II. Das Phänomen Regretting Motherhood
Dass Mutterschaft ein Garant für Glück und Sinnstiftung ist, ist ein Mythos. Nicht alle Mütter empfinden ihre Mutterrolle als Glücksspender. Vermutlich würden die meisten sogar zugeben, dass sie von Zeit zu Zeit den starken Wunsch haben, wenigstens für kurze Zeit ausbrechen zu können – aus dem Alltag, aus ihrer Verantwortung, aus stressigen und nervenaufreibenden Situationen mit ihren Kindern.
Doch bei den Müttern, die bei der Regretting Motherhood-Debatte gemeint sind, geht es nicht nur um den kurzfristigen Wunsch nach Erholung, Ruhe und einer Pause vom Alltagsgeschäft. Es geht auch nicht um die postnatale Depression, die manche Mütter nach der Geburt erfasst und die verhindert, dass sie sich mit der Mutterrolle identifizieren und eine Bindung zu ihrem Kind aufbauen.
Es geht um das durchgängige und langfristige Gefühl, dass die Entscheidung, Kinder zu bekommen, eine falsche war.
Diese Frauen berichten, dass sie sich mit all den Erkenntnissen und Erfahrungen, die sie jetzt haben, und mit all dem Wissen über ein Leben mit Kindern bzw. über ein Leben als Mutter nicht wieder für Kinder entscheiden würden. Wäre es ihnen möglich gewesen, bereits in der Vergangenheit – noch bevor sie schwanger waren – eine realistische Vorstellung von ihrem späteren Leben als Mutter zu haben, dann hätten sie keine Kinder bekommen wollen.
Sie leben ein Leben, das ihnen nicht gefällt, das sie sich so nie ausgesucht hätten und das sie unglücklich macht. Sie beschreiben, dass sie all ihre eigenen Bedürfnisse verdrängen, unterdrücken und ignorieren müssen – und zwar nicht nur für ein paar Stunden oder für ein paar Wochen, sondern für Jahre und Jahrzehnte. Die bereuenden Mütter haben nicht mehr das Gefühl, sie selbst zu sein, sie funktionieren nur noch, wie es von ihnen erwartet wird. Sie fühlen sich gefangen im Korsett der Mutterrolle, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Denn die Entscheidung für Kinder ist eine, die unmöglich rückgängig zu machen ist und die das Leben zudem auf Jahrzehnte hinaus bestimmt.
Die 23 israelischen Mütter, die Orna Donath befragt hat, bereuen ihre Mutterschaft. Einige von ihnen sind verheiratet oder leben in einer Partnerschaft. Manche sind alleinerziehend und wieder andere leben getrennt vom Partner, der alleinerziehend ist. Und während diese Frauen die Mutterschaft bereuen und beteuern, sie hätten keine Kinder bekommen, wenn sie früher gewusst hätten, was auf sie zukommt, geben doch alle an, ihre Kinder sehr zu lieben. In dieser Ambivalenz steckt eine gewisse Dramatik. Denn diese Frauen verabscheuen zwar ihr Leben, das sie unter anderem als Katastrophe bezeichnen, aber sie lieben ihre Kinder und leben dieses so unliebsame Leben deshalb weiter. Diese Ambivalenz verhindert ein Ausbrechen, das unter anderen Umständen die natürliche Reaktion wäre.
Donath zeigt auf, dass die Lebensumstände der von ihr befragten bereuenden Mütter völlig unterschiedliche sind. Die Frauen stammen aus unterschiedlichen Schichten und aus unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen. Einige haben junge Kinder und andere haben Teenager. Bei einigen Müttern leben die Kinder beim Vater und sie selbst sind weniger in die Kindererziehung involviert. Andere sind hauptsächlich für die Kinder zuständig.
Daher resümiert Donath, dass sich Regretting Motherhood unabhängig von Umständen und Lebensverhältnissen quer durch alle Schichten zieht und letztlich bei jeder Frau auftreten kann. Die typische bereuende Mutter gibt es somit nicht.
Die Reaktion auf bereuende Mütter: Abwehr
Doch woher kommt das Gefühl, man hätte besser keine Kinder bekommen? Um die Antwort auf diese Frage zu finden, muss man eigentlich erst einmal überlegen, weshalb man diese Frage stellt.
Es ist in unserer Gesellschaft keine Seltenheit, dass Menschen ihre Handlungen oder Entscheidungen bereuen. Es ist in den verschiedensten Lebensbereichen, ob privat oder beruflich, absolut verbreitet, dass Menschen einen Weg einschlagen und hinterher bereuen, nicht einen anderen genommen, eine andere Entscheidung getroffen zu haben; gegebenenfalls werden Entscheidungen dann eben auch angepasst oder rückgängig gemacht. Insbesondere passiert dies, wenn man später zu weiteren Informationen gelangt, die den ursprünglichen Erwartungen widersprechen. Doch dass eine Frau Kinder bekommt und diese Entscheidung später bereut, können wir nicht nachvollziehen.
Warum eigentlich? Kinder zu bekommen gehört zu den größten Entscheidungen, die wir überhaupt treffen können – schließlich wird das ganze Leben von diesem Moment an von ihnen mitbestimmt. Eine stärker lebensverändernde Entscheidung ist kaum denkbar. Die Reaktion auf bereuende Mütter ist jedoch nicht selten ein gehässiges »Das hättest du dir halt vorher überlegen müssen!«. Eine absurde Anmaßung, die bei anderen (ungleich weniger weitreichenden) Fehlentscheidungen deutlich seltener geäußert wird; in anderen Zusammenhängen wird durchaus akzeptiert, dass man vieles erst ausprobieren muss, um herauszufinden, ob man sich dafür eignet. Welche Mutter, welcher Vater könnte ernsthaft behaupten, dass die Elternschaft wirklich in ihrer ganzen Tragweite und all ihren Aspekten erfasst werden kann, bevor man tatsächlich Eltern geworden ist? »Das kann man sich vorher gar nicht vorstellen« – diesen Satz hört man häufig von jungen Müttern, und kaum jemand zweifelt daran. Gleichzeitig wird aber Müttern, die sich über die Anforderungen ihrer Rolle beklagen und ihre Entscheidung bereuen, vorgehalten, sie hätten diese richtig einschätzen müssen, bevor sie schwanger wurden. Wie genau und auf welcher Grundlage sie dies hätten tun sollen, darüber schweigen die Kritiker.
Mutterschaft und Reue können wir in unseren Köpfen kaum in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Es scheint so, als würde sich beides vollständig ausschließen. Daher sagt die Frage, weshalb eine Frau ihre Mutterschaft bereut, mehr über unser Frauen- und Mutterbild aus als über diese Frauen selbst. Allein die Tatsache, dass uns die Gründe erforschenswert erscheinen, zeigt, dass unser Mutterbild durch dieses Phänomen auf den Kopf gestellt wird. Eine Mutter bereut nicht, eine Mutter freut sich – so unsere Annahme.
Bei den Recherchen zu dem Thema in den sozialen Netzwerken erlebte ich immer wieder, dass meine Aufrufe auf der Suche nach bereuenden Müttern mit gehässigen Kommentaren beantwortet wurden. Das Thema sei »gruselig«. Ich wurde dafür angegriffen, dass ich mich diesem »furchtbaren Thema« widmete. Ich würde wohl wollen, dass überhaupt niemand mehr Kinder bekommt (dass ich niemanden dazu animierte, die Mutterschaft abzulehnen, sondern lediglich Mütter suchte, bei denen dies bereits der Fall war, zählte offenbar nicht). Es wäre krankhaft und abstoßend, überhaupt nach solchen Müttern zu suchen. Und stets wurden Warnungen ausgestoßen: »Eine Mutter, die sich darauf meldet, ist keine richtige Mutter.« Man behauptete: »Solche Mütter gibt es nicht, denn wer das bereut, ist keine echte Mutter.« Und immer wieder schrieben Mütter, dass sie es schrecklich fänden, wenn Mütter ihre Kinder nicht lieben.
Ich ging schließlich dazu über, meinen Aufrufen den Nebensatz hinzuzufügen, dass diese Frauen sehr wohl ihre Kinder lieben. Denn selbst viele Betroffene konnten sich kaum den bereuenden Müttern zuordnen. Sie schrieben, dass sie ihre Entscheidung für Kinder zwar bereuen würden, diese aber über alles liebten und deshalb nicht von dem Thema betroffen seien. Das Thema Regretting Motherhood wird also schnell in Verbindung gebracht mit Frauen, die ihre Kinder nicht lieben.
Viele Mütter kommentierten meine Aufrufe oder schrieben mich sogar mit privaten Nachrichten an und behaupteten, dass in der Müttergruppe, in der ich nach bereuenden Müttern suchte, keine einzige dabei wäre und ich dort sicher nicht fündig werden würde. Die Gruppen bei Facebook, in denen ich Aufrufe gestartet hatte, hatten jedoch Hunderte, einige auch Tausende Mitglieder. Diese Reaktion wirkte deshalb sehr skurril. Diese Frauen konnten kaum alle Mütter der Gruppe kennen, zumal das Thema derart tabuisiert ist, dass meist nicht einmal engste Freunde darüber informiert sind. Es schien fast so, als dürfe nicht sein, was diese Menschen nicht ertragen konnten. Möglicherweise sahen sie sich selbst und ihren Lebensentwurf durch die Thematik fundamental infrage gestellt (vielleicht fürchtete so manche Frau auch, bei sich selbst auf Reuegefühle zu stoßen). Die Tabuisierung geht so weit, dass das Phänomen ganz bewusst ignoriert wird. Mit viel Aufwand werden die Augen davor verschlossen, und manche versuchen sogar, anderen die Augen davor zu verschließen.
Durch diese enorme Tabuisierung entsteht natürlich ein Druck auf Mütter, der nicht nur diejenigen trifft, die ihre Mutterschaft bereuen. Wer seine Mutterschaft bereut und mitbekommt, dass die Gesellschaft sehr allergisch auf dieses Thema reagiert, dass sie die Augen davor verschließt und sich nicht damit befassen will, der fühlt sich allein und nicht ernst genommen. Doch die Reaktionen gehen ja noch viel weiter. Noch bevor sich überhaupt Mütter trauen, sich zu »outen«, wird von der Gruppe deutlich gemacht, dass solche »Outings« nicht erwünscht sind. Es wird ganz demonstrativ aufgezeigt, dass bereuende Mütter verachtet werden und etwas Unmenschliches an sich haben. Bisweilen kann man aus den Kommentaren sogar Ekel und Hass heraushören. In einem solchen Klima werden sich Mütter natürlich hüten, offen über ihre Empfindungen zu sprechen. Keine bereuende Mutter möchte sich freiwillig zur Zielscheibe von intoleranten und aggressiven Menschen...