Vorwort
„Wahrnehmung des Musters ist der Weg zur Befreiung von ihm.“ (▶ [35], S. 5)
Die Idee, ein Buch über die Kummermittel in der Homöopathie zu schreiben, entstand während der Beschäftigung mit meinen Patienten und ihren seelischen Nöten. Viele kommen vordergründig wegen körperlicher Beschwerden wie Migräne, Neuralgien, Schlafstörungen, Menstruationsbeschwerden, Chronischem Erschöpfungssyndrom, Fibromyalgie, Infertilität und vielem mehr. Im Anamnesegespräch wird aber schnell klar, dass ein tiefer Kummer hinter dem physischen Leid steckt und dass dieser die eigentliche Pathologie darstellt: das zu Heilende. Bei der Fallaufnahme und der anschließenden Repertorisation steht meist Natrium muriaticum ganz vorne, bedingt durch die einschlägigen Rubriken, in denen das Mittel hochwertig vertreten ist:
Gemüt – Beschwerden durch – Enttäuschung
Gemüt – Beschwerden durch – Grobheit anderer
Gemüt – Beschwerden durch – Kränkung, Demütigung
Gemüt – Beschwerden durch – Liebe; enttäuschte
Gemüt – Kummer, Trauer – lang anhaltend
Gemüt – Kummer, Trauer – still
Gemüt – Kummer, Trauer – Liebe; aus enttäuschter
Gemüt – Verweilt – vergangenen unangenehmen Ereignissen; bei
Als umfassend geprüftes Polychrest mit 11.686 Einträgen in Radar 10.5.003 deckt das potenzierte Kochsalz auch zahlreiche körperliche Symptome ab, sodass ich oft geneigt war, einer Patientin mit anhaltendem Kummer, welcher seine Ursachen in der frühen Kindheit hatte, womöglich sogar mit mangelnder Fürsorge und Aufmerksamkeit durch die Mutter, Natrium muriaticum zu verordnen, häufig mit mäßigem Erfolg. In jahrelanger intensiver Auseinandersetzung mit der Empfindungsmethode Rajan Sankarans lernte ich, hinter die Fassade zu blicken und dem zentralen Problem, der Wurzel allen Übels, nachzuspüren. Dazu ist es erforderlich, den Patienten möglichst frei sprechen zu lassen, seine Empfindungen, Handgesten, seine Mimik, seine Träume, Ängste etc. vorurteilsfrei wahrzunehmen, gezielt zu verfolgen und letztlich mit einem bestimmten Arzneimittel in Beziehung zu setzen. Ohne akribisches Studium der Materia medica sowie des Periodensystems, der Flora und Fauna, aber auch der Sarkoden und Nosoden ist das allerdings nicht möglich. Insofern erfordert diese anspruchsvolle Methode sehr viel persönliches und fachliches Engagement und Fleiß, aber auch Geduld, Demut, Selbstkritik und letztendlich Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Gedanken. Um gravierende Fehler bei der Verordnung zu vermeiden ist es unumgänglich, zunächst das Reich festzulegen, aus dem das Heilmittel stammen muss:
Mineralreich
Pflanzenreich
Tierreich
Nosoden
Sarkoden
Imponderabilien
Erst wenn dieses zweifellos feststeht, kann der nächste Schritt erfolgen: die Suche nach dem Unterreich (Säugetiere, Vögel, Spinnen etc., Pflanzenfamilie, Muttermittel usw.) und letztlich nach dem Simillimum. Meiner Erfahrung und Überzeugung nach ist die Empfindungsmethode der zuverlässigste und unnachteiligste Weg, um nach deutlich einzusehenden Gründen zu heilen, wie Samuel Hahnemann dies zu Recht von uns Homöopathen gefordert hat.
Der Grund für diese spezielle Vorgehensweise besteht in der Erkenntnis, dass jeder Mensch eine Affinität zu einem bestimmten Reich hat. So ist es vorstellbar, dass drei verschiedene Patienten mit einer ganz ähnlichen Krankengeschichte in die Praxis kommen, wobei es jeweils um das Gefühl von Isolation, Einsamkeit, Missachtung und mangelnder Liebe geht. Alle drei leiden unter Schlafstörungen, depressiver Verstimmung und haben Verlangen nach Schokolade und salzigen Speisen. Dennoch empfindet und beschreibt der erste Patient seine Beschwerden „tierisch“, der zweite „pflanzlich“ und der dritte „mineralisch“. Wichtig ist, dass die Zuordnung nach einem Reich auf der tiefsten Ebene der Empfindung erfolgt, da gerade Erwachsene Anteile aus allen Reichen haben können, aber eben nur bis zu einer bestimmten Schicht. Sind wir mit der Anamnese an der Wurzel der Pathologie angekommen, kristallisiert sich ein bestimmtes Reich heraus. Wie dies genau funktioniert und welche Schritte jeweils aufeinanderfolgen, das erfahren Sie im Anschluss. Da es bei diesem Buch in erster Linie um die Gemütsebene geht, haben die Symptome aus dieser Rubrik Vorrang, körperliche und allgemeine Symptome werden zur Differenzierung der einzelnen Mittel ergänzt.
Die Beschreibung der unterschiedlichen Arzneimittel basiert auf dem Erleben und der Empfindung, die charakteristisch für diese Mittel sind, welche wiederum aus seriösen Arzneimittelprüfungen hervorgehen, sofern vorhanden. Um zu zeigen, dass die Prüfungssymptome und die jeweilige Empfindung eine Einheit bilden, habe ich sämtliche Ausführungen mit entsprechenden Rubriken unterlegt. Sie finden diese mit der Wertigkeit des gerade behandelten Mittels und den anderen in diesem Buch besprochenen Arzneimitteln in den Tabellen, sodass Sie sich einen Überblick verschaffen können, in welchen Rubriken und mit welchen Wertigkeiten die einzelnen Mittel vertreten sind.
Doch nun zu der entscheidenden Frage nach der Auswahl der 70 im Anschluss vorgestellten „Kummermittel“. Angefangen hat das Ganze mit einem Artikel zu den nahen Verwandten von Natrium muriaticum. Im Zuge der Recherche für diesen kleinen Beitrag habe ich festgestellt, dass das Thema „Kummer“ Stoff für ein 200 Seiten starkes Buch liefern könnte, und so habe ich mich an die Arbeit gemacht. Das Ergebnis liegt Ihnen nun mit diesem Werk vor.
Was ist Kummer? Aus Sicht der Psychologie versteht man unter Kummer Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit. Weitere wichtige Empfindungen in diesem Zusammenhang sind Trauer, Traurigkeit, Enttäuschung, enttäuschte Liebe, Gefühl der Einsamkeit und Isolation sowie die Empfindung, nicht wahrgenommen zu werden, wertlos zu sein.
In den beiden einschlägigen Rubriken „Gemüt – Kummer, Trauer“ und „Gemüt – Beschwerden durch Kummer“ sind einmal 149, das andere Mal 94 Arzneimittel enthalten. Nun hätte man all diese Mittel mit offensichtlichem Kummerhintergrund herausgreifen und vorstellen können. Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Das wichtigste Auswahlkriterium für mich waren Mittel mit deutlichem Bezug zu Kummer und seelischen Schmerzen, unabhängig davon, ob sie in besagten Rubriken enthalten sind. So habe ich einzelne Arzneimittel bewusst nicht ausgewählt, obwohl sie, wie Phosphor, hochwertig in der Kummerrubrik vorhanden sind. Andere wiederum schienen mir unverzichtbar, obwohl sie nicht in den beiden Rubriken enthalten sind, wohl aber in verwandten Rubriken oder auch gar nicht, wenn es keine Einträge dazu im Radar ▶ [28] gibt. So differenziere ich zwischen Kummer- und Angstmitteln. Zu letzteren gehören Mittel wie Phosphorus, Arsenicum album, Calcium usw. sowie deren Verbindungen. Angst und Panik sind große Themen, die gesondert besprochen werden sollten, wobei es hier natürlich Überschneidungen gibt.
Das vorliegende Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass ich nicht alle Arzneimittel, die einem Kummerpatienten bei entsprechender Symptomatik helfen könnten, aufgenommen und erörtert habe. Im Grunde genommen kann fast jede Arznei ein „Kummermittel“ sein, dennoch schien es mir wichtig und hilfreich, eine größere Anzahl an Arzneimitteln aus verschiedenen Reichen mit deutlichem Bezug zu Kummer und Trauer hinsichtlich ihrer kleinen und großen Unterschiede vorzustellen und voneinander abzugrenzen. Es müssen nicht immer die prominenten Mittel wie Natrium muriaticum, Ignatia, Staphisagria oder Pulsatilla sein, die bei einem großen Kummer hilfreich sind, manchmal sind es auch die kleinen, eher unscheinbaren, mit denen man sich womöglich noch nie beschäftigt hat.
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