Autofahren nach Norden
Ich komme immer so schwer los, wenn ich im Hausflur meinen Nachbarn treffe. Er war vor der Wende kein Freund der DDR und hat aus Bettlaken für Mitschüler USA-Victory-Zeichen genäht. Aber das Leben im Kapitalismus setzt ihm so zu, dass er zu seinem Schrecken sogar schon beim Hören einer Ostrock-CD sentimental wird, Musik, die man damals aus Prinzip verachtete. Er hat seine Arbeit als Filialleiter einer Buchkette gekündigt, weil er das niveaulose Sortiment und die Gehirnwäsche in den regelmäßigen Marketingschulungen nicht mehr ertrug. Dafür hat er jetzt kein Geld. Ich habe einige Freunde, die wie er dem Osten nicht nachweinen, aber mit dem Westen nicht warm werden. Mein Nachbar erzählt mir, dass er die Unterlagen seiner ersten Wohnung in Pankow gefunden hat, für die er damals 21 Mark Miete zahlen musste; heute geht das ganze Geld, das er verdient, für Miete und Heizung drauf. Sein einziger Trost: wenn der FC Bayern mal verliert.
Wie schön ist es immer, am Alexanderplatz vorbeizufahren, aber es ist jedes Mal ein Abschiedsbesuch, denn seit der Wende wird über neue Wolkenkratzer geredet, also vor allem über Abriss. Sogar das schöne Haus des Reisens soll fallen. Über die unmenschlich großen Freiflächen würden sibirische Winde pfeifen, die »sozialistische Einschüchterungsarchitektur« müsse dringend auf traditionelle Blockrandbebauung umgestellt werden. Die ästhetischen Argumente sind für mich reine Folklore, man könnte ja darüber diskutieren, aber in Wirklichkeit geht es um Geld. Der Plattenbau neben dem Berliner Verlag gilt der BZ als größter Schandfleck von Berlin. Wenn das so ist, wünsche ich mir mehr Schandflecken, immerhin kann man dort im Zentrum einer europäischen Hauptstadt noch günstig wohnen. Ich habe mich an den Bau gewöhnt, und dass heute so nicht mehr gebaut würde, macht ihn für mich interessant. Da es im Osten keine wirkliche Öffentlichkeit gab, haben Gerüchte immer eine große Rolle gespielt. Von diesem Haus hieß es, dass in der einzigen Wohnung, die an der seitlichen Fassade ein zusätzliches Fenster hatte, Honeckers Tochter wohnte, was natürlich nicht stimmt, da sie ja in der Leipziger Straße ihre Wohnung hatte, das Fenster erklärt sich durch die Konstruktion des Hauses. Reicht so eine Geschichte, um das Haus unter Denkmalschutz zu stellen? Rechts daneben steht das ehemalige Presse-Café, heute »Escados«. Es hatte bis zur Wende einen bunten Wandfries von Willi Neubert, der inzwischen in Thale, wo er vor seiner Zeit als Künstler in den Eisen- und Hüttenwerken gearbeitet hat, wieder geschätzt wird. Der Emailfries wurde übrigens nicht abgenommen und ist unter der Verkleidung noch vorhanden. Vielleicht nur eine listige Form von Konservierung?
In Neuruppin fahre ich von der Autobahn auf die Landstraße, Dörfer mit Feldsteinkirchen. Hier sind die Häuser viel weniger bunt renoviert als zwischen Berlin und Frankfurt (Oder). Überall gibt es interessante Technikmuseen, in Kyritz ein Agrarflugmuseum, in Lindenberg ein Kleinbahnmuseum. In Perleberg ist neulich von der Polizei ein Multicar angehalten worden, das seit der Wende mit DDR-Kennzeichen gefahren ist. Es gibt ein DDR-Museum, an der Fassade hängen zwei Mauersegmente und der etwas seltsame Spruch: »Den Opfern zum Gedenken 1945 1989« – »Das Wunder vom Herbst 1989. Wir sind das Volk – das Volk sind wir!« Man müsste mal eine Datenbank aller noch erhaltenen Mauersegmente erstellen. Ich kenne sogar eines in einem Friedrichshainer Hinterhof, niemand weiß, wie es dort gelandet ist. Warum war ich noch nie in Perleberg? Ein Busfahrer in Moskau hat mir, als er hörte, dass ich Deutscher bin, einmal gesagt, dass er dort gedient habe. Auf einem zentralen Platz finde ich einen russischen Soldatenfriedhof mit dem roten Stern. Ich freue mich, dass ich inzwischen die russische Inschrift lesen kann; in der Schule wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen, aber jetzt, wo ich freiwillig Russisch lerne, liebe ich diese Sprache. Dann fahre ich im Dunkeln weiter, und ich sehe Irrlichter am Himmel, Dutzende blinkende rote Punkte, das sind Windräder, der einzige Wirtschaftszweig, der in manchen östlichen Regionen noch floriert.
Schwerin
In Schwerin suche ich nach einem preiswerten Hotel und lande am Hauptbahnhof. Parken ist nicht so einfach, früher gab es die Parteileitung, heute das Parkleitsystem. Im Innenbereich des Hotels ist alles rosa überlackiert. Drei Uhren im Flur zeigen die Zeit von Tokio, Schwerin und New York. Auf Leinen gezogene Fotos von Schwerin schmücken das Treppenhaus. Ein Stadtplan auf Lackpapier liegt im Zimmer bereit, außerdem eine Werbebroschüre für »Gyulova Rakiya«, Rosenschnaps aus Kazanlak in Bulgarien. »Die Liebe zum Leben entfachen! Schenke ihm nur einen Blick und brich das Eis, tobe mal wild herum! Ein einmaliger feiner Geschmack und dezenter Duft, die die Seele dazu treiben, das Eis zu brechen, in der Unordnung Ordnung zu stiften! Oder gerade das Gegenteil? Unwichtig! Mit jedem weiteren Schluck wird die Existenz des Offensichtlichen verleugnet, des Nicht-Existierenden – bestätigt! Das Geheimnis bleibt ungelüftet. Das Getränk wird heutzutage von einer einzigen Person hergestellt, die auch das Herstellungsrezept streng geheim hält. Das Getränk wird aus vorsichtig erlesenen Blättern der Ölrose hergestellt.«
Mein Verdacht bestätigt sich, als die Rezeptionistin am Telefon bulgarisch spricht, manchmal flicht sie auch deutsche Wörter wie »Hüftspeck« ein. Gibt es das Wort bei ihnen nicht? Ich bin in einem bulgarischen Hotel! Ich war oft genug in Bulgarien, um diesen speziellen Kitsch zu erkennen und zu schätzen. Bestimmt kann sie auch wahrsagen! Im Restaurant gibt es Kebaptscheta, Kjufteta, Schweineleber »Dorf Art«, Schopska-Salat. Ein bulgarisches Hotel in Deutschland scheint mir eine gute Idee, dann muss man nicht so weit fahren im Urlaub. Ähnlich geht es mir immer im tschechischen EC nach Dresden, wenn im Restaurant »behmische Biere« angeboten werden. Eigentlich sollten in Deutschland nur ausländische Züge verkehren, dann wäre man bei jeder Fahrt in den Ferien.
Am Pfaffenteich eine Eisbahn. Silvestermüll liegt noch rum. Von Stephan Horotas Skulptur »Schirmkinder«, die es auch in Berlin an der Danziger Straße gibt, steht nur noch der Sockel. Aber diesmal waren es keine Altmetalldiebe, sie musste dem Weihnachtsmarkt weichen. Dafür ist hier vor Kurzem eine Schliemann-Skulptur zersägt worden. Obwohl es jetzt so viel Wachschutz gibt. »Dieses Objekt wird bestreift durch …«, schreiben sie auf ihren Hinweisschildern. In der Friedrichstraße mehrere Trödelläden. Im Schaufenster sehe ich das rote Maßband aus dem Sportunterricht, das die Sportbefreiten immer ausrollen durften. Die Holzkegel, mit denen auch die Jungen durch die Turnhalle tänzeln mussten. Die ganz Coolen spazierten einfach durch und holten sich eine 5 ab. Eine Flasche Bärenblut hat es auch in den Trödelladen geschafft. Wer sich die schon alles aufgespart hat?
Hoffentlich kaufe ich das nicht gleich alles. Eigentlich bin ich ja in Schwerin, um eine der westlichsten Lenin-Statuen Europas zu finden (die westlichste dürfte ein 9 Meter hoher Lenin aus Merseburg sein, den ein holländischer Unternehmer 1997 auf sein Firmengelände in Nieuweschans geholt hat). Im Laden gegenüber gibt es sogar ein Augenmodell aus dem Biounterricht. Beim Reingehen merke ich, dass ich beim Trödler immer unbewusst anfange, unschuldig vor mich hin zu summen, um nicht als Kenner aufzufallen und die Preise hochzutreiben. Das Augenmodell kostet 100 Euro! Ich nehme zwei kleine Plaste-Ikarus-Busse, den alten 66er, der noch die Form einer Zigarre hatte, und den 260er, ein Emblem meiner Kindheit. Der Ikarus 260 ist für mich einer der schönsten Busse, die es je gegeben hat. Warum sie wohl Ikarus hießen? Der Aussteigeknopf war oben über der Tür angebracht, sodass man als Kind nicht ranreichte. In der DDR fuhren mal 30 000 Ikarus-Busse, inzwischen ziehen sie sich, wie Elefanten, an den Ort ihrer Geburt zurück, um dort zu sterben, deshalb sieht man in Budapest noch so viele davon. Die aus Kuba kommen nicht über das Meer.
Was kostet denn der Roller, frage ich? (Mit Trittbremse und Klingel!) Den könne er nicht verkaufen, da renne seine Tochter immer gleich hin, wenn sie ihn im Laden besuche. Es gibt ein Blechauto, Ferrari aufgedruckt; das ging in der DDR, 50 Prozent der Spielzeugproduktion wurde ja exportiert. Sehnsüchtig gucke ich einen Plastekipper an. Wie schön unser Spielzeug war, aber wir haben es nicht zu schätzen gewusst und nach LEGO und Playmobil verlangt. Ich kaufe zwei Holzschweine, am Hintern ein Pfropfen, da gehören Salz und Pfeffer rein, eine Menage. Das hätten die Omas nach dem Krieg gehabt, sagt er. Zwei Postkarten von »Bild und Heimat Reichenbach«, »echt Foto« steht drauf, ein Zeppelin über Stralsund und eine Badeanstalt. Er wickelt mir alles in die Bildzeitung ein. »Bild und Heimat« eben.
Ein Schaukasten wirbt für eine Hoop-Manufaktur, die auch Kurse anbietet. »Jeden Sonntag treffen wir uns, um gemeinsam DURCHZUDREHEN.« Man könne die Gruppe auch für Heiratsanträge mieten. Hula-Hoop war in der DDR mal als westlich-dekadente Unkultur verpönt wie Kaugummis, bedruckte Nickis, Petticoat, Comics und später die Jeanshose. Ich knipse übrig gebliebene Fahnenhalter an den Fensterbrettern und über den Hauseingängen; daran erkennt man, dass man im Osten ist. Bei der Fußball-WM werden sie jetzt für Deutschlandfahnen genutzt. Sie eignen sich aber auch gut als Abschussrampe für Silvesterraketen. Die Altstadt ist renoviert worden, viele der Häuser und viele Fassadendetails hätten im Westen den autogerechten Stadtumbau der betonseligen 60er-...