirkungen der Ölfunde auf seine Wirtschaft. Doch vor alledem ist es vielleicht am besten, mit einem charismatischen, jungenhaften Mann namens Mohammed Yusuf und einer Episode zweieinhalb Jahre vor den Anschlägen in Kano zu beginnen.
In einem Video aus dem Jahr 2009 entfaltet Yusuf seine Argumentation. Die Menge vor ihm ist nicht zu sehen, aber man hört sie zustimmend grölen. Yusuf beschreibt eine Konfrontation zwischen Sicherheitskräften und seinen Anhängern, die sich auf dem Weg zu einer Beerdigung befanden, attackiert schon bald aufs Heftigste die Soldaten und die Polizei und beschuldigt sie, Mitglieder seiner Sekte erschossen zu haben. Es ist Zeit, so Yusuf, zurückzuschlagen und so lange zu kämpfen, bis sich die Sicherheitstruppe zurückgezogen hat, die seiner Meinung nach darauf angesetzt wurde, ihn und seine Leute zu verfolgen.
«Es ist besser, die ganze Welt wird zerstört, als das Blut eines einzigen Muslim vergossen», sagt er. «So, wie sie unsere Brüder auf ihrem Weg niedergeschossen haben, werden sie eines Tages zu unserer Zusammenkunft kommen und das Feuer eröffnen, wenn wir diese Sache ohne Widerstand hinnehmen.»[1]
Yusuf war damals Ende dreißig und der Führer der Gruppe, die als Boko Haram bekannt geworden ist. Einige hielten ihn für einen zaudernden Kämpfer, der sich damit zufriedengab, mittels Predigten neue Sektenanhänger zu gewinnen, doch die Brutalität der Sicherheitskräfte und der Druck seines blutrünstigen Stellvertreters Abubakar Shekau, eines unheimlich wirkenden bärtigen Mannes, drängten ihn zur Gewalt. Es ist der Mann, der später in einem Video damit drohte, die entführten Mädchen auf dem Markt zu verkaufen. Nicht lange nach der Aufnahme des Videos von 2009 war Yusuf tot.
Yusufs Anhänger folgten seinem Aufruf, sich gegen Nigerias korrupte Regierung und die Sicherheitskräfte zu erheben, und begannen mit Anschlägen auf Polizeistationen im Norden des Landes. Die Reaktion des nigerianischen Militärs, das nicht gerade für seine Zurückhaltung bekannt ist, ließ nicht lange auf sich warten. Im Juli 2009 rollten Panzer durch die Straßen der im Nordosten gelegenen Stadt Maiduguri in Richtung jener Moschee, die das Hauptquartier von Boko Haram bildete. Sobald sie in Schussweite waren, eröffneten die Soldaten das Feuer. Es folgten heftige Kämpfe, bei denen die Soldaten von der Moschee nur Schutt, Asche und verbogenes Metall übrig ließen und in deren Umkreis stehende Autos in Brand steckten. In jenen fünf Tagen der Gewalt starben 800 Menschen, die meisten von ihnen Boko-Haram-Mitglieder. Sicherheitskräfte behaupteten, Yusufs Stellvertreter Shekau befinde sich unter den Opfern, was sich jedoch schon bald als falsch erweisen sollte. Yusuf selbst überlebte den brutalen Angriff. Er versteckte sich in einer Scheune, wurde aufgespürt, festgenommen und der Polizei übergeben, die ihn erschoss.
Noch heute, Jahre später, sind an der Stelle, wo einst die Moschee stand, deren Trümmer zu sehen. Shekau hat wiederholt auf YouTube oder Videos, die an Journalisten verteilt wurden, den Westen und die Regierung Nigerias angeprangert, und Boko Haram, die ehemals...