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E-Book

Vögel, die verkünden Land

Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz

AutorSigrid Damm
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl453 Seiten
ISBN9783458742029
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR


<p>Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des P.E.N. und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Fontane-Preis.</p>

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Zweites Kapitel


7


Mit siebzehn Jahren verläßt Jakob Lenz seine Heimat. Nach Deutschland zum Studium der Theologie schickt der Vater ihn. Auf die Livland nächst gelegene Universität nach Königsberg.

Im Sommer 1768 fährt Lenz mit seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Johann Christian von Dorpat aus nach Norden. Sie erreichen die Küste. Im August verabschieden sie sich im Hafen von Reval. Die Brüder besteigen eine kleine Barke, die sie zu dem auf Reede liegenden Segelschiff bringt. Jakob erlebt die offene See zum erstenmal. Den ruhenden Punkt verlassen. Bewegung, fortwährende. Luft, Wind, die Wellen, der Meeresgrund. Das Geräusch der flatternden Segel, die Schiffssprache, Kommandorufe und das Wecken, das Stundenansagen. Der Wechsel von Tag und Nacht. Noch eine zweite Schiffsreise wird Lenz in seinem Leben machen, Jahre später, von Travemünde nach Riga. Einer seiner Brüder berichtet darüber: »Das große Schauspiel von Himmel und Wasser, von Auf- und Niedergang der Sonne fesselten meinen guten Bruder die mehreste Zeit auf dem Verdeck.« Wie muß dann der erste Eindruck gewesen sein; der weite unendliche Luftkreis und alles Erwartung. Finnischer Meerbusen, die Inseln Dagö und Ösel, Rigaer Bucht, Kurische und Frische Nehrung. Schließlich das Haff, dann der Fluß Pregel.

Ankunft in Königsberg. Verlassen des Schiffes. Königsberg gehört zu Preußen, zum Herrschaftsgebiet der Hohenzollern. Auf deutschem Boden befindet sich Lenz nun. Fünfzigtausend Einwohner hat Königsberg. Gleich Leipzig, Frankfurt oder Hamburg ist es eine große und lebhafte Stadt. Umfangreiche Industrien befinden sich hier. Tuchfabriken, Mühlen, Gerbergewerke, Wollmanufakturen, Fayence- und Steingutfabriken, Brauereien und Bleichfabriken, große Werftanlagen und deutsche, englische und französische Handelshäuser.

»Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt – eine solche Stadt wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis gewonnen werden«, meint Immanuel Kant, der hier lebt und wirkt.

Weniger die äußeren Abenteuer dieser Stadt – das Treiben in den Hafenanlagen, Speicherstraßen, Handelshäusern, auf dem Pferde- und Fischmarkt, auf dem in der Nachbarschaft der Universität im Königsgarten gelegenen großen Exerzierplatz – beeindrucken wohl Lenz. Es sind die geistigen Abenteuer, die ihn faszinieren, verändern. Menschen- und Weltkenntnis wird der Student Lenz tatsächlich in den zweieinhalb Jahren seines Aufenthaltes in Königsberg erwerben, und das nicht zuletzt durch Kant, seinen Universitätslehrer.

In die Herbst-Matrikel 1768 der Alma mater Albertina der Königsberger Universität schreiben sich Lenz und sein Bruder ein. Letzterer in die der Juristischen Fakultät, Jakob, wie vom Vater befohlen, in die der Theologischen Fakultät. »Alle studierenden Theologen«, heißt es in der Universitätsanordnung, »sind verpflichtet, halbjährlich der Fakultät ihren Namen, Wohnung, Alter, die Collegien, welche sie gehört haben und noch hören wollen u. s. f. anzuzeigen.«

»Ich werde dieses halbe Jahr, außer den Philosophischen und andern Collegiis, von theologicis das Theticum bey D. Lilienthal und ein Exergeticum über die Ep. Pauli an die Römer bei D. Reccard hören«, teilt Lenz im Oktober 1768 seinem Vater nach Dorpat mit. Daß er die theologischen Vorlesungen wirklich hört, ist kaum anzunehmen. Selbst dem strengen Vater gegenüber macht er sehr frühzeitig keinen Hehl daraus, daß ihn dieser ganze Lehrbetrieb nicht interessiert, die »Akademie wenig oder gar nichts werth« sei, wie er schreibt. Mit Ausnahme weniger Lehrer, fügt er hinzu, und bald wird es nur noch ein einziger sein, den er hört. Ein Kommilitone, der aus Königsberg gebürtige Johann Friedrich Reichardt, der spätere Komponist und königliche Kapellmeister in Berlin, bezeugt es. Lenz habe die theologischen Kollegia nicht besucht, wenn er in die Universität ging, dann nur, um die Vorlesungen Kants zu hören.

Kant ist zu der Zeit noch nicht jener berühmte Philosoph, dessen Schriften Hegel, Schelling und Hölderlin heimlich im Tübinger Stift lesen, die für sie – wie für Schiller und später für Kleist – eine Offenbarung werden. Die »Kritik der reinen Vernunft« wird erst zehn Jahre später geschrieben. Als Lenz nach Königsberg kommt, ist Kant vierundvierzig Jahre. Er ist Privatdozent, und seit fünfzehn Jahren läßt ihn die Universität auf eine Professur warten. Längst hat er die königliche Verordnung erfüllt, nach der kein Privatdozent zum Professor aufrücken darf, der nicht mindestens dreimal über eine gedruckte Abhandlung öffentlich disputiert hat. Kant muß als Unterbibliothekar an der Königsberger Schloßbücherei arbeiten. In zwei gemieteten Zimmern im Hause des Professors Krypke lebt er. Das eine dient ihm als Hörsaal. Fünf Vorlesungen, insgesamt sechzehn Wochenstunden, hält er im Wintersemester 1766/67. Seine Vorlesungen finden ungewöhnlich großen Zuspruch, vor allem am Anfang des Semesters kommen fast hundert Studenten. Der Raum kann sie nicht fassen, sie stehen in der Nebenstube, im Treppenhaus, auf der Vortreppe. Lenz unter ihnen. Als Immanuel Kant 1769 Professuren in Erlangen und Jena angeboten werden, fühlt sich seine Vaterstadt Königsberg endlich verpflichtet. Sie beruft ihn zum Professor. Am 21. August 1770 verteidigt er die Schrift »Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen«, in der er zum erstenmal öffentlich einige später in der »Kritik der reinen Vernunft« ausgearbeitete Grundprinzipien andeutungsweise entwickelt.

Die Studenten feiern die Ernennung Kants zum Professor für Logik und Mathematik. Jakob Michael Reinhold Lenz ist es, der ein Huldigungsgedicht »Im Namen aller studierenden Cur- und Liefländer« verfaßt. Bei dem Königlich-Preußischen Hofdrucker Daniel Christoph Kanter läßt er es auf weißem Atlas drucken. Fünfzehn Kommilitonen von Lenz unterschreiben. Ein Reichsfreiherr von Bruinink, ein Hugenberg, ein Pegau, ein Meyer, zweimal steht da »von Kleist aus Kurland«. Das Gedicht wird überreicht mit der Widmung »Als Sr. Hochedelgeborenen der Herr Professor Kant, den 21. August für die Professor-Würde diesputierte«.

Der Menschheit Lehrer, der, was er sie lehret,

Selbst übt und ehret:

Des richtig Auge nie ein Schimmer blend’te,

Der nie die Torheit kriechend Weisheit nennte,

Der oft die Maske die wir scheuen müssen.

Ihr abgerissen.

… Aber die Verächter

Des schlechten Kittels und berauchter Hütten

Samt ihren Sitten

Sahn staunend dort, sie, die den Glanz der Thronen

Verschmähet, dort die hohe Weisheit wohnen,

Die an Verstand und Herzen ungekränket,

Dort lebt und denket.

Schon vielen Augen hat er Licht gegeben,

Einfalt im Denken und Natur im Leben …

Ihr Söhne Frankreichs! Schmäht denn unser Norden,

Fragt ob Genies je hier erzeuget worden:

Wenn Kant noch lebet, werd’t ihr dies Fragen

Nicht wieder wagen.

Kant liest über Moral und Metaphysik, über Naturwissenschaft und Anthropologie. Alle Gebiete berührt er. Da sind die Anregungen, die ungeahnten Weiten des Himmels und der Erde, Gesetze der Natur und der Menschheit, in die der Lehrer führt. Und Bücher, die für Lenz zur Offenbarung werden. Jean Jacques Rousseau zum Beispiel.

Vor allem aber ist es das Mutmachen zum eigenen Denken. Herder, der wenige Jahre vor Lenz Kants Vorlesungen hört, sagt: »Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Émile und seine Héloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorurteil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüte fremd.«

»Aufklärung«, wird Kant ein Jahrzehnt später formulieren, »ist Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen …« Diese Haltung aber vermittelt er schon früh seinen Studenten, Lenz unter ihnen. Gierig wird es Lenz aufnehmen.

Was das für Lenz bedeutet haben mag! Väterliche Mahnung und Autorität sinken in ein Nichts. Lenz schüttelt die Kleinheit seiner Erziehung, die pietistische Dumpfheit ab, öffnet sich den neuen Ideen. Kant schärft – wie Jahre zuvor in Herder – in Lenz den kritischen und analytischen Geist. Die religiöse Weltsicht wird gesprengt, Lenz entdeckt sich und die Welt als weitgehend ratlos, in Zwänge gepreßt, voll Fatalität. Und zugleich wächst in ihm die Ahnung von...

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